Im Kosov@-Konflikt agierten die verschiedenen internationalen Organisationen gemäss einem Szenario, das in keinem der zahllosen Modelle zur europäischen Sicherheit vorhergesehen worden war: Ausgerechnet die NATO, ein klassisches Militärbündnis zur Verteidigung seiner Mitgliedländer gegen Angriffe aus Drittstaaten, intervenierte zum Schutz der KosovarInnen. Die UNO als zuständige Organisation kollektiver Sicherheit war lahmgelegt durch die Obstruktionspolitik Russlands und Chinas. Die OSZE versuchte bis im letzen Moment, durch Beobachtungs- und Vermittlungsbemühungen einen Konflikt zu verhindern. Ihre Arbeit wurde durch die mangelnde Kooperation sowohl der SerbInnen als auch der UCK jedoch stark behindert. Als ein militärisches Eingreifen der NATO sich abzeichnete, wurde ihre Mission im letzten Moment abgezogen. Die EU, vertreten insbesondere durch den deutschen Aussenminister Joschka Fischer und den finnischen Präsidenten Martti Ahtisaari, spielte in der Vermittlung des Waffenstillstandes und für die Einbindung Russlands und Chinas die entscheidende Rolle. In diesem Moment fand auch wieder die UNO Tritt und verschaffte den Bedingungen des Waffenstillstandes in Form einer Sicherheitsratsresolution Legitimität und Nachdruck.
Damit sind altgediente Kategorisierungen ins Wanken geraten: Handelte es sich nun um ein widerrechtliches Eingreifen eines Militärbündnisses in die inneren Angelegenheiten eines Drittstaates oder um eine quasi-legitime Aktion kollektiver Sicherheit? PuristInnen der kollektiven Sicherheit neigen zur ersten Sicht: Das Vorgehen der NATO wird als illegal eingestuft, weil keine Ermächtigung durch die UNO vorlag. Sie sehen im eigenmächtigen Eingreifen einen höchst ungünstigen Präzedenzfall, der dem Prinzip der kollektiven Sicherheit und der UNO einen Bärendienst erwiesen habe. Auch wird behauptet, etwas mehr Geduld und "good will" von Seiten der NATO-Staaten hätte gereicht, um Russland und Peking zum Einlenken zu bewegen. Das sei aber gar nicht Ziel der westlichen Staaten und der USA gewesen, die von vornherein im Alleingang handeln wollten, ohne Kompromisse einzugehen. Die andere Seite sieht im Gegenteil im Eingreifen der NATO eine Stärkung der kollektiven Sicherheit. Hätte die Staatengemeinschaft nach Ruanda und Bosnien einem weiteren kollektiven Morden tatenlos bzw. ohne militärisches Eingreifen zugesehen, hätte sie bzw. die UNO stark an Glaubwürdigkeit eingebüsst. Die Intervention demonstrierte die Entschlossenheit der westlichen Staaten, Resolutionen des Sicherheitsrates zur Umsetzung zu verhelfen. Russland und China hätten sich niemals mit wenigen Konzessionen und diplomatischen Winkelzügen begnügt. Zudem zeigt deren eigene Minderheitenpolitik, dass sie prinzipiell gegen eine internationale Intervention in Kosov@ sein mussten.
Eines an der Kosov@-Internvention ist unbestritten: Sie führte vor Augen, dass eine Koalition europäischer Staaten zusammen mit den USA dazu bereit ist, auf dem Balkan kollektiv militärisch zu intervenieren, auch wenn deren eigene nationale Souveränität und Sicherheit nicht auf dem Spiel standen. Dieses kollektive Engagement ist nicht zu unterschätzen, auch wenn die Modalitäten der Intervention alles andere als unumstritten bleiben. Die Intervention geschah zu spät, entbehrte einer klaren völkerrechtlichen Grundlage und war auf Kosten des Kriteriums der Verhältnismässigkeit zu sehr auf die Minimierung der eigenen Verluste der Koalitionspartner ausgerichtet. Auch über Zielauswahl und Effizienz wird noch viel geschrieben werden. Es war aber eine Aktion, die den Rahmen einer willkürlichen kollektiven Intervention zur eigenen Machtprojektion der beteiligten Staaten klar sprengte. Offizielles Ziel war die Verhinderung einer humanitärien Katastrophe. Dass dieses nur zum Teil erreicht wurde, liegt unter anderem an den zuvor erwähnten Gründen. Erstmals wurde aber von aussen kollektiv in einen souveränenen Staat zum Schutz elementarer Menschenrechte eingegriffen. Dies darf nicht vergessen werden. Auch in Erinnerung zu behalten ist die Zwischenkriegszeit, als der Völkerbund unter anderem daran zugrunde ging, dass die Staaten weder einzeln noch als Koalition, bereit waren, in Konflikte zwischen Drittparteien einzugreifen, die ihre eigenen Interessen nicht unmittelbar tangierten. Wäre es für die westlichen Staaten nicht viel einfacher gewesen, unter Verweis auf die Blockierung des Sicherheitsrates dem Morden und Vertreiben in Kosov@ tatenlos zuzusehen?
Allerdings ist es mit dieser unvollkommenen Aktion kollektiver Sicherheit, wie man sie bezeichnen könnte, nicht vorbei: Die Glaubwürdigkeit der Zielsetzungen der Intervention wird konkret nicht zuletzt an den Wiederaufbauleistungen gemessen werden und an der Bereitschaft der Staatengemeinschaft, sich auch nachhaltig einzusetzen, um einem Wiederaufflammen der Feindseligkeiten präventiv entgegenzuwirken. Allgemein geht es um die Bereitschaft der westlichen Staatenwelt, künftige Aktionen wenn immer möglich im Rahmen des geltenden Völkerrechts durchzuführen, und die Modalitäten den in der Literatur zur Interventionsproblematik und legitimität entwickelten Kriterien anzupassen.
Die NATO hat anlässlich ihres 50jährigen Geburtstages ein neues strategisches Konzept verabschiedet, das die UNO als im Prinzip einzig zuständige Organisation zur Friedenssicherung anerkennt. Damit wird die Wiederholung einer Intervention wie in Kosov@ zwar nicht ausgeschlossen, aber zur Ausnahme von der Regel erklärt. Zugleich wurden die Aufgaben der NATO im Krisenmanagement den eigentlichen Bündnisaufgaben gleichgestellt, obwohl die Beistandsklausel unter den Mitgliedern Kern des Vertrages und damit der Mitgliedschaft bleibt.
Die Staatsschefs der Europäischen Union haben sich an ihrem Kölner Gipfel die Integration der Westeuropäischen Union in die EU bis zum Jahr 2000 vorgenommen. Damit wird nicht die EU militarisiert, sondern die WEU politisiert: Was vorher bereits im Maastrichter und im Amsterdamer Vertrag der EU im Kapitel zur "Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik" (GASP) möglich war, nämlich die Ausführung verteidigungspolitischer und militärischer Beschlüsse der EU durch die WEU, wird vertraglich und institutionell in einen Guss gefasst. Nicht in den Unionsvertrag übernommen wird Art. 5 des Brüsseler Vertrages, der die militärische Bündnispflicht enthält. Die institutionellen und technischen Leistungen der WEU sollen von der EU somit für Leistungen im Bereich des militärischen Krisenmanagements, der sogenannten "Petersberger Aufgaben" genutzt werden. Was im Kosov@-Konflikt hinter den Kulissen vor allem im politischen Bereich geschah, nämlich die Absprache der EU-Staaten untereinander, soll künftig im militärischen Bereich auch möglich sein. Wann und ob es auf absehbare Zeit zu einer Intervention dieser Staaten ohne die USA kommen wird, bleibt vorderhand dahingestellt. Das Konzept der CJTF, der Combined Joint Task Forces, der NATO, würde es der EU grundsätzlich ermöglichen, dafür auf die logistischen Mittel der NATO zurückzugreifen.
Die Entwicklungen sowohl im Rahmen der NATO als auch der EU zielen auf eine Verbesserung der militärischen Krisenmanagementskapazitäten ab, wobei die Schirmherrschaft der UNO, sei es auf Ebene der Organisation oder bindender rechtlicher Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, klar anerkannt wird. Gerade von der EU wäre aber zu erwarten, dass sie mehr entwickelt als ein kollektives Produkt nationaler Sicherheitspolitiken. Von der Friedensdividende, von der nach der politischen Wende in Europa soviel die Rede war, ist zurzeit auf europäischer Ebene nicht viel zu hören. Im Gegenteil: Von erhöhten finanziellen Aufwendungen ist die Rede, um die Emanzipation der europäischen Staaten von den USA zu bewerkstelligen. Auch in den Bereichen der Konflikprävention und des zivilen Konfliktmanagements tut sich herzlich wenig. Das mit viel Vorschusslorbeeren vor wenigen Jahren eingeführte Conflict prevention network (CPN) befindet sich in einem desolaten Zustand. Die am Netz beteiligten privaten Think Tanks liefern lustlos Papiere zuhanden der Europäischen Kommission, weil sie dafür immerhin Geld erhalten, kriegen von dieser aber kaum je ein Echo auf ihre Produkte. Ohnehin ist die Europäische Kommission nicht der richtige Adressat für solche Produkte, weil sie im Bereich der GASP nach wie vor nur wenige Handlungsmöglichkeiten besitzt. Die Analyse- und Planungseinheit wurde bekanntlich beim Ministerrat der EU eingerichtet.
Durch ihre Nichtmitgliedschaft in UNO und EU befindet sich die Schweiz in einer schwierigen Lage: in bezug auf erstere entbehrt das beständige Rufen eines Landes nach der Legitimation internationaler Interventionen durch eine Organisation, der es selbst nicht angehört, nicht einer gewissen Ironie. Die EU ist ihrerseits der mit Abstand wichtigste zivile Akteur. Die OSZE liefert die notwendigen Rahmenbedingungen und eignet sich als Schirmorganisation. Sie verfügt jedoch weder über finanzielle noch über militärische Kapazitäten des Krisenmanagements. Das aktuelle Trauerspiel um die krampfhaften aber erfolglosen Bemühungen der Schweiz, als vollwertiges Mitglied am runden Tisch für "Demokratie und Menschenrechte" des EU-Stabilitätspaktes zum Balkan teilnehmen zu dürfen, ist beispielhaft. Sollte die EU einst militärische Kapazitäten entwickeln, dürften sich ähnliche Szenen in diesem Rahmen wiederholen. Zurzeit besitzt die Schweiz ihr "bestes Eingangstor" zu den internationalen Bemühungen über ihre Teilnahme an der NATO-Partnerschaft für den Frieden (PfP). Partnerschaftsländer haben aber keinen Einfluss auf die Entscheidungen der NATO. Von Fall zu Fall lassen sich die Mitgliedstaaten dazu herab, die PfP-Länder anzufragen, ob sie sich einer bestimmten Aktion anschliessen möchten. Die Schweiz besitzt somit in keiner der beiden wesentlichen Organisationen EU und NATO über eine Mitentscheidungsmöglichkeit. Als PfP-Mitglied agiert sie zudem im konstanten Schatten des mächtigsten Militärbündnisses: Das sind gewiss nicht die besten Ausgangsbedingungen zur Entwicklung eines eigenständigen schweizerischen Beitrages zum europäischen Krisenmanagement. Die rasche Abfolge des Eingreifens der verschiedenen internationalen Organisationen im Kosov@-Konflikt hat gezeigt, dass nur eine umfassende multilaterale Präsenz heutzutage einem Land gestattet, über den gesamten Konfliktzyklus hinweg aktiv zu friedensfördernden Lösungen beizutragen.
* Laurent Goetschel ist Mitarbeiter der Schweizerischen Friedensstiftung und Leiter des Nationalfondsprojekts "Aussenpolitik"Inhaltsübersicht | nächster Artikel |