Hilfs- und Militär-einsätze trennen!

Cornelio Sommaruga steht seit 1987 an der Spitze des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) und wird seine Präsidentschaft dieses Jahr beenden. Wie steht das IKRK zur Problematik sogenannter "militärisch-humanitärer Interventionen"?

Im 1. Weltkrieg waren 10 Prozent der Kriegsopfer Zivilisten, heute sind es 90 Prozent. Ist das nicht eine Bankrotterklärung, ist das Humanitäre Völkerrecht nicht eine völlig stumpfe Waffe?

Cornelio Sommaruga: Es ist ein Bankrott für die Staaten, die die Genfer Konventionen ratifiziert haben. Die Texte sind gut, aber man muss sie respektieren und ihnen Achtung verschaffen. Ich betrachte das humanitäre Völkerrecht weiterhin als ein grossartiges Gut der Menschheit.

Welche Konsequenzen zieht das IKRK aus seinen tragischen Erfahrungen in Burundi und Tschetschenien?

Cornelio Sommaruga: Diese Erfahrungen rufen nach einer Reaktion der Staatengemeinschaft, die uns in den Genfer Konventionen einen Auftrag, unser Mandat erteilt haben. Mehr muss auch getan werden, um die Bedeutung des Rotkreuz-Zeichens und den Sinn der IKRK-Mission bekanntzumachen und zu erklären.

Die Vereinten Nationen sind in den letzten Jahren in mehreren Peacekeeping-Missionen gescheitert – Somalia, Bosnien und Ruanda sind nur die offensicht- lichsten Beispiele. Kann eine Organisation wie die UNO zwei Rollen auf einmal spielen, nämlich die des Verhandlers und die der humanitären Eingreiftruppe?

Cornelio Sommaruga: Sicher nicht. Ich versuche seit Jahren auf internationaler Ebene Gehör für diese Botschaft zu finden. Die humanitäre Aktion muss unabhängig, neutral und unparteiisch sein. Militärischer Schutz, auch ein Schutz durch bewaffnete lokale Milizen oder Polizei ist zu vermeiden. Das Rote Kreuz braucht seinen eigenen humanitären Raum. Aufgabe der UNO und derjenigen, die von der UNO dazu beauftragt werden, ist es, Recht und Ordnung wiederherzustellen und damit dem Völkerrecht Achtung zu verschaffen. Dadurch wird auch die humanitäre Hilfe ermöglicht.

Sind sogenannte "militärisch-humanitäre Interventionen" das Zugeständnis einer macht- und willenlosen Politik an die Mediengesellschaft?

Cornelio Sommaruga: Auf den TV-Schirmen erzeugen die Militärspektakel wenigstens den Eindruck, als ob etwas geschähe. So kann die Politik in den Ausstand treten und die Öffentlichkeit weiterdösen. Ja, sehr oft ist die humanitäre Aktion der Staaten eine Alibiübung für mangelnde politische Massnahmen und mangelnden Fortschritt bei der Suche nach politischen Lösungen.

Ethnische Säuberungen wie in Bosnien und Völkermorde wie in Ruanda werden oft nicht beim Namen genannt und bloss zu "humanitären Krisen" erklärt. Auch das IKRK ist bestens informiert – warum schweigt es?

Cornelio Sommaruga: Das Rote Kreuz schweigt nur, soweit es notwendig ist, um die Opfer vor Ort zu erreichen, sie zu schützen und ihnen zu helfen. Gerade der Krieg in Ex-Jugoslawien, aber nicht nur der, hat gezeigt, dass das IKRK im richtigen Moment sprechen kann. Leider haben die Medien diese Informationen nicht immer verwertet, da sie oft nicht sensationell aufbereitet, sondern sachlich vorbereitet und dann mitgeteilt wurden.

Wunden verbinden anstatt Ursachen bekämpfen – ist das Rote Kreuz die unlogischste Organisation der Welt?

Cornelio Sommaruga: Nein. Durch seine Anstrengungen, das humanitäre Völkerrecht universell zu gestalten, es zu verbreiten und zu vertiefen und für seine Achtung zu kämpfen, liegt das Rote Kreuz in der Vorbeugung menschlichen Leides durch Krieg an vorderster Stelle.

Aus: info aktuell (05/97)

Die Stimmen des Krieges

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) wurde 1864 als Organisation zum Schutz verwundeter Soldaten gegründet. Dabei konnte es sich auf die Bestimmungen des gleichzeitig erlassenen 1. Genfer Abkommen stützen. Seit der Verabschiedung der heute noch gültigen vier Genfer Konventionen im Jahr 1949 hat sich die Arbeit des Roten Kreuzes immer mehr hin zur Betreuung der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten gewandelt.

50 Jahre nach Verabschiedung der Genfer Konventionen will das IKRK in einer weltweiten Umfrage die Einstellung von Menschen zu Krieg und Frieden erforschen. Mehr als 20 000 Menschen werden dabei gefragt, wie kriegerische Auseinandersetzungen begrenzt werden können und wie die Einhaltung der Genfer Konventionen ihrer Ansicht nach besser durchgesetzt werden kann. Befragt werden vom November 1998 bis zum August 1999 jeweils mindestens 1000 Menschen in 15 Ländern, in denen es kriegerische Auseinandersetzungen gibt (Kolumbien, Bosnien, Philippinen, Somalia, Südafrika, Georgien/Abchasien, El Salvador und im Nahen Osten) sowie in sechs Ländern, die in Frieden leben. Die Ergebnisse der Umfrage werden offiziell an der 27. Konferenz des IKRK im November dieses Jahres in Genf unter dem Titel "Die Stimmen des Krieges" veröffentlicht werden. Geplant sind neben gedruckten Publikationen auch Ton- und Filmdokumente sowie eine Internetseite. Neben einer internationalen Zusammenfassung wird ausserdem für jedes befragte Land ein eigener Report erscheinen.


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