Die Schweiz ist den internationalen Menschenrechtsverträgen nur sehr zögernd und mit einiger Verspätung beigetreten. Bereits beim Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) 1974 bildete sie das Schlusslicht und anerkannte als damals letztes Land des Europarates die EMRK. Auf universeller Ebene begann sie gar erst in den neunziger Jahren1 mit der Ratifizierung der allgemeinen Menschenrechtsverträgen. 1992 ist sie den Internationalen Pakten über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und bürgerliche und politische Rechte von 1966, 1994 dem Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung von 1965, 1997 schliesslich dem Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau von 1979 und - wiederum als letzter Staat Europas und zusätzlich als einer der letzten Staaten der Welt - dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes von 1989 (Kinderrechtskonvention) beigetreten. Der Bundesrat hat immer wieder erklärt, dass er die internationalen Verträge ernst nehme und eine Ratifikation deshalb erst in Frage käme, wenn die innerstaatliche Rechtsordnung im Wesentlichen den Forderungen der jeweiligen Verträge entspreche. Gerade der Widerstand gegen die Kinderrechtskonvention, welcher zu einer Verzögerung ihrer Ratifizierung geführt hat, zeigt indessen, dass grosse Teile der schweizerischen Öffentlichkeit in erster Linie Mühe haben mit der Einbindung der Schweiz in die weltweiten Bemühungen zur Lösung universeller Probleme. Das Folgende geht der Frage nach, welche rechtlichen Wirkungen die Kinderrechtskonvention ausgelöst hat und welche Bedeutung der Konvention in der Schweiz zukommt.
Gemäss der in der Schweiz geltenden Regelung werden internationale Verträge unmittelbar mit ihrer Ratifikation und damit ohne weitere Umsetzung Bestandteil des innerstaatlichen Rechts. Dies bedeutet, dass mit der Ratifikation der Kinderrechtskonvention alle Organe des Staates verpflichtet wurden, in ihrem Handeln die Bestimmungen der Konvention zu berücksichtigen und auf deren Verwirklichung hinzuarbeiten. Das einzelne Kind, beziehungsweise seine rechtlichen Vertreter und Vertreterinnen, können sich sodann direkt auf diejenigen Bestimmungen der Konvention, welche unmittelbar Rechte begründen und unmittelbar anwendbar sind, vor den innerstaatlichen Instanzen berufen und sie einfordern. In denjenigen Bereichen, wo keine direktanwendbare Bestimmungen zur Verfügung stehen, haben die Behörden im weiteren die Pflicht, bestehende innerstaatliches Recht völkerrechtskonform und damit im Sinne der Kinderrechtskonvention auszulegen.
Soweit es im innerstaatlichen Recht Bestimmungen gibt, die den Anforderungen der Konvention widersprechen, hat sich die Schweiz verpflichtet, ihr Recht den Bestimmungen des Übereinkommens anzupassen.
Bereits in seiner Botschaft zur Ratifikation der Kinderrechtskonvention im Jahre 1994 identifizierte der Bundesrat vier Bereiche, in denen das innerstaatliche Recht nicht mit den Anforderungen der Kinderrechtskonvention übereinstimmt. Er schlug deshalb vier Vorbehalte vor, zu welchen im Laufe der Parlamentarischen Behandlung ein fünfter dazukam. Mit einem Vorbehalt kann ein Staat die Rechtswirkung einzelner Vertragsbestimmungen für sich wegbedingen oder einschränken. Die Kinderrechtskonvention lässt gemäss Artikel 51 Vorbehalte zu den einzelnen Bestimmungen ausdrücklich zu, soweit sie nicht mit Ziel und Zweck der Konvention unvereinbar sind.
Vorbehalte drängten sich vor allem bezüglich jenen Rechten auf, welche bereits im Zeitpunkt der Ratifikation zu gewährleisten sind und dem Einzelnen einen direkten Anspruch auf Durchsetzung geben. Bezüglich aller anderen Bestimmungen verpflichtete sich die Schweiz lediglich, im Sinne von Artikel 4 der Konvention, in Zukunft "alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Massnahmen zur Verwirklichung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte" zu treffen. Bei allen Bestimmungen, die im Sinne einer Zielformulierung den Staat verpflichten, in einem gewissen Sinne tätig zu werden, muss er deshalb nur dann einen Vorbehalt anbringen, wenn er in nächster Zunkunft keine Möglichkeit sieht, die entsprechende Bestimmung umzusetzen oder grundsätzlich nicht gewillt ist, dieser Bestimmung in Zukunft Folge zu leisten.
Der Bundesrat begründete seine Vorbehalte mit dem Interesse eines raschen Beitritts der Schweiz zur Konvention. Aus der Botschaft von 1994 geht ausserdem hervor, dass der Bundesrat die Vorbehalte als vorläufige Massnahmen ansieht, und er versprach damals, "mit den nötigen Gesetzesrevisionen die Voraussetzungen für den baldigen Rückzug der entsprechenden Vorbehalte zu schaffen".
Die von der Schweiz erklärten Vorbehalte bewirken, dass gewisse Gruppen von Kindern um den vollen Genuss der in der Konvention postulierten Rechte gebracht werden. Betroffen sind im wesentlichen ausländische beziehungsweise staatenlose Kinder sowie Jugendliche, welche straffällig geworden sind. Die Bedeutung und die Auswirkungen des fünften Vorbehalts, welcher auf dem Hintergrund der im Zeitpunkt der Ratifikation aktuellen politischen Diskussion entstanden ist, liegt bis heute im dunkeln.
1. Vorbehalt: Rechte und Pflichten der Eltern (Artikel 5)
Artikel 5 regelt die Rechte und Pflichten der Eltern beziehungsweise der Familie. Die Familie ist primär berechtigt, aber auch verpflichtet, für das Wohl des Kindes zu sorgen. Sie hat das Kind bei der Ausübung der Konventionsrechte "in seiner Entwicklung entsprechenden Weise angemessen zu leiten und zu führen" (Art. 5).
Obwohl sich die Regelung des Eltern-Kind-Verhältnisses in der Konvention gemäss herrschender Lehrmeinung in keiner Weise von den Vorschriften des schweizerischen Kindsrechts unterscheidet, haben die eidgenössischen Räte folgenden Vorbehalt zu Artikel 5 formuliert: "Die schweizerische Gesetzgebung über die elterliche Sorge bleibt vorbehalten." Der Vorbehalt ist damit vor allem Ausdruck des Misstrauens gegenüber einer zu kinderfreundlichen Konvention. Die rechtliche Bedeutung des Vorbehalts ist jedenfalls bis heute nicht geklärt.
Vorbehalt 2: Recht des Kindes auf eine Staatsangehörigkeit (Art. 7)
Artikel 7 der Konvention, der dem Kind das Recht gibt, "eine Staatsangehörigkeit zu erwerben", wird durch folgende Formulierung in seiner Geltung beschränkt: "Die schweizerische Bürgerrechtsgesetzgebung, die keinen Anspruch auf Erwerb der schweizerischen Staatsangehörigkeit einräumt, bleibt vorbehalten." Die Bedeutung dieses Vorbehalts in der Praxis erscheint ebenfalls ungeklärt. Die Schweiz hat es nämlich unterlassen, zur analogen Bestimmung im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte einen entsprechenden Vorbehalt anzubringen. Einem staatenlosen Kind (beziehungsweise seiner gesetzlichen Vertretung) ist deshalb zu raten, sich auf Artikel 24 Absatz 3 mit dem Wortlaut: "Jedes Kind hat das Recht, eine Staatsangehörigkeit zu erwerben" zu berufen.
Mit dem Verlust jeglicher Staatsangehörigkeit sind in der Schweiz vor allem diejenigen ausländischen Kinder konfrontiert, die zum Zwecke der Adoption in die Schweiz geholt werden.
3. Vorbehalt: Recht auf Familienzusammenführung (Art. 10 Ab. 1)
Ausgeschlossen vom Genuss der Konventionsrechte werden gewisse ausländische Kinder, deren Eltern in der Schweiz arbeiten, sich hier aus- und weiterbilden oder hier auf Zeit hin Zuflucht vor Gewalt gefunden haben. Ihnen wird durch die schweizerische Ausländergesetzgebung, entgegen der Forderung der Konvention in Artikel 10, der Familiennachzug zu den in der Schweiz lebenden Eltern oder Elternteilen nicht gewährt.
4. und 5. Vorbehalt: Garantien bei Freiheitsentzug (Artikel 37) und Rechte des Kindes im Strafverfahren (Artikel 40)
Nicht in vollem Umfang gewährleistet werden die Konventionsrechte den Jugendlichen im Strafverfahren und im Freiheitsentzug. Entgegen dem Wortlaut von Artikel 37 lit. c werden Jugendliche vielerorts nicht getrennt von Erwachsenen eingeschlossen. Das schweizerische Jugendstrafrecht kennt sodann keinen Anspruch auf einen Beistand im Strafverfahren und auch weitgehend keine organisatorische und personelle Trennung zwischen untersuchenden und urteilenden Behörden, wie dies in Artikel 40 Absatz 2 lit. bii) und iii) verlangt wird.
Abgesehen von den erwähnten Bereichen erfüllt die schweizerische Rechtsordnung im wesentlichen die Anforderungen der Kinderrechtskonvention. Das schweizerische Kindesrecht folgt dem System des Übereinkommens: Ebenso wie die Kinderrechtskonvention stellt es Wohl des Kindes ins Zentrum. Sodann sind die Freiheitsrechte bereits durch die Bundesverfassung, durch die Europäische Menschenrechtskonvention und seit 1992 auch durch den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte allen Menschen, und damit auch den Kindern, garantiert. Durch den Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sind sodann auch die in der Kinderrechtskonvention postulierten Sozialrechte, wie das Recht auf Bildung, das Recht auf Gesundheit oder das Recht auf soziale Sicherheit in der Schweiz anerkannt. Bereits mit der Ratifizierung der Sozialpakte und des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau wurde auch die Verpflichtung übernommen, bestehende Lücken im Sozialversicherungssystem (z.B. bezüglich Einführung einer Mutterschaftsversicherung) zu schliessen und vermehrt Institutionen, welche die Vereinbarkeit von Betreuungs- und Erziehungspflichten und Berufstätigkeit sowohl für Männer als auch Frauen erlauben, zu schaffen.
Im Einzelnen sind zwar durchaus Bereiche auszumachen, wo die Schweiz ihre Bemühungen zum Schutze einzelner, speziell verletzlicher und benachteiligter Gruppen von Kindern (behinderte Kinder, ausländische Kinder, Kinder von sprachlichen und religiösen Minderheiten, Kinder auf der Flucht etc.) zu verstärken hat. Die Bedeutung der Konvention für die Schweiz liegt indessen vor allem in den zahllosen Ansätzen, die sie bietet, um grundsätzlich eine kindergerechtere Welt zu schaffen. Sie wird zu einer umfassenderen Berücksichtigung der Interessen der Kinder in allen Lebensbereichen führen. Die Botschaft des Bundesrates zur Ratifikation des Übereinkommens über die Rechte des Kindes zählte 1994 folgende Bereiche auf, wo die Sicht der Kinder in Zukunft unabdingbar einzufliessen habe: Erziehung, Gesundheit, Sozialversicherung, Fürsorge, Medien, Raumplanung, Verkehr und aussenpolitische Beziehungen, insbesondere Entwicklungszusammenarbeit. Sie wird dazu führen, das Kind als Rechtssubjekt ernst zu nehmen und es weitmöglichst bei der Gestaltung seines Lebens und seiner Umwelt miteinzubeziehen.
Die Ratifikation des Abkommens im Februar 1997 stellt sodann ein wenn auch spätes Zeichen der internationalen Solidarität dar. Die Schweiz erklärte damit ihre Bereitschaft, an der Verbesserung der Zukunftschancen auch der Ärmsten der Armen mitzuarbeiten, ihr Know-How zur Verfügung zu stellen (z.B. im Gesundheitsbereich oder im Bildungsbereich), bei der internationalen Zusammenarbeit zur Lösung grenzüberschreitender Probleme im Bereich des Kindesschutzes (Kindsentführungen, Adoption ausländischer Kinder, Kinderhandel etc.) mitzuhelfen und ihre Unterstützung und Hilfe für die weniger entwickelten Staaten zu verstärken. Sie hat mit der Ratifizierung des Übereinkommens sodann auch die Verantwortung für den Beitrag der Schweiz (und der Schweizer und Schweizerinnen) für menschenrechtsverletzenden Zustände in anderen Ländern zu übernehmen und Massnahmen zum Beispiel zur Bekämpfung der Ausbeutung von Kindern durch Kinderarbeit (Stichwort Teppich- oder Sportartikelindustrie) oder Prostitution (Stichwort Sextourismus) zu ergreifen.
Mit der Kinderrechtskonvention steht ein rechtlich verbindliches Abkommen zur Verfügung, auf das man sich stützen kann, das aber auch verteidigt werden muss. Es sind Strukturen zu schaffen, welche dem Kind ganz konkret ermöglichen, sich auch tatsächlich gegen Übergriffe in seine Rechtspositionen zu schützen und seine Rechte wahrnehmen zu können. Allein mit rechtlichen Massnahmen kann die Kinderrechtskonvention allerdings nicht zum Tragen gebracht werden. Ihre Verwirklichung bedarf umfassender Bemühungen zur Sensibilisierung für die Rechte des Kindes sowohl auf der Seite der Behörden und Institution als auch auf Seiten der Zivilgesellschaft. Die Menschenrechte des Kindes gehen alle an und verlangen von allen eine engagierte Auseinandersetzung mit den Anliegen und Bedürfnissen des Kindes.
*Christina Hausammann ist Mitarbeiterin der Koordinationsstelle für Weiterbildung der Universität Bern und freischaffende Juristin, mit den Arbeitsschwerpunkten Menschenrechte, insbesondere Menschenrechte des Kindes und der Frau, und Flüchtlings- und Asylrecht.Inhaltsübersicht | nächster Artikel |