Otto Siegfried (1916–1998): Sein Weg in die Friedensarbeit

Im Advent des letzten Jahres haben viele Menschen mit Trauer und grosser Dankbarkeit von Otto Siegfried Abschied genommen, der unter anderem Gründungsmitglied des Schweizerischen Friedensrates war. Ein Nachruf von Hansjörg Braunschweig.

Vorkriegszeit

Über seine Familie und über die Blaukreuzjugend kam Otto Siegfried in den Dreissigerjahren im Kanton Schaffhausen zur religiös-sozialen Jugendgruppe von Leonhard Ragaz: Studium der entsprechenden Schriften, Aktionen gegen Krieg und Militarismus, gegen Frontismus und Aufrüstung gehörten vordringlich zum selbstgewählten Auftrag. Gruppenleiter war der Metallarbeiter Arthur Rich, später Theologieprofessor (Sozialethiker) an der Universität Zürich. An Samstagnachmittagen fuhren die Aktivisten durch den Kanton und riefen von Brunnenstöcken aus die MitbürgerInnen zum Widerstand gegen die Anpasser, zu diesem Urnengang oder jener Aktion auf.

1936 trat der zwanzigjährige Otto Siegfried der Sozialdemokratischen Partei Schaffhausen bei und setzte sich für Arbeitslose sowie für die ersten EmigrantInnen und Flüchtlinge ein. Seine Artikel trugen ihm die Drohung des vorgesehenen Ortsleiters der Front ein: "Der Baum ist bereits bestimmt, an dem Du einst aufgeknüpft wirst!"

Otto Siegfried erinnert sich gemäss der Biografie von Walter Wolf: "Als die Gefahr einer deutschen Invasion für die Schweiz bestand, bildete die SP unter Walther Bringolfs Leitung eine Widerstandsbewegung: Wir wurden in Gruppen eingeteilt, die alle Gewaltakte zu leisten gehabt hätten. Als Bringolf mich fragte, zu welcher Gruppe ich mich melde, antwortete ich: ‹Ich organisiere die Gruppe ‘Gewaltloser Widerstand?‘› Ich blieb das einzige Mitglied dieser ‘Gruppe‘."

Zweifel und Toleranz

Den 1. Mai 1939 erlebte Otto Siegfried anlässlich eines Sprachaufenthaltes in London. Die Transparente der Labour-Party und der Gewerkschaften gegen die obligatorische Wehrpflicht entsprachen seiner pazifistischen Überzeugung, aber alle sprachen vom bevorstehenden Krieg Hitlers gegen Grossbritannien. Anfang September 1939 erlebte Otto Siegfried den Ausbruch des Krieges, die hilflosen Soldaten und die schutzlosen ZivilistInnen. Grundsätzlich blieb er der Idee der Gewaltlosigkeit treu – aber zu diesem Zeitpunkt und in dieser Lage? Nach seiner verzögerten Rückkehr in die Schweiz fand sich Otto Siegfried bei Leonhard Ragaz an der Gartenhofstrasse 7 in seiner äusseren Verunsicherung und inneren Gewissheit bestätigt. Seither verband er immer eigene Festigkeit mit grosser Toleranz.

Mir fällt auf, wie konsequent und selbstverständlich er beim Erzählen aus seinem Leben seine Frau miteinbezieht, die er als Student geheiratet hat (Otto Siegfried war inzwischen nach Zürich gezogen, hatte die Matura nachgeholt und das Studium der Rechte aufgenommen). Von der gemeinsamen Lebensgrundlage spricht er kaum, ich kann es aber spüren in seiner Friedensarbeit, seiner politischen und sozialen Tätigkeit, in seinen menschlichen Beziehungen, im Alltag und in der Familie.

Nachkriegszeit – Zeit des Aufbruchs?

Den SCI (Internationaler Zivildienst) und seine ExponentInnen in der Schweiz hatte Otto Siegfried bereits während des Spanischen Bürgerkrieges 1936–1939 kennen gelernt: Rodolfo Olgiati, damals Sekretär des schweizerischen Zweiges des SCI und später Direktor der "Schweizerspende"; Idy und Ralph Hegnauer, Karl Ketterer, den späteren LdU-Nationalrat aus Winterthur. Per Camions wurden Lebensmittel, Kleider, Wolldecken und Medikamente nach Madrid transportiert und von dort Kinder, Mütter, Kranke, Behinderte evakuiert. Aus dieser Aktion ging die Rotkreuz-Kinderhilfe während des Zweiten Weltkrieges hervor.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Otto Siegfried wie viele junge SchweizerInnen das Bedürfnis, Grenzen zu überschreiten, neuen menschliche Kontakte zu knüpfen und im kriegsgeschädigten Ausland einen Dienst zu leisten. Otto Siegfried entschied sich für Wiederaufbau-Dienste in Frankreich, Katastrophenarbeit in Holland; von Zürich aus betreute er ausserdem einen Langzeitdienst (Sozialarbeit) in Saarbrücken.

Gleichzeitig half er 1945 als Vorstandsmitglied der "Schweizerischen Zentralstelle für Friedensarbeit" mit, den Schweizerischen Friedensrat zu gründen und aufzubauen. Er setzte sich für zwei konkrete Ziele ein: Für das Exportverbot von Kriegsmaterial (das der Bundesrat leider bereits 1948 mit Ausnahmebestimungen durchlöchert hatte) und für die Schaffung eines Zivildienstes für Militärdienstverweigerer. Über letzteren hat Otto Siegfried während des Krieges eine Dissertation geschrieben, die aber zur Überarbeitung zurückgewiesen worden war. Anstelle der Überarbeitung schrieb er dann jedoch im Auftrag verschiedener Friedensorganisationen eine 47seitige Broschüre, die während Jahrzehnten (bis in die 70er Jahre) ein ausgezeichnetes Überzeugungsmittel war. Gleichzeitig begleitete er parlamentarische Vorstösse zum Thema Zivildienst und beriet Generationen von Verteidigern und Aktivisten.

Wenn es um seine eigene Person ging, blieb Otto Siegfried zurückhaltend und bescheiden. Umsomehr wies er auf andere Persönlichkeiten hin, damit deren Verdienste nicht in Vergessenheit gerieten. So nannte er immer wieder zwei Genfer, Léopold Boissier vom Internationalen Komitee Roten Kreuz, den ersten Präsidenten des Schweizerischen Friedensrates, und dessen Vize, SP-Nationalrat André Oltramare, vor allem aber den Neuenburger Quäker und Philosophieprofessor Edmond Privat, der während Jahrzehnten als Korrespondent von ESSOR und Coopération in der Westschweiz grossen Einfluss hatte. So vermittelte er in vielen Vorträge Mahatma Gandhis Ideen über Gewaltlosigkeit; letzteren brachte er auch persönlich am Genfersee mit dem französischen Schriftsteller Romain Rolland zusammen und organisierte später die Schweizerreise von Gandhis Nachfolger, Pandit Nehru. Als erster schlug Edmond Privat schon 1945 im Friedensrat vor, die Schweiz solle der UNO "des contingents pacifiques de secours aus populations civiles" anbieten.

Der Friedensarbeit treu geblieben

Längst war Otto Siegfried in jenen Jahren als Jugendsekretär in Zürich-Oerlikon und später als Chef des Jugendamtes III der Stadt Zürich tätig, menschlich und tolerant wie eh und je. Mehr und mehr konzentrierte er sich auf Sozialpolitik und Schulfragen, zuerst im Kantonsrat, später im Erziehungsrat des Kantons Zürich.

Den "Flüchtlingen" und dem "Asylrecht" ist Otto Siegfried treu geblieben, nachdem er schon in den 30er Jahren den EmigrantInnen im Schaffhausischen und während des Zweiten Weltkrieges den Flüchtlingen an der Gartenhofstrasse 7 bei Clara und Leonhard Ragaz begegnet war. Als Kommissionspräsident beim Schweizerischen ArbeiterInnen-Hilfswerk und als dessen Vertreter in der Schweizerischen Zentralstelle für Flüchtlingshilfe (heute Schweizerische Flüchtlingshilfe) kämpfte er zusammen mit anderen JuristInnen für die rechtliche Verankerung des "Non-refoulement"- Grundsatzes (Abschiebeverbot für Flüchtlinge dorthin, wo sie verfolgt werden).

FreundInnen von Friedensorganisationen haben diese Verlagerung seiner ersten Priorität von der Friedens- hin zur Sozialarbeit hin und wieder bedauert. Otto Siegfried stellte einmal rückblickend bescheiden fest: "Der Gewaltlosigkeit und damit der Friedensarbeit bin ich treu geblieben, glaube ich. Ich habe die Menschen mit ihren Belastungen, die wir alle haben, ernst genommen, bin ihnen offen und verständnisvoll begegnet. Vielleicht – vielleicht bin ich deswegen nie körperlich angegriffen worden, obwohl etliche von ihnen sehr aggressiv werden konnten."


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