Der Sommer der Unzufriedenheit

Während sich das krisengeschüttelte Regime und die aufgewühlte Opposition gegenseitig den Puls fühlen, um die Stärke und Absichten des jeweils anderen zu erspüren, macht sich in Serbien spontaner ziviler Unmut breit – unkontrolliert von den politischen ProtagonistInnen.

Von Philip Schwarm*

Eine Flut von Demonstrationen fegt über Serbien hinweg. Reservisten der jugoslawischen Armee blockieren die Strassen. Nach einem Appell des Fernsehtechnikers Ivan Novkovic versammeln sich zehntausend Leute auf dem zentralen Platz in Leskovac. Die Oppositionskoalition "Liga für den Wandel" organisiert eine Massenversammlung nach der anderen... Entlassene Soldaten verlangen die Auszahlung ihres Solds, die BürgerInnen verlangen den Kopf des Distriktchefs Stefanovic, die Opposition verlangt den Rücktritt Milosevics, eine Übergangsregierung und vorzeitige Wahlen. Bis jetzt waren die Resultate die Folgenden: Nach einigen Tagen des Protests wurden die Reservisten ausbezahlt, Novkovic zu einem Monat Gefängnis verurteilt (gleichzeitig wird er aber vom Volk für seine Zivilcourage bewundert) und die staatlichen Medien zerreissen die Führer der Liga für den Wandel in Stücke.

Die "Kampagne zur Wiederherstellung und Wiederaufbau" geht derweil weiter. Die Armee baut Zugänge zu Ponton-Brücken, der "Bambi-Park" in Pozarevac wird eröffnet und Marko Milosevic erlangt Aufmerksamkeit mit seiner neuen Diskothek... Es sieht nicht aus, als ob das Regime vor Nervosität oder Panik zittern würde.

Handlungsunfähig, aber weiterhin mächtig

Die gegenwärtige Krise ist nicht die erste dieses Regimes. Seit 1991 mangelte es nicht an regimekritischen Demonstrationen, Wahlen, Petitionen, Oppositionsversammlungen etc. Milosevic ist immer als Sieger daraus hervorgegangen. Die siegreiche Konstellation bestand einerseits jeweils aus Milosevics kalkulierter Repression, absoluter Kontrolle seiner Gefolgsleute in Politik und Wirtschaft sowie der Manipulation der Medien, und andererseits aus poli tischer Unbeholfenheit, Eitelkeit und fehlenden Visionen bei den OppositionsführerInnen. Dazu kam das immerwährende Motiv "Nationalismus" und die stille Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft, weil er "der einzige Mann" in Serbien sei, mit dem man verhandeln könne. Auch wenn dieser letzte Punkt eliminiert wurde – Milosevic hat immer noch alle Trümpfe in der Hand. Die Polizei und die Armee sind ihm loyal ergeben, es gibt keine Anzeichen einer ernsthaften Spaltung in den herrschenden Kreisen, das Bild der Medien war nie schlechter und die Opposition macht nicht den Eindruck, etwas von den bisherigen Niederlagen gelernt zu haben. Und da gibt es ja noch die Frage um die Zukunft Montenegros – sie kann eröffnet werden wie vorher die Frage nach den SerbInnen in Kroatien, Bosnien oder Kosov@. Auch die Klage beim Haager Tribunal scheint die persönliche Macht des Präsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien nicht zu beeinträchtigen.

Dennoch ist das Nachkriegs-Serbien von grosser Unsicherheit erfasst. Die Anklagen in Den Haag gegen Milosevic, Milan Milutinovic (Präsident von Serbien), General Ojdanic (Chef des Generalstabs), Vlajko Stojiljkovic (serbischer Innenminister) und Nikola Sainovic (Vize-Premierminister der Bundesregierung, verantwortlich für Kosovo) und die Passbeschränkungen für beinahe das gesamte herrschende Establishment bewirkten eine ‘operationelle Handlungsunfähigkeit’ des Regimes. Oder anders gesagt: Die Autoritäten des Landes sind nicht in der Lage, das Land und seine Interessen zu vertreten. In kürzester Zeit kann dieses Problem überbrückt werden, indem neue Personen der zweiten und dritten Garde aufrücken und indem ein ausländischer Tutor, wie Russland oder China gefunden wird.

Aber es ist auch vorstellbar, dass eine solche Lösung eine tiefe Krise der Machtlegitimation herbeiführen könnte. Diese momentan nur aussenpolitisch sichtbare ‘operationelle Handlungsunfähigkeit’ würde bald auch innenpolitisch evident. Die Männer der zweiten Garde, die die Pflichten der erste Garde übernehmen sollen, weil diese wegen der genannten Einschränkungen dazu nicht fähig ist, werden in einem unhaltbaren Dilemma stecken: Wenn sie sich nicht so verhalten, wie es die internationale Gemeinschaft erwartet, werden sie gleich wie ihre Vorgänger enden. Wenn sie sich gemäss den ausländischen Ansprüchen verhalten, dann werden sie die Bedürfnisse derjenigen nicht befriedigen, welche sie auf diesen Posten gebracht haben. Niemand kann sagen, dass nach dem Rückzug der KFOR aus Kosov@ die Rolle der internationalen Gemeinschaft für Serbien weniger wichtig sein wird. Im Gegenteil.

Die Anklagen beim Kriegsverbrechertribunal und die Reisebeschränkungen sind natürlich nur die Spitze des Eisberges. Unter der Oberfläche liegen Frustrationen wegen der verlorenen Kriege, der katastrophalen Wirtschaftslage, der Unmöglichkeit das Land ohne Auslandshilfe wiederaufzubauen und dem Zusammenbruch vieler Institutionen auf allen Ebenen. In diesem Kontext hat das Regime mit der Ausnahme des Selbsterhalts keine Funktion mehr, was unvermeidlich den politische Handlungsraum einengt und radikale Optionen eröffnet.

No way out?

Bestätigt dies die Erklärung des Präsidenten der Demokratischen Partei Zoran Djindjic, dass die Liga für den Wandel keinen politischen Kampf gegen das Regime führt, sondern nur die enorme Unzufriedenheit der Nation mit der Politik von Slobodan Milosevic lenkt? Es ist gewiss, dass kaum jemand in Serbien mit der Lebenssituation zufrieden ist. Aber es ist auch sicher, dass die OppositionsführerInnen ausser den gewohnten und verbalen Appellen für demokratische Werte keine spezifischen Visionen entwickeln, die aus der nationalen Katastrophe heraus führen.

Alle diese Leute – sowohl diejenigen der Opposition wie diejenigen an der Macht – sind seit über zehn Jahren gemeinsam auf der politischen Bühne. Es ist unmöglich, sie vorbehaltlos beim Wort zu nehmen. Wenn nicht aus anderen Gründen, dann wegen der verpassten Gelegenheiten in der Vergangenheit.

Die Aktivitäten der nicht-parlamentarischen Opposition werden von einigen Leuten als kontraproduktiv eingeschätzt. Ihrer Meinung nach wird das Regime, wenn es sich durch weitere massive Demonstrationen in die Ecke gedrängt sieht, vor nichts mehr zurückschrecken. Gleichzeitig weckt die radikale Rhetorik die Angst derjenigen WählerInnen, welche das Regime unterstützten. Es verstärkt ihre Unsicherheit und verhindert damit, dass sie zur anderen Seite wechseln. In solchen Situationen neigen diese Leute dazu, sich denjenigen zuzuwenden, von welchen sie annehmen, dass sie zu ihrem Schutz fähig sind und Ruhe und Ordnung wiederherstellen.

Verschiedene meinen, dass sich sogar das Regime seiner Handlungsunfähigkeit bewusst ist. Die UnterstützerInnen dieser These behaupten, dass das Regime in absehbarer Zukunft bereit sein werde, einen wesentlichen Teil der Macht mit politischen Gruppen zu teilen, mit welchen es auf die eine oder andere Art verbunden ist. Aber nur schrittweise, ohne radikale Brüche und nur mit gewissen Garantien, dass seine wichtigsten Stützen nicht angegriffen werden. Die angekündigten Verhandlungen der ehemaligen Alliierten und heutigen Erzfeinde – zwischen der Sozialistischen Partei Serbiens und der Demokratische Partei Montenegros – sind in diesem Zusammenhang zu sehen.

So oder so, der Sommer der Unzufriedenheit hat in Serbien in einer besonders anarchischen Atmosphäre erst begonnen. Das Regime kriselt, die Opposition ist verwirrt und auf der Suche. Alle wissen, wohin sie nicht wollen und mit wem sie nicht zusammenarbeiten wollen. Aber kaum jemand weiss, mit wem sie oder er zusammenarbeiten würde, und wohin es gehen soll. Sie kritisieren und machen Versprechungen und warten. Anschuldigungen werden gezählt und die Verdienstreichen werden dekoriert... Und das Muster der Leskovac-Demonstrationen ausserhalb aller Strukturen und ohne politische ProtagonistInnen ist wie ein Gespenst, das in Serbien umhergeht.

*Philip Schwarm ist Belgrader Korrespondent des unabhängigen Medien-Netzwerks AIM (Alternativna informativna mreza), das zu allen Staaten des ehemaligen Jugoslawien sowie zu Albanien arbeitet. Übersetzung: mr.

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