Die Gedenkveranstaltung hat mich stark beeindruckt. Einmal wegen der grossen Beteiligung; der "Gartenhof"-Saal war übervoll, die Stühle reichten nicht für alle. Eine Mischung verschiedener Generationen hatte zusammengefunden, Frauen und Männer, denen Hansjörg Braunschweig viel bedeutet. Das war deutlich zu spüren.
Der Ort war gut gewählt. In diesem Hause hat er als Sekretär des Internationalen Zivildienstes (SCI) gearbeitet; hier hat er über Jahre als Berater von Militärverwei-gerern gewirkt; in diesem Saal hat er über Jahrzehnte an ungezählten Sitzungen und Veranstaltungen teilgenommen und viele davon geleitet; von diesem Ort aus sind viele Ideen und Aktivitäten ausgegangen, die von ihm geprägt und mitgestaltet wurden. Der "Gartenhof" mit seinem religiös-sozialen Hintergrund war seine politische Heimat, und zwar für sein ganzes Wirken, ob dies nun Friedensengagement, Parteiarbeit, soziale Tätigkeit oder politische Ämter waren.
Beeindruckt hat mich an der Gedenkver-anstaltung aber vor allem die Vielfalt der Beiträge, der persönlichen Zeugnisse aus so vielen verschiedenen Zusammenhängen auch wenn nicht alle Bereiche zur Sprache kamen. Ich hätte noch lange zuhören mögen und es waren noch viele da, die auch von einzigartigen wie bezeichnenden Erlebnissen hätten erzählen können. Bei aller Unterschiedlichkeit der Erfahrungen und Ereignisse kristallisierte sich eine grosse Gemeinsamkeit heraus: Hansjörg Braunschweig als politischer und menschlicher Lehrmeister, als kritischer Gesprächspartner, visionär im Denken und zugleich auf konkrete, realpolitische Umsetzung bedacht, als engagierter Kämpfer, der es verstand, die richtigen Leute für ein bestimmtes Vorhaben zusammenzubringen, um es gemeinsam anzupacken.
Es ist nicht möglich, in einem Nachruf sein Lebenswerk angemessen darzustellen, und ich hätte auch nicht den nötigen Überblick für ein solches Unterfangen. Ob sich wohl jemand findet, der oder die eine Biografie von Hansjörg Braunschweig schreibt? Ich beschränke mich hier darauf, sein Engagement für den Frieden, besonders im Schweizerischen Friedensrat (SFR) zu skizzieren, den er von 1964 bis 1975 präsidiert hat. Bis zuletzt ist er ihm verbunden geblieben. So hat er noch für die letzte Nummer der FriZ einen Nachruf über Otto Siegfried verfasst.
Niemand hat die Friedensarbeit in der Schweiz in der Nachkriegszeit so stark geprägt wie Hansjörg Braunschweig. Er hat noch als SCI-Sekretär Ende der Fünfziger-jahre massgeblich am Aufbau der Bewegung gegen die atomare Aufrüstung mitgewirkt. Nach der Ablehnung ihrer Initiati- ve für das Verbot einer schweizerischen Atomwaffe hat sie sich zur Ostermarschbewegung weiterentwickelt, konnte aber Mitte der Sechzigerjahre keine gemeinsame Haltung zum Vietnamkrieg finden und ist daran zerbrochen. Ausführlich beschrieben ist dieses Engagement im SFR-Jubilä-umsbuch "Hoffen heisst Handeln". Anfangs der Achtzigerjahre erlebte diese Be- wegung in der sog. neuen Friedensbewegung in Europa eine Art Wiedergeburt. Obwohl er damals schon längere Zeit nicht mehr SFR-Präsident war, hat Hansjörg Braunschweig beim Aufbau der Bewegung "Wir wollen nicht zu Tode verteidigt werden", mit dem Schwerpunkt auf der Kritik am "Nichtsnutz Zivilschutz" engagiert mitgearbeitet.
Die Waffenausfuhrverbots-Initiative als Antwort auf den Bührle-Skandal Ende der Sechzigerjahre ist das Werk von Hansjörg Braunschweig. Er überzeugte den SFR (der bis dahin ganz auf ehrenamtlicher Basis arbeitete), dafür ein Sekretariat einzurichten. Zugleich gewann er das "Zürcher Manifest" ein Zusammenschluss von bekannten Persönlichkeiten nach dem sogenannten Globuskrawall zum Schutz der Jugend- lichen und zur Verteidigung der Demokratie für die Idee der Initiative. Damit stand von Anfang an das Anliegen und nicht eine Organisation im Zentrum.
In der historischen Abstimmung vom 24. September 1972 verpasste das Waffenausfuhrverbot das Volksmehr nur um 0,3 Stimmenprozente. Für diesen Erfolg gab eine Vielzahl von Gründen, z.B. die Aufbruchstimmung nach 1968, eine der ersten eidgenössischen Abstimmungen mit Frau-enbeteiligung. Für ausschlaggebend halte ich jedoch die politische Kultur im Abstimmungskomitee. Sie war geprägt von drei Eigenschaften, die charakteristisch für Hansjörg Braunschweig sind: Urvertrauen, Offenheit und Engagement. Eine feste Vereinsstruktur gab es nicht; wer sich beteiligte, musste nicht zuerst einen Vertrau-enswürdigkeitsbeweis erbringen, sondern konnte sogleich gleichberechtigt mitbestimmen. So mussten zwar einige Diskussionen mehrfach geführt werden, wenn sich wieder neue Leute engagierten. Diese scheinbare Ineffizienz hat sich aber als sehr wirksam erwiesen; es gab nicht nur einen kleinen, verschworenen InsiderInnenkreis, der die Initiative trug, sondern sie entwickelte sich im Abstim-mungskampf zur breiten, vielfältigen Bewegung. Mit einem Mini- mum an zentral zur Verfügung stehenden Mitteln wurde ein Maximum an eigenständigen Aktivitäten durchaus auch widersprüchlichen in den Regionen entwickelt. Da würden heute wohl den Werbestra-tegInnen einer Initiative die Haare zu Berge stehen. Der Schwung der Bewegung hat jedoch mehr ausgelöst als eine noch so gekonnte PR-Kampagne hätte bewirken können.
Aus dem Schwung des Abstimmungserfolgs heraus gründeten wir die Arbeitsgemeinschaft für vermehrte Rüstungskontrolle und ein Waffenausfuhrverbot (ARW). Von 1982 bis 1992 übernahm Hansjörg Braunschweig ihr Präsidium, und 1991 war er massgeblich beteiligt an der Lancierung der beiden friedenspolitischen Initiativen, "für ein Verbot der Kriegsmaterialausfuhr" und "für weniger Militärausgaben und mehr Friedenspolitik". Als letztere 1995 von den eidgenössischen Räten für ungültig erklärt wurde, hat er sich für die erneute Lancierung einer Initiative mit dem gleichen Anliegen eingesetzt.
Die Darstellung könnte den Eindruck erwecken, Hansjörg sei nur (Ab-)Rüstungspolitiker gewesen. So wichtig ihm Rüstungsfragen gewesen sind nichts wäre falscher, als ihn auf diese Thematik zu beschränken. Ein möglichst weit gefasster Friedensbegriff und entsprechend vielfältige Aktivitäten waren ihm zentrales Anliegen. So hat er den SFR von der eher unverbindlichen Dachorganisation zur Dreh- scheibe für alle aktuellen Friedensfragen umgestaltet. Immer wieder ist es ihm gelungen, neue Strömungen in den SFR zu integrieren oder doch zumindest mit ihnen ernsthaft ins Gespräch zu kommen. Und ebenso brachte er es immer wieder zustande, dass der SFR zum Forum für Leute mit neuen Ideen wurde. Im Buch "Rückblick für die Zukunft" sind viele auch heute noch lesenswerte Ideen aus der damaligen Zeit zu finden.
Immer wieder sind Ideen, die wir im SFR diskutierten, einige Zeit später von grös-seren Organisationen oder Parteien für eine Kampagne oder Initiative aufgegriffen worden, einige Male unter ausdrücklichem Ausschluss des "extremen" Friedensrates. Hansjörg hat dies zumindest nach aussen hin bemerkenswert gelassen hingenommen. Es war ihm wichtiger, dass in der Sache etwas lief, als dass sich der SFR als Organisation profilieren konnte. Ein Bekennt- nis genügte ihm nicht, er wollte Wirkung erzielen. Das heisst aber nicht, dass er Engagement von voraussehbarem Erfolg abhängig gemacht hätte.
Dass es heute wenigstens einen zivilen Ersatzdienst für Militärverweigerer gibt, ist dem Einsatz vieler Personen und Organisationen für die Schaffung eines Zivildienstes seit Beginn dieses Jahrhunderts zu verdanken. Jahrzehntelang hat sich Hansjörg Braunschweig dafür exponiert, politisch und persönlich. Er beteiligte sich am Aufbau der ersten Beratungsstellen für Militär-verweigerer und hat Dutzende von Militär-verweigerern vor Divisionsgerichten ver- teidigt lange bevor ein solcher Auftritt vor Militärgericht zum guten Ton unter Linksintellektuellen gehörte, als dies noch den Ge- ruch des Vaterlandsverrats hatte. Und immer wurde er scharf beobachtet von der politischen Polizei. Nur zu gerne hätte sie ihm einen Prozess angehängt wegen Aufforderung zur Militär-dienstverweigerung. Opfer des Staatsschutzes war er verschiedentlich, eindrück-liche Beispiele hat er in der Schrift "Freiheit kleingeschrieben!" (Z-Verlag, Basel, 1990) beschrieben.
Die prägende Erfahrung für sein ganzes Leben war der Kalte Krieg, die Hexenjagd auf Andersdenkende. Der Einsatz für Demokratie und Meinungsfreiheit stand deshalb immer im Zentrum seines Engagements. Er mochte von GegnerInnen noch so diffamiert und ausgegrenzt werden. Für ihn war das kein Grund zur Entmutigung oder zu Revanchegelüsten. Im Gegenteil, je heftiger er oder der SFR angefeindet wurde, umso ernsthafter suchte er den Dialog ohne Anbiederung oder Ausklammerung von Differenzen. Allerdings ist dies oft nicht verstanden worden und er stiess auf Zurückweisung. Ich habe mich immer wieder darüber gewundert, wie Hansjörg Braunschweig mit allen Anfeindungen, Verleumdungen und Nachstellungen fertig geworden ist, ohne auch nur ein Anzeichen von Härte oder Verbitterung zu zeigen. Das ist zu einem grossen Teil dem Rückhalt zu verdanken, den er in seiner Familie und besonders in Sylvia hatte. Aber offenbar haben sie seinem Herzen doch so stark zugesetzt, so dass er uns viel zu früh entrissen worden ist.
Ein ausführlicher Nachruf auf Hansjörg Braunschweig von Manfred Züfle und Willy Spieler ist auch in der neuesten Ausgabe der "Neuen Wege", dem Organ der Religiös-Sozialistischen Vereinigung der Deutschschweiz erschienen.
Redaktion: Willy Spieler, Zürichstr. 152, 8700 Küsnacht. Tel/Fax 01/910 58 44.
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