Drei Kontinente, ein Schicksal: Strassenmädchen

Von Stefan Studer

Recife im Nordosten Brasiliens. Eine Zwei-Millionen-Stadt, Wirtschaftsmetropole einer riesigen Region. Grossstadt-Skyline, glitzernde Wellen an kilometerlangen Stränden, in der Altstadt ein Hauch von Samba und Brasilien. Zwischen Dezember und März sind die Hotelkästen gut gebucht. Recife ist nicht nur beliebte Reisedestination, sondern ebenso begehrte Adresse für in- und ausländische Sextouristen und ein berüchtigtes Tor für den Mädchen- und Frauenhandel in Richtung Europa und USA.

Die Mädchen kommen von weither, aus der Provinz, dem Landesinnern, per Lastwagen. In der Gewerkschaftszeitung der Camioneure stehen Inserate: "Fahrer sucht 12-, 13-jährige Mädchen, die nach Recife, nach Salvador wollen." Für Lastwagenfahrer ein kleiner Nebenverdienst, der die Mädchen an die Strände, vor die Hotels, auf die schicken Promenaden bringt. Die Mädchen kommen von nah, aus den Favelas, den hässlichen Aussenbezirken Recifes, wo die Drogenmafia längst die Herrschaft übernommen hat. Sie findet in den Strassenkindern nicht nur Kundschaft, sondern auch ein Heer von KleindealerInnen.

Hier auf den Strassen der Slums rund um die Hügel Recifes lebt auch die fünfzehnjährige Soraya. Sie kennt die Alltagssprache, die Gewalt heisst. Mit Drogen und Prostitution finanziert sie ihr Leben und ruiniert es. Sie weiss das, und kommt doch nicht davon los. Sie kennt es nicht anders, nicht besser. Die Mutter arbeitet als Putzfrau, der Vater ist längst abgehauen, das Geld reicht nirgends hin, da sind auch noch Brüder und Schwestern zu versorgen; die älteren Geschwister müssen für sich selbst sorgen und gehen auf die Strasse. Sie suchen eine Zuflucht und finden Gewalt und Ausbeutung.

Die "Colonia", die Filiale für drogenabhängige Kinder und Jugendliche des Strassenkinderzentrums Casa Amarela (CAMM), ist beinahe idyllisch gelegen. Auf einem Hügel über den Favelas sechs Hektaren Land, bewachsen mit Bäumen, Büschen, Gras und Gemüse, dazwischen Gebäude, die als Schule, Verkaufsraum, Wohnhaus und Dusche dienen. Hier oben hat Soraya einen Ort gefunden, der ihr Geborgenheit bietet.

Aber die Drogen, die Prostitution, sie haben Sorayas Leben geprägt. Es wird für sie ein langer Prozess, ein weiter Weg sein, da rauszukommen. Ihre Vergangenheit ist die Strasse, ihre Gegenwart die "Colonia". Und ihre Zukunft?


Hilfe ist im Süden und im Norden nötig

Es wird vorsichtig geschätzt, dass weltweit rund zwei Millionen Kinder und Jugendliche in der Prostitution arbeiten müssen. Eine Million allein in Asien, Hunderttausende in Lateinamerika und Afrika, 300 000 in den USA, aber auch einige Zehntausend in europäischen Städten. Vor allem Mädchen, die auf der Strasse leben müssen, geraten in eine ausweglose Spirale von Ausbeutung und Gewalt.

So unterschiedlich die Herkunft, die Geschichte und das Umfeld der Mädchen sind, verbindet sie doch vieles: Materielle und Wohlstandsverelendung hat sie auf die Strasse getrieben; sie sind Opfer und niemand kennt und kümmert sich um die Täter; die Drogen sind die letzte ausweglose Zuflucht. Drei Kontinente, ein Schicksal – die kommerzielle sexuelle Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen macht an keiner Grenze Halt. Ob Brasilien, Moçambique oder in der Schweiz – Mädchen flüchten vor Gewalt und Ausbeutung auf die Strasse und geraten gerade hier wieder in eine Spirale von Gewalt und Ausbeutung. Deshalb unterstützt terre des hommes schweiz Projekte im Süden und in der schweiz, die Strassenmädchen helfen, ihren Weg in ein selbstbestimmtes Leben zu finden.

Z.B. in der Schweiz

Kinder- und Jugendprostitution im Trikont und in der Schweiz – an der Schnittstelle setzt die "Arbeitsgemeinschaft gegen Kinderprostitution" (arge kipro) an. Mit Informations- und Vernetzungsarbeit versucht sie, das Problem der kommerziellen sexuellen Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen hier wie dort öffentlich zu machen. Zwei Projekte stehen dabei im Vordergrund: Eine Untersuchung über Kinderprostitution und -pornographie in der Schweiz und eine Abklärung der Möglichkeiten, Schweizer Sextouristen, die Kinder und Jugendliche im Ausland ausbeuten, rechtlich in der Schweiz belangen zu können. Mit beiden Projekten möchte die arge kipro nicht nur die Öffentlichkeit sensibilisieren, sondern auch einen Katalog von konkreten Massnahmen und Forderungen erarbeiten.

terre des hommes schweiz unterstützt die arge kipro mit Fr. 4000.– im Jahr und arbeitet seit sieben Jahren in der Arbeitsgemeinschaft und ihren Projekten mit.

Z.B. in Moçambique

Die "Escola de Rua" ist kein luxuriöser Ort. Sie besteht aus zwei langgestreckten Häusern mit Wellblechdach, dazwischen gestampfter Erdboden und ein offener Essplatz. Rund 60 Strassenkinder sind hier zuhause, die Hälfte davon Mädchen. Die "escola" war das erste Strassenkinderzentrum Moçambiques, das sich auch der Mädchen annahm. Aufgenommen werden normalerweise ganze Gruppen, um die bestehenden sozialen Netze der Kinder nicht zu durchbrechen. Mit Unterstützung von terre des hommes schweiz konnte ein spezielles Mädchenhaus ge

baut werden, das den Mädchen besseren Schutz vor Gewalt bietet. Neu kommen jetzt auch spezifisch auf die Strassenmädchen ausgerichtete Ausbildungskurse hinzu, die ihnen erlauben sollen, sich im Arbeitsmarkt zu behaupten. terre des hommes unterstützt das Projekt mit Fr. 10 000.– im Jahr.

Z.B. in Brasilien

Immer wieder kommen drogenabhängige Kinder, vor allem Strassenkinder, ins Zentrum Casa Amarela (CAMM) in Recife. Erfahrungen in andern Projekten haben gezeigt, dass eine Durchmischung von drogenabhängigen und nichtabhängigen Kindern sehr problematisch ist. Deshalb wurde am Stadtrand ein zweites Zentrum aufgebaut. In diesem CAMM 2 leben zurzeit 23 Kinder und Jugendliche zwischen 8 und 16 Jahren, 18 Buben und 5 Mädchen. Sie sind – oder besser waren – alle drogenabhängige Strassenkinder, und die Mädchen arbeiteten in Prostitution. Im CAMM 2 haben sie einen Ort, der ihnen Zuflucht bietet, Schutz vor Drogen und Möglichkeit, Gemüse und Früchte anzubauen und zu verkaufen.

terre des hommes schweiz unterstützt das CAMM mit Fr. 45 000.– im Jahr.


Inhaltsübersicht nächster Artikel