Björks Faszination kann nicht von allen geteilt werden. Denn auch an jenem Drehtag, als sie diese Aussage machte, starben wohl wieder Menschen in der Meerenge von Gibraltar. Statistisch gesehen, sind es täglich drei bis vier, die dort ertrinken. Ganze vierzehn Kilometer liegen zwischen Gibraltar und der marokkanischen Küste, so wenig, wie das deutsche Friedrichshafen von Romanshorn oder das französische Evian von Lausanne trennen. Über tausend Menschen verlieren nach Schätzungen der im andalusischen Algeciras arbeitenden Asylorganisation und ihres senegalesischen Managers Salif Sow jedes Jahr ihr Leben beim Versuch, die "Faszination Afrika" im Interesse ihrer Familien hinter sich zu lassen und in Europa etwas Geld und Schutz zu finden.
Ebensowenig Faszination bedeutet Afrika für einige Tausend Einsatzleute der guardia civil, der policía nacional und der Spezialeinheiten der spanischen Armee- und Zivilbehörden. Sie arbeiten auf Geheiss der nationalen Einsatzstäbe und mit Geldern aus Madrid und Brüssel in, auf und über dem Estrecho, um die Zehntausenden von Fluchten zu verhindern und die Tausende von toten AfrikanerInnen fachgerecht zu bergen. Der "Plan Sur" ist bloss der vorläufig letzte einer Reihe von Massnahmen zur ständigen Aufrüstung von Überwachungsgerät, Einsatztechnik und Personal. Dadurch soll die Südflanke der Europäischen Union gegen die unerwünschte Einreise der afrikanischen NachbarInnen abgedichtet werden.
Es ist ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, wie alle wissen. Eine Meeresgrenze lässt sich nicht abdichten, und der Estrecho schon gar nicht, denn dort unterschichtet der kältere Atlantik das wärmere Mittelmeer, was das Wasser tückisch und die Überwachung heikel macht. Auf immer weiteren Umwegen müssen die Menschen ihren Weg nach Europa suchen, und immer grössere Gefahren laufen sie dabei. "Indem die Behörden den Druck ständig erhöhen, treiben sie unsere Leute immer mehr in Not, Elend und den Tod", klagen MigrantInnen in Andalusien, die den Weg geschafft haben. Salif Sow ist einer von ihnen.
Doch Aufrüstung bleibt ein männliches Grundprinzip der Politik. Gerade auch an Spaniens Südküste. Seit den 1980er Jahren wird aufgerüstet. Erst geschah es auf einfachen Wegen, als die Anforderungen an Besuche aus Afrika erhöht wurden und die Menschen aus dem Maghreb immer höhere, unrealistische Geldbeträge in der Tasche vorweisen mussten. Mit List umgingen diese die Schikanen, indem sie die erforderliche Geldsumme den Wartenden vor der spanischen Botschaft borgten und so die europäischen DiplomatInnen austricksten. Als sie etwas später, 1991, die Härte des neu verhängten Visumzwangs traf, war es mit der List aber aus. Erschwerter Zugang zu den spanischen Universitäten, weniger Handel und verhinderte Besuche bei den eigenen Verwandten in Spanien waren die Folgen. Brüssel und Bonn hatten gesiegt, der Feind war bekämpft, Andalusien um die ausbleibenden Marokkanerinnen und Marokkaner ärmer.
Doch dies lieferte erst den Vorwand für weitere Aufrüstung. Mit der neuen Härte gegen die NachbarInnen hatte sich Spanien noch unter den SozialistInnen von der zweiten in die erste Reihe der EU-Staaten hochgedient; jetzt sollte militärisch nachgezogen werden. Ein militärisches Defensivkonzept müsse "fähig sein, die europäischen Gebiete vor jeglicher Aggression zu schützen, die an den nordafrikanischen Ufern herangewachsen ist", verlangte der in den Regierungswahlen damals knapp unterlegene Christdemokrat José Maria Aznar. Welche "Aggression" zur Hauptsache gemeint war, machte er deutlich: "illegale Einwanderung, Waffenschmuggel, Drogenhandel". Aznar erhob im Herbst 1992 die Forderung nach einer Vereinigung der See-Streitkräfte der europäischen Mittelmeerländer. Von dieser Forderung militärische Lösung für ein politisch-ökonomisches Problem löste er sich bis heute nicht. Allein: heute ist er der gewählte Nachfolger des inzwischen abgewählten Felipe Gonzalez.
Dass Spanien sein militärisches See-Potenzial auch im "rückwärtigen Raum" stabilisieren und ausbauen will, zeigt sein Engagement für gemeinsame EU-Truppen. Eben erst hat die Europäische Union Mitte November den Nato-Krieg im Kosovo als Legitimation dafür genommen, ein eigenes "EU-Eingreifkorps von 50 000 Mann" zu planen. Dessen Vorläufer "EuroCorps" war Spanien schon damals freundlich gesinnt. Noch ehe am 5. November 1993 die deutsch-französische Brigade feierlich in Dienst genommen wurde, wurden eigene "französisch-spanische Gipfelvereinbarungen" getroffen und eine stärkere gegenseitige Zusammenarbeit vereinbart.
Bescheidene Friedensansätze im Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) indessen wurden von Spaniens linken und rechten Regierungen schon damals nicht unterstützt. Stattdessen hat Madrid auf die Westeuropäische Union gesetzt, deren militärische Optionen jene anderen, friedensstiftenden der OSZE verdrängt haben.
Ein Jahrzehnt Aufrüstung hinterlässt Spuren in alle Richtungen. Die Arbeitslosenraten sind gesunken, das spanische Empfinden deutet auf Wohlstandsgewinn. Der Preis dafür sind rechtsextreme Tendenzen in Barcelonas Umgebung und Unterbringungslager in Ceuta und Melilla, den beiden Exklaven, die sich Spanien auf afrikanischem Grund bewahrt hat und die von Libyens Staatschef Ghaddafi vergeblich für Afrika beansprucht werden. Dort ist, zur Trennung gegenüber Marokko, je ein dreieinhalb Meter hoher Doppelzaun gebaut worden. Er zieht sich kurvig und wuchtig die Hügel hoch und verhindert doch nicht, dass von Verzweiflung und Sehnsucht getriebene Menschen aus dem Maghreb und von jenseits der Sahara ihn in ihren waghalsigen Kletterpartien überwinden.
Von den letzten Hügeln hinter der spanischen Exklave sieht man am Grenzaun vorbei bis fast zum Hafen von Ceuta. Dort schlagen an diesem 19. August 1998, einem gewöhnlichen Mittwoch, die Flammen am hellichten Tag hoch in den Himmel. Insgesamt 26 pateras, Fischerboote von wenigen Metern Länge, verbrennen. Die Szene wirkt gespenstisch, Feuerwehrleute sind vor Ort, aber sie löschen nicht, sie überwachen nur. Denn die pateras sind zuvor zu einer Art Scheiterhaufen getürmt worden, die Verbrennung ist inszeniert. Eine Regierungsdelegation von Ceuta ist zur Tat gegen beschlagnahmte Flüchtlingsboote geschritten. 116 pateras haben die spanischen Sicherheitsdienste an Spaniens Afrikaküste von 1996 bis 1998 eingesammelt. Jeden Mittwoch und jeden Freitag sollen von nun an, so verkünden sie, pateras öffentlich verbrannt werden, "damit sie nicht erneut für illegale Überfahrten nach Spanien" genutzt werden können.
Solche Symbolhandlungen gegen Afrika gefallen auch den Besuchsteams aus den Hauptstädten der EU-Staaten, die alle paar Jahre auf dem spanischen Festland zu Besuch weilen, um die strengen Schengen-Vorschriften zu kontrollieren. Schengen, das ist das von ex-Bundeskanzler Helmut Kohl mitgegründete Elitegremium, das eigentlich mehr Öffnung und die Abschaffung der Grenzkontrollen nach Europa bringen sollte und stattdessen die Personenkontrolle vervielfacht und alltäglich gemacht hat.
Die Schengen-Besuchsteams waren 1993 und 1996 an Spaniens Südgrenze. Beim ersten Mal kritisierten sie die angeblich zu wenig harten Kontrollen von Einreisenden aus Marokko; die guardia civil neige dazu, viel eher "den Verkehr von Waren und verbotenen Stoffen zu bekämpfen als für die Eindämmung der illegalen Einwanderung zu arbeiten". Der Druck Europas blieb unübersehbar, Spanien zog ständig nach. Da konnten Veränderungen im Verhalten und Bewusstsein der örtlichen Bevölkerung nicht ausbleiben.
Die SpanierInnen verspüren eine Wut wie keine andere betroffene Gruppe sonstwo in Europa. "Noch vor fünf, sechs Jahren hat die Bevölkerung die guardia civil über angetroffene Immigranten informiert", hat uns Ildefonso Sena, einer der Chefredakteure der grossen Zeitung "Europa Sur", schon 1997 erklärt. "Doch binnen fünf Jahren hat sich die Haltung der Menschen hier radikal verändert, so radikal, dass jemand wie ich heute aus eigener Wahrnehmung weiss, dass die Bevölkerung Immigranten versteckt."
*Vom Journalisten Beat Leuthardt ist im Rotpunktverlag ein neues Buch mit dem Titel "An den Rändern Europas. Berichte von den Grenzen (Festung Europa II)" erschienen.Inhaltsübersicht | nächster Artikel |