Während zu Beginn dieses Jahrhunderts noch 85 bis 90 Prozent aller Kriegsopfer Angehörige des Militärs waren, so gehörte im Zweiten Weltkrieg bereits die Hälfte aller Toten zur Zivilbevölkerung. Am Ende des 20. Jahrhunderts sind nunmehr drei von vier in Kriegen getöteten Menschen ZivilistInnen.1
Sexuelle Gewalt gegen Frauen findet sich hierbei als integraler Bestandteil von Kriegshandlungen in allen Zeiten der Menschheitsgeschichte.2 Zu den Erscheinungsformen sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten zählt neben der (Massen-) Vergewaltigung zudem die sexuelle Folter und Verstümmelung, die Zwangsprostitution sowie die Zwangsschwangerschaft.
Die Kriegsvergewaltigung war bereits vor Jahrhunderten verbotenes Kriegshandeln, welches für die Täter die Todesstrafe nach sich ziehen konnte. Unter den ältesten entsprechenden Militärcodes befinden sich jene von Richard II (1385) sowie von Henry V. (1419). Im 19. Jahrhundert waren auch in den "Lieber Instructions" von 1863 die Vergewaltigung als Kapitalverbrechen verboten.3
Auch das IV. Hager Abkommen von 1907 betreffend die Gesetze und Gebräuche des Krieges verlangte in Art. 46 "die Ehre und die Rechte der Familie, das Leben der Bürger..." zu achten. Wenngleich nach völkerrechtlicher Auffassung nach einer weiten Auslegung dieser Artikel durchaus so ausgelegt werden darf, dass die Vergewaltigung hiervon mit erfasst wird, so wurde es doch in der gerichtlichen Praxis selten so gehandhabt.4 Unbefriedigend ist auch der Art. 27, Abs. 2 des IV. Genfer Abkommens, welcher hinsichtlich des Schutzes von Frauen vor Vergewaltigung und Zwangsprostitution auf die "Ehre" der Frau abstellt und die Verbrechen sexueller Gewalt damit ihres wahren Verbrech-ensgehaltes zu Lasten einer Stigmatisierung der Betroffenen entkleidet.5 Als schwere Verletzung der Genfer Abkommen, die der internationalen Verfol-gungs- und Bestrafungspflicht unterfiele, ist die Vergewaltigung, obgleich insofern durch Art. 27 des IV. Genfer Abkommens verboten, nicht explizit aufgeführt.
In den Statuten der Ad-hoc-Kriegsverbrecher-Tribunals für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und für Ruanda (ICTR) hat sexuelle Gewalt nur im Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit ausdrückliche tatbestandliche Erwähnung gefunden.6 Dennoch stand für beide Tribunale von Anfang an fest, dass die Ahndung sexueller Gewalt Priorität auch hinsichtlich möglicher anderer Tatbestände, insbesondere des Kriegsverbrechens, haben musste.
Mit dem Urteil gegen Jean-Paul Akayesu vom 2. September 1998 wurde zum ersten Mal auch Vergewaltigung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit abgeurteilt. Hierbei bestätigte die Erste Kammer des Ruanda-Tribunals, dass Vergewaltigung eine From der Aggression, mithin ein Gewaltdelikt sei.
Die erste Verurteilung des Ex-Jugoslawien Tribunals wegen Vergewaltigung als schwere Verletzung der Genfer Konventionen erging fünf Jahre nach Errichtung des Tribunals im Celebici-Fall am 16. November 1998. Vergewaltigung wurde als Folter im Sinne der sogenannten "grave breaches" (schwere Verletzungen) anerkannt. Die Kammer stützte sich hierbei sowohl auf die Akayesu-Entscheidung des Ruanda Tribunals als auch auf Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.
Die Entscheidung des Tribunals für Ex-Jugoslawien ist aufgrund der demonstrativen Einordnung der Vergewaltigung als "schwere Verletzung" im Sinne der Genfer Konventionen unbedingt zu begrüs-sen. Hierdurch wird das Universalitätsprinzip begründet, so dass alle Länder, welche die Genfer Konventionen unterzeichnet haben, sich zukünftig verpflichtet fühlen müssen, Vergewaltigungen im Kriege zu verfolgen oder die Täter an verfolgungswillige Staaten auszuliefern.7
Nach dem allgemeinen Bewusstseins-wandel durch das konzentrierte Auftreten von Massenvergewaltigungen und anderer Formen sexueller Gewalt im Balkan sowie während des Völkermordes von Ruanda wurde für das Statut des ICC sowohl von Nichtregierungsorgani-sationen8 als auch von VertreterInnen des Internationalen Ex-Jugoslawien-Tribunals die Aufnahme von entsprechenden Tatbeständen sowie eine adäquate prozessuale Ausgestaltung des Statutes nachdrücklich eingefordert.
Wie bereits in den Statuten der Tribunale für Ruanda und Ex-Jugoslawien enthält der Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit im Statut des ICC nun ausdrücklich die Vergewaltigung. Darüber hinaus erfasst der Art. 7 jedoch auch explizit andere Formen der sexuellen Gewalt, nämlich "sexuelle Sklaverei, Zwangsprostitution, erzwungene Schwangerschaft, Zwangssterilisation oder jede andere Form sexueller Gewalt vergleichbarer Schwere".
Der zweite Absatz von Art. 7 enthält die tatbestandlichen Definitionen dieser Verbrechen gegen die Menschlichkeit.9 Auch der Tatbestand des Kriegsverbrechens enthält nun eigenständige Referenzen an die Strafbarkeit sexueller Gewalt sowohl für internationale als auch für binnenstaatliche Konflikte. Darüber hinaus wird Massenvergewaltigung, die systematisch erfolgt, auch unter dem Tatbestand des Völkermordes zu prüfen sein, welche als tatbestandliche Handlungen die "Verhängung von Massnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind" statuiert.10 Problematisch wird hierbei jedoch in der Regel der Nachweis der spezifischen Völker-mordabsicht sein. Die vorgenannten Handlungen stellen nur dann einen Völkermord im Sinne des Statuts dar, wenn sie "in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören". Beruft sich der Täter darauf, die Vergewaltigungen lediglich als "Terrormittel" angewendet zu haben, so wird der Nachweis des subjektiven Elements in der strafgerichtlichen Praxis schwierig zu führen sein.
Diese Problematik betrifft auch das Delikt der "Zwangsschwangerschaft", für die gemäss der Definition in Art. 7 immer eine Absicht des Täters nachgewiesen werden muss.
So sehr die nunmehr endlich erfolgte explizite tatbestandliche Erfassung insbesondere auch wegen ihrer bewusstseins-bildenden Wirkung für die Zukunft trotz aller existierenden Schwächen und Problemen zu begrüssen ist, so sehr stellt sich konkret in Bezug auf die gerichtliche Praxis des ICC jedoch die Frage, inwieweit dies wirklich einen verstärkten Schutz von Frauen und Mädchen vor sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten, insbesondere vor Massenvergewal-tigungen, die als Kriegswaffe eingesetzt werden, zu bewirken vermag. Die Problematik, die zugleich eine der essentiellen Schwächen des ICC-Statutes in seiner derzeitigen Form darstellt, liegt in der "Übergangsbestimmung" des Art. 124 begraben.
Gemäss Artikel 12 erkennt ein Staat, der Vertragspartei des ICC wird, die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofes für alle in Artikel 5 niedergelegten Verbrechen, mithin auch für Kriegsverbrechen, grundsätzlich an. Artikel 124 schränkt als "Übergangsbestimmung" diese Zuständigkeit wieder ein, indem er festlegt, dass ein Staat "wenn er Vertragspartei dieses Statuts wird" erklären kann, "dass er für einen Zeitraum von sieben Jahren, nachdem das Statut für ihn in Kraft getreten ist, die Gerichtsbarkeit für die Kategorie der in Artikel 8 bezeichneten Verbrechen nicht anerkennt, wenn ein Ver- brechen mutmasslich von seinen Staatsangehörigen oder in seinem Hoheitsgebiet begangen worden ist." Dieser Artikel eröffnet folglich den Mitgliedsstaaten die Möglichkeit, wenigstens für einen definierten Zeitraum von sieben Jahren dem ICC das Recht auf die Verfolgung "eigener" Kriegsverbrechen schlichtweg zu entziehen. Hiernach könnte ein Staat folglich Vertragspartei des Statuts sein, Massenvergewaltigungen gezielt als Kriegswaffe einsetzen, und trotzdem nicht vom ICC verurteilt werden können. Lediglich ein Rückgriff auf Artikel 7, welcher wiederum eine gross angelegte Verfolgungssituation gegen die Zivilbevölkerung voraussetzt und somit wesentlich enger ist, oder gar ein Rückgriff auf den noch schwieriger nachzuweisenden Tatbestand des Artikels 6 bliebe möglich.
Die Regelung des Artikel 124 für den gesamten Bereich des Kriegsverbrechens, mithin selbst für die "grave breaches" (schwerste Verbrechen), für welche anerkannterweise das Universalitätsprinzipt gilt, stellt in sich gesehen ein unverständlicher völkerrechtlicher Rückschritt dar. Sie wird als schmerzlicher politischer Kompromiss erst verständlich, wenn man bedenkt, dass viele Staaten eine Zuständigkeit des ICC in bezug auf interne Konflikte schlechthin ablehnten11 oder lediglich mit hohen zuständigkeitsbegrenzenden "Schranken" zu überdenken bereit waren. Bei einer Zuständig-keitsbegrenzung des ICC auf lediglich internationale Konflikte wäre der verbliebene Tatbestand der Kriegsverbrechen letztlich in sich leergelaufen, denn "internationale Konflikte" exisitieren in den heutigen Zeiten so gut wie nicht mehr.
Die Regelung des Artikel 124 steht dennoch in erklärtem Widerspruch zum Stand des humanitären Völkerrechts und inszeniert die eigenartige Situation, dass jeder beliebige Einzelstaat zur Verfolgung von Kriegsverbrechen kraft der Genfer Konventionen berechtigt ist, während dem ICC als übergeordneter Instanz der Vertragsstaatengemeinschaft die Zuständigkeit entzogen werden kann. Ausserdem schaft sie zugleich eine äusserst gefährliche Zuständigkeitslücke speziell für die Verfolgung sexueller Gewalt in bewaffneten Konflikten.
Dennoch enthält die Regelung des Artikels 124 auch bescheidenen Anlass zur Hoffnung. Dieser Artikel wird nämlich auf der Überprüfungskonferenz, die sieben Jahre nach Inkrafttreten des Statutes vom UN-Generalsekretär einzuberufen ist, überprüft. Einen entsprechenden politischen Konsens unter den Ver-tragsstaaten vorausgesetzt, könnte somit grundsätzlich die Regelung dieses Artikels geändert werden.12
Nach alledem hinterlassen die Regelungen des ICC-Statutes hinsichtlich der Bekämpfung sexualisierter Gewalt in Kriegen einen durchweg ambivalenten Ein- druck. Während die umfangreiche Ausformulierung der Tatbestände trotz gewisser Schwächen einen echten völkerstrafrechtlichen Fortschritt darstellt, scheint die reale Möglichkeit der Verfolgung sexueller Gewalt als Kriegsverbrechen aufgrund der Regelung des Art. 124 äusserst problematisch und jedenfalls für die betroffenen Zeitspanne hinsichtlich vieler Täter unwahrscheinlich.
1 Smith: Der Fischer Atlas Kriege und Konflikte, 1997. S. 14 2 Cleirn/Tijssen, in: Clark/Sann (Hrsg.): The Prosecution of International Crimes, 1996, S. 257. Ebenso die UN-Spezialberichterstatterin für die Problematik von Gewalt gegen Frauen, ihren Gründen und Konsequenzen: "Gewalt gegen Frauen während bewaffneten Konflikten war eine weitverbreitete und anhaltende Praxis durch die Jahrhunderte hindurch. Es gab eine ungeschriebene Regel, dass Gewalt gegen Frauen während Kriegen eine akzeptable Praxis der Eroberungsarmeen ist." in: Commission on Human Rights, 45th session, Iten 9 a of the provisional agenda. Zur Allgegenwärtigkeit sexueller Gewalt in kriegerischen Konflikten vergl. die demnächst erscheinenden Dissertation der Verfasserin. 3 Meron, American Journal of International Law, Vol. 87, 1993, S. 424f 4 Meron, a.a.O. S. 425, Wullweber, Kritische Justiz, S. 179ff 5 Die Einstufung der Vergewaltigung als Gewaltverbrechen wird in der völkerstrafrechtlichen Literatur zunehmend betont, die fälschliche, und für die Betroffenen aufgrund gesellschaftlicher Stigmatisierung zusätzlich viktimisierende Assoziation mit einem Verbrechen, welches gegen die Ehre der Frau gerichtet ist, wird einhellig abgelehnt. 6 Art. 5 des ICTY-Statuts und Art. 3 des ICTR-Statuts. 7 Vgl. auch Goldstone, in : The Coordination of Womens Advocacy (Hrsg.), Keine Zeit für Frauen, S. 73f 8 Darunter sind: amnesty international, Human Rights Watch, Womens Caucus for Gender Justice in the International Criminal Court, Deutscher Juristinnenbund, WILPF u.a. 9 Die "erzwungene Schwangerschaft" wird definiert als "die rechtswidrige Freiheitsentziehung einer zwangsweise geschwängerten Frau in der Absicht, die ethnische Zusammensetzung einer Bevölkerung zu beeinflussen oder andere schwere Verstösse gegen das Völkerrecht zu begehen". Art. 7, Abs. 2 f. 10 Art. 6 Abs. 1d 11 Der Einbezug von Verstössen gegen die Bestimmung der gemeinsamen Art. 3 der vier Genfer Konventionen in das ICC-Statut wiedersprachen auf der Dezembersitzung des Vorbereitungskomitees China, Indien, Pakistan und die Türkei. Aufgrund weiterer einzelner Vorschriften stellten sich jedoch auch andere Delegationen ganz oder partiell gegen die Aufnahme von Strafbestimmungen in internen Konflikten, so z.B. die Russische Föderation, Uruguay, Vietnam, Pakistan, Saudi-Arabien, Indonesien, Iran und Lybien. 12 Gemäss Art. 121 Abs. 3 bedarf die Annahme einer Änderung, sofern kein Konsens erzielt werden kann, einer Zweidrittelmehrheit der Vertragsstaaten.* Christina Möller ist Doktorandin am Kriminalwissenschaftlichen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Der vorliegende Text ist ihrer Dissertation "Völkerstrafrecht und permanenter Internationaler Strafgerichtshof unter besonderer Berücksichtigung kriminologischer, straftheoretischer und rechtspolitischer Aspekte" entnommen, die demnächst erscheint.
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