Kosovo ja

Von Franz Hohler

Die UreinwohnerInnen unserer Bahnhöfe sind die AusländerInnen.

Je verlassener die Orte sind, desto sicherer triffst du auf dem Bahnhof die AusländerInnen, die im Geruch der Schienen und Schnellzüge eine wenn auch noch so dünne Verbindung zum Land wittern, aus dem sie kommen und in dem sie lieber wären, hätte sie nicht eine machtvolle und unerbittliche Hand gepackt und ausgerechnet hier fallen gelassen, in Flüelen zum Beispiel, wo ich, nachdem ich Schulkinder im tief verschneiten Schächental besucht habe, im Wartesaal sitze, bis der Zug nach Zürich fährt.

Während ich in meiner Tasche ein Buch für Fahrt suche, von dem ich sicher bin, dass ich es bei mir habe, meldet sich von Tür her ein dünnes Stimmchen, mit einem Gruss in der Ursprache, nicht "Hallo", nicht "Hoi" noch "Salü", sondern eine Art Präsenzvokal, der bedeutet, da bin ich, bist du auch da?

Ich will nicht hinhören, und erst nach einer Weile, als ich mein Buch nicht gefunden habe, merke ich, dass neben mir ein Bub sitzt, klein ist er, dünn ist er, bleich ist er, und als ihn mein Blick trifft, wiederholt er seinen Begrüssungsvokal.

Auf welchen Zug er warte, frage ich ihn auf schweizerdeutsch, worauf er sofort ein Sätzlein hervorzieht, das er immer griffbereit in der Tasche hat: "Nicht verstehen."

Ich schaue ihn an und verstehe sofort, dass er nicht versteht.

"Bosnia?" frage ich.

Er schüttelt den Kopf.

"Kosovo?"

Er nickt heftig und sagt: "Kosovo ja." Ich glaube, er freut sich, dass ich weiss, wo er herkommt.

"Miredita", sage ich.

Kürzlich habe ich mir aus Ratlosigkeit über die vielen AlbanerInnen in unserm Land ein Albanisch-Lehrbuch gekauft, und das ist das einzige Wort, das ich mir bisher merken konnte. Es heisst "Guten Tag".

Der Kleine lächelt hoffnungsvoll: "Albanisch?"

Ich schüttle den Kopf, und unser Gespräch ist vorläufig beendet. Er blickt mich aber an wie ein ZuschauerInnen in der ersten reihe. Die Vorstellung hat doch eben erst begonnen.

"Ist deine Mutter auch da?" frage ich.

"Mutter ja", sagt er.

"Dein Vater?"

"Vater ja."

"Was heisst Mutter auf albanisch?" will ich wissen. Vor mir sitzt schliesslich ein lebendiges Lehrbuch.

Aber das ist zuviel verlangt.

"Mutter nein", sagt er kleinlaut.

Dem jetzt drohenden Kontaktzerfall beugt der Kleine vor, indem er mich am Mantel zupft und verschmitzt sagt: "Mantel."

Ich bestätige diese Einsicht, zupfe ihn meinerseits an der Jacke und sage: "Jacke", und an der Art, wie er das Wort wiederholt, merke ich, dass er es schon kennt.

Ich zeige auf meine Schuhe, und er nennt sie "Schuhe", und dann mache ich nochmals einen Versuch und frage: "Schuhe – albanisch?", und diesmal hat er begriffen, was ich will und sagt: "Patika." Ich spreche das Wort nach, und er ist zufrieden mit mir.

Die Wand ist mit einem Fresko von Ulrich Danioth geschmückt, "Föhnwache". Drei Männer mit Feuerwehrinsignien stehen am Seeufer und blicken auf zwei Frauenfiguren in tänzerischer Pose, die sich offenbar auf ihren Schutz verlassen, falls der Föhn hereinbrechen sollte.

Wir schauen beide auf das Bild, das ich laut "Bild" nenne, worauf er es auch "Bild" nennt. Damit ist es für uns erledigt. Ich suche ein einfacheres Gesprächsthema. Warum nicht noch etwas albanisch lernen, jetzt, wo ich schon weiss, wie die Schuhe heissen?

"Mutter – albanisch?" frage ich nochmals.

Er wehrt wieder ab. "Mutter nein." Das hat er mir doch schon erklärt.

Ich gebe nicht nach. "Vater – albanisch?"

"Vater nein."

Dann halt nicht. "Wie heisst Du? Dein Name?"

Er strahlt. "Martin."

Dann zeigt er auf mich. "Du?"

"Franz", sage ich.

Dann stehe ich auf und sage: "Mein Zug kommt."

Er ist enttäuscht. Jetzt, wo wir unsere Namen kennen und schon fast Freunde sind, gehe ich weg und lasse ihn in Flüelen sitzen, bei Mutter nein und Vater nein.

Ich hole mir eine Zeitung am Kiosk und gehe auf mein Perron.

Als ich in den Zug steige, sehe ich den Kleinen vor dem Kiosk stehen. Er winkt mir, als der Zug abfährt, und ich winke zurück.

Ich kenne sonst niemanden in Flüelen.

Niemanden – ausser Martin.


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