Kolumne

Die malende Fischerin

Von Jürgmeier

Niemand schien sie zu bemerken, als sie eines Morgens plötzlich da waren.

Eigentlich war Stefanie Winter keine Anglerin. Sie mochte keinen Fisch, hängte ihre Köder nur lose an Silkfäden, fütterte die Fische bloss und fing sie nicht, sehr zum Ärger ihrer Kollegen, die unter der Gelehrigkeit der Fische litten – wenn "die fanatische Tierschützerin" ihre Korken auswarf, bissen sich die Schuppigen nur noch selten an ihren Haken fest. Trotzdem duldeten die Fischer die Geschäftsschädigende in ihren Gefilden – weil sie sich mit verschämtem Blick auf ihre blutt und trotzig in die Morgensonne gehängten Beine entschädigten, Angst hatten, sie könnten wie der Koller Franz, in Bluejeans und Hüftstiefeln steckend, bäuchlings im Wasser landen. Der hatte die Frau, die keinen Fisch anrührte, augenzwinkernd angemacht: "Du hast wohl lieber etwas Rechtes in der Hand."

Stefanie Winter begann an ihrem Verstand zu zweifeln. War sie verrückt oder sehend geworden? Vor ihren Augen trieben leblose Menschenkörper. Aber keine und keiner schien sie zur Kenntnis zu nehmen, niemand verlor ein Wort über die Toten; in Zeitungen, Radio, Fernsehen und Internet – nichts. Auch Stefanie Winter schwieg – aus Angst, für schwachsinnig erklärt zu werden. Aber es wurden täglich mehr, bis der ganze See, von der Roten Fabrik bis zum Damm, zugeleicht war.

Stefanie Winter – sie musste einen Schock erlitten haben – drängte sich in ihrem Ruderboot, mit Farbpalette, Tuben und Pinseln ausgerüstet, zwischen steife Arme, Knie und Bäuche, begann die nicht identifizierbaren Köpfe zu bemalen, malte ihnen Fantasiegesichter, Gesichter aus dem Gedächtnis, Gesichter aus Bildchroniken, Dokumentarfilmen und TV-Berichten, Gesichter längst vermeldeter Opfer gestriger Kriege, ferner Massenmorde und abgefeierter Hungersnöte. Aber Autofähren, Tanzschiffe und Pedalos pflügten sich unbeirrt durch totes Menschenfleisch.

Erst als Stefanie Winter – später berief sie sich darauf, Fantasie und Erinnerungsvermögen hätten sie im Stich gelassen – begann, den leblosen Körpern nicht länger fremde Gesichter aufzusetzen – und für SchweizerInnen sahen nun mal alle VietnamesInnen gleich aus; wer ein ausgemergeltes Kind gesehen hatte, glaubte die Millionen Hungernder zu kennen –; erst als die Fischerin den Verblichenen die Köpfe schweiz- oder auch nur stadtbekannter Lebender verpasste, selbst vor dem vertrauten Antlitz des Oberturners und dem geilen Face der örtlichen Discoqueen nicht zurückschreckte; als die Leute – die ein Recht auf durchschnittliche schweizerische Lebenserwartung zu haben glaubten – sich in den Gesichtern von Wasserleichen wieder erkannten, machte sich Entrüstung über diese Störung der öffentlichen Zerstreuung und Ordnung lang.

Stefanie Winter verriet sich, übermütig geworden, als sie nicht nur die Falten, Pickel und Narben ihrer Verwandten und FreundInnen, sondern auch die unverwechselbaren Nasenflügel Kollers auf kalte Haut pinselte. Der nutzte die Chance, stürmte mit trockener Hose zum nächsten Polizeiposten und klagte auf Persönlichkeitsverletzung.

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