Die sogenannten Genfer Konventionen und ihre Zusatzprotokolle werden oft zusammengefasst unter dem Begriff des humanitären Völkerrechts. In diesem völkerrechtlichen Vertragswerk wird eine Vielzahl von Normen statuiert, welche einerseits die Methoden der Kriegsführung beschränken und andererseits den nicht direkt am Konflikt teilnehmenden, aber von ihm betroffenen Menschen Schutz zukommen lassen. Wesentliches Ziel des humanitären Völkerrechts und mithin der Genfer Konventionen ist es, die Leiden aller Betroffenen im Falle eines Krieges zu lindern. Umfassend definieren lässt sich das humanitäre Völkerrecht als "... jene internationalen Regeln vertraglicher oder gewohnheitsrechtlicher Herkunft, die eigens zur Lösung humanitärer Probleme, die aus internationalen oder nicht internationalen bewaffneten Konflikten hervorgehen, bestimmt sind und die aus humanitären Gründen das Recht der Konfliktparteien einschränken, Kampfmittel und -methoden ihrer Wahl anzuwenden, oder die Personen und Güter zu schützen, welche vom Konflikt betroffen sind oder davon betroffen werden könnten."1
Das humanitäre Recht ist Ausdruck eines heiklen Abwägens zwischen unterschiedlichen Interessen. Auf der einen Seite gilt es primär Rücksicht zu nehmen auf das Schutzbedürfnis betroffener Menschen im Krieg. Andererseits darf ein Rechtssystem nicht den Blick vor der Macht des Faktischen verschliessen. Das humanitäre Völkerrecht kann nur dann Aussicht auf tatsächliche Wirkung haben, wenn es bis zu einem gewissen Grad auch auf militärische Notwendigkeiten in Augen der Kriegsführenden Rücksicht nimmt. Mit anderen Worten: Die Regelung des Rechts in der Kriegssituation verlangt einen Balanceakt zwischen Idealismus und Realismus. Das humanitäre Völkerrecht ist entlang dieser Linie ausgelegt. In der UNO-Charta wird ein grundsätzliches Verbot des Krieges ausgesprochen ( Artikel 2, Ziffer 4 ). Das humanitäre Völkerrecht steht dazu nur scheinbar im Widerspruch. Sein Ziel ist die Wahrung elementarer Menschenrechte in Situationen, in denen trotz dem allgemeinen Verbot ein bewaffneter Konflikt ausgebrochen ist.
Das uns heute vertraute humanitäre Völkerrecht kann in seinem direkten Ursprung in die Mitte des letzten Jahrhunderts zurückverfolgt werden. Rotkreuz-Gründer Henri Dunant schlug nach den Erfahrungen in der Schlacht von Sol-ferino die Gründung eines Abkommens zum Schutze der Verwundeten und Sterbenden auf dem Felde vor.
1864 entstand aufgrund dieses Vorschlages die erste Genfer Konvention, welche in Artikel 6 den Grundstein zum modernen humanitären Völkerrecht legt: "Die verwundeten oder erkrankten Militärs sollen ohne Unterschied der Nationalität aufgenommen und gepflegt werden." Gleichzeitig und ebenfalls auf Veranlassung Dunants erfolgte die Gründung der weltweit operierenden und neutralen Organisation zur praktischen Umsetzung der Konvention, des Internationalen Roten Kreuzes. (Gelegentlich wird denn auch der Ausdruck Rotkreuzrecht verwendet und damit das Genfer Konven-tions-Recht gemeint.)
Bereits 1906 und 1929 wurde das Genfer Konventions-Recht erneuert und erweitert. Die wesentlichsten Änderungen und Verbesserungen erfuhr das humanitäre Völkerrecht aber 1949 anlässlich der 2. Konferenz in Genf. Nach den Erfahrungen des zweiten Weltkrieges war das Bedürfnis nach einem umfassenderen Schutz der Kriegsopfer offenbar geworden. Als nicht minder wichtig, insbesondere aufgrund der zunehmenden Zahl von nicht internationalen bewaffneten Konflikten, erwiesen sich die beiden Zusatzprotokolle von 1977. Gerade hier zeigte sich die Schwierigkeit, einen überstaatlichen Konsens zu finden in der Frage, wann und wie den Opfern von internen bewaffneten Konflikten auf völkerrechtlicher Ebene Schutz garantiert werden soll.
Parallel zu den Bestrebungen zum Schutze der Kriegsopfer entwickelte sich das Recht der Beschränkungen der Kriegsführung. Für das humanitäre Völkerrecht ist dieses von Francis Lieber initiierte völkerrechtliche Instrument ebenfalls von grosser Bedeutung. An verschiedenen Konferenzen u.a. in Den Haag, entwickelte sich ein Normenkatalog, der den streitenden Parteien klare Schranken bei der Wahl von Kampfmitteln und Methoden der Kriegsführung auferlegt. Wesentliche Teile dieses auch unter dem Begriff Haager Recht bekannt gewordenen völkerrechtlichen Rechts wurden nach und nach in die Genfer Konventionen und insbesondere in das 2. Zusatzprotokoll integriert.
Wichtigste vertragliche Grundlage für das humanitäre Völkerrecht sind die vier Genfer Abkommen vom 12. August 1949 zum Schutz der Kriegsopfer:
1. Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten und Kranken der Streitkräfte im Felde
2. Abkommen zur Verbesserung des Loses der Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen der Streitkräfte zur See
3. Abkommen über die Behandlung von Kriegsgefangenen
4. Abkommen zum Schutze von Zivilpersonen in Kriegszeiten
Als wichtige Ergänzungen kommen die anlässlich der Konferenz von Genf (19741977) verfassten Zusatzprotokolle hinzu:
1. Zusatzprotokoll über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte
2. Zusatzprotokoll über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte
Diese grundsätzlichen Vertragstexte werden ergänzt durch einen umfangreichen Katalog von gewohnheitsrechtlichen Normen. Diese binden auch Staaten, welche allenfalls noch nicht sämtliche Vertragsteile ratifiziert haben mittels absolut zwingendem Recht.
Die Gesamtzahl der Normen der Genfer Konvention ist sehr gross. Im Sinne eines Überblicks eignet sich aber folgender Katalog wichtiger Inhalte der Genfer Konventionen.
Nachstehend die Grundregeln des in bewaffneten Konflikten anwendbaren humanitären Völkerrechts2:
1. Die Personen, die ausser Gefecht sind, und jene, die nicht direkt an den Feindseligkeiten teilnehmen, haben ein Recht auf Achtung ihres Lebens sowie ihrer körperlichen und geistigen Unversehrtheit. Sie sind unter allen Umständen zu schützen und menschlich zu behandeln, ohne benachteiligende Unterscheidung.
2. Es ist verboten, einen Gegner zu töten oder zu verletzen, der sich ergibt oder ausser Gefecht befindet.
3. Die Verwundeten und Kranken werden von der Konfliktpartei, in deren Händen sie sich befinden, geborgen und gepflegt. Der Schutz erstreckt sich auch auf das Sanitätspersonal, die Sa-nitätseinrichtungen und -transport-mittel sowie das Sanitätsmaterial. Das Emblem des roten Kreuzes (des roten Halbmondes oder des roten Löwen mit der roten Sonne) ist das Zeichen dieses Schutzes; es muss stets geachtet werden.
4. Die Kriegsgefangenen und Zivilpersonen, die sich in Gewahrsam der gegnerischen Partei befinden, haben ein Anrecht auf Achtung ihres Lebens, ihrer Würde, ihrer Persönlichkeitsrechte und ihrer Überzeugung. Sie sind vor jeglicher Gewalttat und vor Repressalien zu schützen. Sie haben das Recht, Nachrichten mit ihren Familien auszutauschen und Hilfsgüter zu empfangen.
5. Jede Person geniesst die grundlegenden Garantien des Rechtsschutzes. Niemand darf für eine Tat verantwortlich gemacht werden, die er nicht begangen hat. Niemand darf psychischer oder geistiger Folter noch körperlichen Strafen oder grausamer und erniedrigender Behandlung unterworfen werden.
6. Die Konfliktparteien und die Angehörigen ihrer Streitkräfte haben kein unbegrenztes Recht bei der Wahl der Kriegsmittel und Kriegsmethoden. Es ist untersagt, Waffen oder Kriegsmethoden anzuwenden, die geeignet sind, unnötige Verluste oder übermäs-sige Leiden zu verursachen.
7. Die Konfliktparteien haben stets zwischen der Zivilbevölkerung und den Kombattanten zu unterscheiden, damit die Bevölkerung und die zivilen Güter geschont werden. Weder die Zivilbevölkerung als solche noch die Zivilpersonen dürfen angegriffen werden. Angriffe sind nur gegen militärische Ziele zulässig.
Heute haben 188 Staaten die Genfer Konventionen von 1949 für verbindlich erklärt. 153 Staaten das Zusatzprotokoll 1, 145 Staaten das Zusatzprotokoll 2.3 Ein wesentlicher Teil des Inhaltes der Genfer Konventionen ist überdies zu allgemein gültigen Gewohnheitsrecht geworden und muss allein aus diesem Grund bereits angewendet werden.4
Die Genfer Konventionen stellen zahlreiche rechtliche Regeln zur Verfügung, mit deren Hilfe die humanitären Probleme, welche aufgrund von Kriegssituationen entstehen, wenn nicht verhindert, so doch gemildert werden sollen. Die Wirksamkeit von Rechtsregeln zeigt sich immer und gerade bei ihrer Anwendung. Wie kann die richtige Anwendung der humanitär-völkerrechtlichen Regeln kontrolliert und ein allfälliger Verstoss sanktioniert werden? Grundsätzlich obliegt die Verantwortung für die Einhaltung der völkerrechtlichen Ordnung sowohl den einzelnen Vertragsstaaten selbst als auch den internationalen Organisationen, insbesondere den Vereinten Nationen.
Artikel 80.1. von Protokoll 2 verlangt, dass die einzelnen Vertragsstaaten bereits in Friedenszeiten innerstaatlich die Voraussetzungen für ein funktionierendes humanitäres Völkerrecht schaffen. Zu nennen ist insbesondere die Verpflichtung, Gesetze in Kraft zu setzen, welche die Verletzung von humanitärem Völkerrecht sanktionieren. Ab Kriegsausbruch tritt von selbst der gesamte geschriebene und gewohnheitsrechtliche Normenkatalog des humanitären Völkerrechts in Kraft. Eine Kündigung der Konventionen ist zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich, bzw. entfaltet ihre Wirkung erst nach tatsächlicher Beendigung des kriegerischen Konfliktes.
Wesentliche Instrumente für die Feststellung und allfällige Sanktionierung von Rechtsverstösseen bestehen in den verschiedenen internationalen Organisationen, welche zur Tatsachenermittlung berechtigt sind: Zum Beispiel der UNO- Sicherheitsrat, der Internationale Gerichtshof, die UNO-Menschenrechtskommission, die internationale humanitäre Ermittlungskommission, aber auch sogenannte NGO (Nicht-Regierungs-Organisationen), wie beispielsweise Amnesty International.
Für die Kontrolle über die Einhaltung der Genfer Konventionen zuständig ist auch das IKRK, welches als unparteiische internationale Organisation Klagen über Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht entgegennehmen kann. Bei Verletzungen der Genfer Konventionen und der Zusatzprotokolle interveniert es bei den zuständigen Behörden. In gravierenden Fällen fällt diese Intervention auch als öffentlicher Appell aus.
Für das Aussprechen von Sanktionen ist die Zustimmung der internationalen Gemeinschaft erforderlich. Es liegt auf der Hand, dass in jeder Konfliktsituation nicht nur humanitär-völkerrechtliche Interessen entscheiden und dadurch die bedingungslose Durchsetzung des humanitären Gedankens oft genug verhindert wird. Die heutige Tendenz, für schwerere Verletzungen des humanitären Rechts internationale Gerichte ein-zusetzen, scheint dieser betrüblichen Erkenntnis Rechnung zu tragen (Beispiele dafür sind die Kriegsverbrechertribunale zu Ex-Jugoslawien, Somalia und Ruanda).
Besser noch ist die endgültige Einsetzung eines ständigen internationalen und unabhängigen Strafgerichtshofes das 50-Jahr-Jubiläum der Genfer Konvention im kommenden Herbst würde hierzu einen mehr als passenden Rahmen abgeben.
Fussnoten: 1 Gasser, Seite 22 2 Pictet, J., Die Grundsätze des humanitären Völkerrechts, Genf, 1966 in Gasser, S. 21 3 Information IKRK, Stand am 31.7.1997 4 Gasser, Seite 32 Quellen: Gasser, H-P. , Einführung in das humanitäre Völkerrecht, Verlag Paul Haupt, Bern Stuttgart Wien 1995 Sager, M., Die Internationale Ermittlungskommission gemäss Artikel 90 von Zusatzprotokoll 1 zu den Genfer Konventionen von 1949, Diss., Universität Zürich, 1995 Braidi, G.ch., Le droit international humanitaire et les forces de l` ONU pour le maintien de la paix: nouvelle génération, These de doctorat, Universität Bern, 1998 Ipsen, K., Völkerrecht, Verlag C.H.Beck, München, 1990*Kaspar Haller studiert Rechtswissenschaften an der Uni Bern.
Als Depositärstaat der Genfer Konventionen obliegen der Schweiz zunächst einige eher technische Aufgaben: Sie sorgt für die sichere Aufbewahrung der Originaldokumente des Abkommens; sie übernimmt die Kontrolle und Verwaltung, welche Statten welche Teile der Genfer Konvention unterzeichnet und/oder ratifiziert haben; sie ist zuständig für die Kommunikation unter den Unterzeichnerstaaten; und sie vertritt die Genfer Konventionen bei der UNO. Selbstverständlich ist der Depositärstaat verpflichtet, diese Aufgaben unparteiisch und ohne Rücksichtnahme auf einzelne Staatsinteressen wahrzunehmen. So weit, so klar. Nicht ganz, denn 1989 reichte die PLO der Schweiz ein Gesuch um Beitritt zu den Genfer Konventionen ein, deren Anwendung auf die von Israel besetzten Gebiete sie immer wieder gefordert hatte. Das Problem dabei war, dass es damals keinen offiziellen Staat Palästina gab und die Schweiz sich ausserstande sah, zu entscheiden, wie in einer solchen Situation zu verfahren sei. Eine ähnlich heikle Situation entstand nach dem Auseinanderfallen des ehemaligen Jugoslawien zu Beginn der 90er Jahre und ist bis heute nicht geklärt: Während sich Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Mazedonien und Slowenien als neue Vertragsstaaten der Genfer Konventionen deklarierten, hat die Bundesrepublik Jugoslawien (d.h. Serbien und Montenegro) bis heute nicht erklärt, ob es sich als Nachfolgerin des ehemaligen Jugoslawien betrachtet oder als neuer Staat beitreten will. Im Gegensatz etwa zur UNO oder zur OSZE, für die das ehemalige Jugoslawien offiziell aufgehört hat zu existieren, wird es beim Genfer Abkommen nachwievor als Vertragsstaat aufgeführt.
Eine weitere Aufgabe wurde der Schweiz 1977 mit der Verabschiedung der beiden Zusatzprotokolle zu den Genfer Konventionen übertragen. Gemäss Artikel 7 des 1. Zusatzprotokolls "beruft der Depositärstaat, auf Antrag eines einzelnen oder mehrerer Vertragsstaaten und mit Zustimmung der Mehrheit eine Versammlung aller Vertragsstaaten ein, um die generellen Schwierigkeiten bezüglich der Anwendung der Konventionen und ihrer Zusatzprotokolle zu untersuchen". Im Juli 1997 empfahl die UNO-Generalversammlung zum ersten Mal die Durchführung einer solchen Konferenz. Thema: Die Anwendung der Genfer Konventionen in den besetzten palästinensischen Gebieten, wie dies von Israel abgelehnt wird.
Knapp zwei Jahre später hat diese Konferenz, deren Durchführung Aufgabe der Schweiz als Depositärstaat der Genfer Konventionen wäre, noch immer nicht stattgefunden; bisher ist es erst zu sogenannten ExpertInnentreffen gekommen, an denen zum einen VertreterInnen Israels und Palästinas, zum anderen Fachleute des humanitären Völkerrechts mit der Schweiz und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz zusammentrafen.
Weshalb diese Verzögerung? Zunächst einmal, so die offizielle Erklärung des Schweizer UNO-Botschafters Jenö Staehelin im Januar dieses Jahres in New York, habe eine Umfrage bei den Vertragsstaaten der Genfer Konventionen keineswegs einen Konsens punkto Wünschbarkeit einer solchen Konferenz ergeben. Und zum anderen, gewichtigeren seien in der 4. Genfer Konvention (um deren Anwendung es konkret geht, da es sich um einen nicht-internationalen bewaffneten Konflikt handle), keinerlei Vorgaben enthalten, wie eine solche Konferenz durchzuführen wäre. Bevor sie ihre Aufgabe als Depositärstaat für den Fall der palästinensischen Gebiete wahrnehmen könne, so die offizielle Position der Schweiz, müsse von den Vertragsstaaten der Genfer Konventionen zuerst eine ganze Reihe grundsätzlicher Verfahrensregeln geklärt werden. Nämlich, wann und unter welchen Umständen eine solche Konferenz einzuberufen sei, wer sie beantragen müsse und wie darüber entschieden werde, wer daran teilnehmen dürfe, was die Ziele einer solchen Konferenz wären etc.
Trotz der schweizerischen Bedenken könnte es aber schon sehr bald zur Palästina/Israel-Konferenz kommen: Der UNO-Generalversammlung liegt ein Antrag vor, in dem die Durchführung der Konferenz für den 15. Juli dieses Jahres beantragt wird.
Inhaltsübersicht | nächster Artikel |