Kolumne

Altes Treiben*

Von Dragica Rajcic

Pfirsichbaum hat Wurm

Wurm hat Pfirsichbaum

Gefressen wird

Bis

Der eine oder andere

Nicht aufgibt

Und dann, als

Mache der Frühling alles wieder gut

Werden neue Würmer

Gleichen Pfirsichbaum fressen

Aus: "Halbgedichte einer Gastfrau", 1986

"Es ist Frühling", so beginnt jedes Jahr von neuem mein Herz wie ein junges Fohlen in der Brust seine Runde schneller zu drehen. Am Morgen früh aus der Ferne melden sich Vogelstimmen und singen kroatisch. Kosovica, lasta, vrabac, das sind die Namen von diesen Vögeln, welche ich auf Deutsch nicht kenne. Ich könnte natürlich ein Naturlexikon nehmen und sie anhand von Bild und Untertitel identifizieren, aber das könnte ich dem Frühling meiner Kindheit nicht antun.

Wenn ich die Augen schliesse, sehe ich meine Mutter in ihrem einzigen Sommerkleid die Strasse, zwei Milchkannen in den Händen, dorfwärts zu den "Damenfrauen" tragen. Meine Mutter hat die Haare abgeschnitten und Sandaletten in Split gekauft, sie wird später Mortadella und Brot bringen und sich über den Mittag hinlegen. Nachmittags wird sie im Rebenfeld arbeiten und Kühe hüten, am Abend wird sie Wildspargeln mit Eiern und Olivenöl kochen. Das Radio wird sprechen über Vietnam und Tito, und Musik wird über Tränen, Liebe und Abschied singen, über Liebe welche immer im Radio eingeschlossen bleiben wird.

Dann werde ich noch lange die Vogelstimmen hören und die Nacht wird tief werden. Ich werde fallen und fallen und immer tiefer als das Universum fallen, und es wird nichts um mich aufzuhalten geben und kein Ton käme aus meiner Kehle. Und am Morgen wird man mich auf dem Bett vorfinden und... Mutter wird Jaffaorangen und Brot aus dem Dorf bringen.

Ich gehe die Falkensteinstrasse entlang, meine Kinder schlafen noch, ich gehe putzen, meine Hände bekommen Flecken wie Hände meiner Mutter. Ich trage die Kleider wie die Schweizer Frauenfrauen, und die Haare mit Henna gefärbt. "Der Frühling bringt mich aus Rand und Band" könnte ich schreiben. Es wäre mir gemäss einer Wolke in den Haaren und Funken im Gefieder, es wäre mir schnuppe was wird wo, mein Geschlecht könnte sich ‘Glücksbrunnen’ nennen, und die Altersflecken ‘Weisheitsrinde’ heissen. Ich könnte mit meinem Atem die Schnelligkeit bremsen, ich könnte mit meiner Liebe den Hunger stillen, ich sollte Augen wie Erinnerungen haben, klar und tief. Die Poesie der Welt sollte nicht zugleich ihre grösste Lüge sein. Würde ich anders schreiben, würde ich mich aus dem Herausfallen aus dem Universum retten.

Wer erlaubt, wer verbietet?

Es ist wieder Frühling. Und überall schreiten Beine unter der Sonne, überdenken, was es nicht geben darf, und Spielen und träumen. Denken sich eine Welt immer von neuem an. Die Ewigkeit ist ein Gehen von der Geburt bis zum Tode, und von vorne, eine Stafette abgeben. Und mein und dein Leben ist nicht nur ein falsches Leben in welchem es für das richtige keinen Platz hat.

Wer rechnet mit dem Unberechenbaren?

Diese Kolumne wird durch eine grosszügige Spende des Hilfswerks der evangelischen Kirchen Schweiz (Heks) in den Recherchierfonds der FriZ ermöglicht.

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