Pristina im Exil

Die Kosov@-AlbanerInnen fühlen sich in Skopje seltsamerweise fast zu Hause: Auf den Strassen, in den Cafés ist es fast wie daheim, alle sind da. Doch etwas stimmt nicht.

Von Gjeraqina Tuhina*

Als ich aus Kosov@ hier ankam, erwartete ich das Mazedonien, wie ich es kannte, das Mazedonien, wie ich es bei meinem letzten Besuch vor einigen Wochen gesehen hatte. Statt dessen sah ich Pristina. Die Hauptstadt Kosov@s ist jetzt in Mazedonien. Wo immer ich in Mazedonien hinging, vor allem aber in Skopje, sah ich FreundInnen von zu Hause. Einige hatte ich seit einer Woche nicht mehr gesehen, andere seit langer Zeit. Die Strassen gehören zwar zu einer anderen Stadt, aber das Gefühl war, als ob ich mitten in Pristina herumspazierte.

Zuerst war dies wunderbar und es schien, als hätten die Leute sogar Spass. Die Cafés waren voller Menschen, die ich kenne. Ich sah alle meine FreundInnen. Wir gingen zum grossen Markt in Skopje, um persönliche Dinge einzukaufen, die wir natürlich nicht hatten mitnehmen können. Und die Leute in Mazedonien – das heisst die AlbanerInnen – sind so gastfreundlich. Die MazedonierInnen hingegen sprechen von sich verändernden Demographien und sind schlechter Laune: Du kannst die Spannung deutlich spüren. Die AlbanerInnen hingegen bieten den KosovarInnen soviel Gastfreundschaft an, dass es fast weh tut.

Meistens wissen wir einfach, wer lebt. Wir sprechen noch nicht über die Toten, denn noch kann nichts als sicher gelten. Aber zumindest wissen wir, wer lebt, weil wir einander gesehen haben. Für mich war es am wichtigsten, so viele meiner KollegInnen wiederzusehen. JournalistInnen, die ich seit mindestens einer Woche nicht mehr gesehen hatte. Unter diesen Begegnungen war diejenige mit Baton Haxhiu, dem Chefredaktor von Koha Ditore, am eindrücklichsten. Alle hatten gedacht er sei tot.

Tatsächlich hatte ich ihn bereits in der langen Schlange an der Grenze gesehen. Ich hatte seinen Wagen und seine Autonummer erkannt, noch sieben Kilometer zurück auf jugoslawischem Territorium. Ich hatte aber nicht gedacht, dass er es wirklich ist. Er trug einen Hut und hatte seinen Bart abrasiert. Natürlich galt er immer noch als tot, er erschrak offensichtlich und versuchte, sich zu verstecken. Es gab viele Gerüchte über serbische Agenten und niemand fühlte sich sicher, bevor nicht die Grenze überschritten war.

Als ich ihn endlich erkannte, flippte ich beinahe aus. Ich wollte zu ihm springen und ihn küssen. Aber der Blick in seinen Augen machte deutlich: Du hast mich nicht gesehen!

Viele andere AlbanerInnen – klüger als ich – sahen ihn auch. Aber sie taten, als würden sie ihn nicht kennen. Sie mussten ihn nur sehen. Und wissen: Baton lebt. Ich fühlte mich wie in einem Traum. Als würde ich es nicht glauben, bis ich ihn nicht berührt hätte. Am nächsten Tag, als wir uns endlich wiedersahen, weinten und weinten wir. Ich schrie ihn an, sagte, dass er mich fünf Jahre meines Lebens gekostet habe. Er lächelte nur.

Unter diesem irren Verhalten weinen die Leute wirklich. Ich war erstaunt, vor allem über die Männer. Sie weinen und weinen, über alles was sie durchgemacht haben. Wir haben immer noch einen Schock. Wir sind zu stolz, um zuzugeben, dass wir Flüchtlinge sind. Die Leute benutzen neue Ausdrücke, wie ‘Deportierte’. Sie tun alles, um nicht zugeben zu müssen, was wirklich passiert ist. In vielen Cafés sprechen die Leute ernsthaft darüber, wie sie in zwei Wochen zurückkehren werden. Sie glauben, dass die NATO weitermacht und den Krieg gewinnen wird, so dass sie zurückkehren können. Sie sind sogar ungeduldig.

Alles was sie haben ist Hoffnung – meines Erachtens eine zu hoffnungsvolle Hoffnung – ein Traum. Sie möchten diese zwei Wochen als etwas Provisorisches anschauen, wie einen Traum eben. Sie möchten so tun, als wäre es nicht geschehen, als könne alles rückgängig gemacht werden. Obwohl wir keine Organisation mehr haben. Obwohl viele tot sind. Obwohl wir in Mazedonien sind.

Um sich zu erinnern, reicht es, eine halbe Stunde an der Grenze zu verbringen. Die Vielzahl von Flüchtlingen zu sehen, gestrandet, wartend – das macht dich ganz krank. Und wenn du wirklich mit den Leuten in den Cafés sitzt und wirklich mit ihnen sprichst, dann sehen die Geschichten alle gleich aus: die Polizisten, die Vertreibung, die Züge.

Andere haben sogar versucht, nach Hause zu telefonieren. Ich sprach mit sieben oder acht FreundInnen, die zu Hause anriefen. Wieder: immer dasselbe. Jemand antwortet auf serbisch. Sie fragten: "Ist dies das Haus von so und so?" Die Antwort ist deutlich: "Ich weiss nicht, wessen Haus dies früher war, aber nun ist es meines".

Trotz der Atmosphäre auf den Strassen stimmt etwas nicht. Etwas geht nicht auf. Wir wissen, was es ist. Aber wir möchten nicht darüber nachdenken.

*Gjeraqina Tuhina ist kosov@-albanische Journalistin. Nachdruck mit freundlicher Erlaubnis des Institute for War and Peace Reporting IWPR. Übersetzung: mr

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