Im Juli 1997 begannen die Arbeiten am neuen Strategischen Konzept. Schon im Dezember 1997 wurden die Kernpunkte der neuen Richtlinien auf der NATO-Herbsttagung in Brüssel gebilligt und Ende 1998 hat der ständige NATO-Beirat dem Konzept zugestimmt. Noch steht allerdings die endgültige Unterzeichnung durch die Verteidigungs- und AussenministerInnen der Allianz aus weil es für einige von ihnen noch "offene Fragen" gibt.
Auch ist der Entwurf bisher nicht öffentlich zugänglich. Den Diskussionsprozess allerdings beschreibt Dr. Karl-Heinz Kamp, Leiter der Abteilung Aussen- und Sicherheitspolitik der Konrad-Adenauer-Stiftung, im Arbeitspapier "Das neue Strategische Konzept der NATO: Entwicklung und Probleme"2, aus dem wir im folgenden ausführlich die verschiedenen Positionen zitieren:
(...) "Bereits im Dezember 1997 hatte die amerikanische Aussenministerin Madeleine Albright anlässlich der NATO-Ministerratstagung in Brüssel ihre Amtskollegen auf die Proliferationsgefahren (Wei terverbreitung von Massenvernichtungswaffen; A.B./C.R.) hingewiesen und dabei keinen Zweifel an der Entschlossenheit und dem Führungswillen der USA gelassen. Auch war nach Ansicht der amerikanischen NATO-Vertreter die NATO das zentrale Element sicherheitspolitischen Handelns. Die Relevanz anderer Organisationen wie OSZE oder Vereinte Nationen wurde nicht abstrakt gleichwertig, sondern eher hierarchisch anhand der konkret vorweisbaren Erfolge bewertet. (...) Entsprechend folgerichtig signalisierten die USA im Rahmen der Beratungen zum Strategischen Konzept frühzeitig, dass sie die Handlungsfähigkeit der NATO im Falle vitaler Herausforderungen nicht durch die Frage eines Mandates der Vereinten Nationen eingeschränkt sehen wollten. Statt dessen sollten militärische Operationen der NATO im Krisenfall auch ohne Legitimation des UNO-Sicherheitsrates möglich sein."
(...) "Sehr dezidiert äusserte sich Grossbritannien ( ) hinsichtlich der Nuklearproblematik. Die künftige Rolle von Kernwaffen sollte nicht Gegenstand der Diskussion in der PCG3 sein, um nicht unnötig eine allianzinterne Nukleardebatte auszulösen. Eine Auseinandersetzung über die atomare Komponente des NATO-Verteidigungspotentials würde aus britischer Sicht Spannungen in das Bündnis tragen und würde gegenüber der Öffentlichkeit missverständliche Signale aussenden." (...)
"Auch Frankreich ging eher offen in die ersten Diskussionen zum Strategischen Konzept, setzte aber einige Akzente von Anfang an grundlegend anders. So wurde anderen Sicherheitsorganisationen und insbesondere der gemeinsamen Europäischen Aussen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union eine weitaus grössere Bedeutung eingeräumt. Die NATO solle militärisch ausser im Falle der Selbstverteidigung nur in Unterstützung der UNO oder der OSZE tätig werden. Mithin sei immer ein Mandat dieser Institutionen erforderlich." (...).
"Die deutsche Ausgangsposition in den ersten Sitzungen der PCG3 tendierte eher zu den Auffassungen Grossbritanniens und der USA ohne allerdings in allen Punkten übereinzustimmen. Deutschland betonte die Rolle der NATO als Stabilitätsfaktor im gesamten euro-atlantischen Raum und mass insbesondere dem Mittelmeergebiet eine besondere Bedeutung bei. Dabei wurde diese Region allerdings nicht allein als eine Quelle möglicher Risiken gesehen, sondern weit eher als ein Raum für Politikgestaltung. Demgemäss wird eine Ausweitung des geographischen und funktionalen Handlungsrahmens der NATO aus deutscher Sicht nicht primär im Sinne militärischen Handelns verstanden, sondern bedeutet zunächst, dass die NATO bestimmten Regionen erhöhte Aufmerksamkeit beimisst, um dort politische Entwicklungen zu beeinflussen, bevor sie sich zu militärischen Krisen entwickeln. Auch wiesen die deutschen Vertreter in der PCG3 darauf hin, dass die künftigen Aufgaben der NATO jenseits des Bündnisgebietes im neuen Konzept sehr sorgfältig und vorsichtig formuliert werden müssten, um dem Eindruck einer sich künftig aggressiv gebärdenden Allianz entgegen zu wirken. Mit Blick auf das Verhältnis der NATO zu den übrigen Sicherheitsinstitutionen war die deutsche Haltung abweichend von der Position der USA weniger hierarchisch orientiert, sondern ging von einem engen, gleichwertigen Zusammenwirken dieser Institutionen aus." (...)
Allerdings hat der Regierungswechsel in Bonn letzten Herbst bereits Veränderungen bewirkt. Der neue deutsche Aussenminister Joschka Fischer hat den Zipfel "Atomarer Ersteinsatz" aufgegriffen, der in der Öffentlichkeit am einfachsten zu vermitteln ist. Der darauffolgende Aufschrei der Empörung in den USA zeigt, wie empfindlich die kleinste Kritik an der Erstschlag-Doktrin dort empfunden wird. Es ist vorstellbar, dass Fischer sich mit seinem französischen Amtskollegen Hubert Vedrine zusammentut, der ebenfalls NATO-Einsätze ohne UN-Mandat ablehnt.
(...) "Auch die Debatte um die den künftigen Handlungsspielraum der NATO jenseits der Bündnisverteidigung gemäss Artikel 5 des NATO-Vertrages (gegenseitige Beistandspflicht; A.B./ C.R.) verlief in der ersten Hälfte des Jahres 1998 relativ spannungsarm, obgleich dieses Problem erheblichen politischen Konfliktstoff in sich birgt. (...) Ehemalige amerikanische Minister wie William Perry und Warren Christopher sahen es als strategischen Imperativ, dass die NATO zur umfassenden Verteidigung amerikanischer und europäischer Interessen in der Welt befähigt werde. Senator Richard Lugar konkretisierte diesen Aspekt und forderte, dass in den kommenden Diskussionen über den strategischen Zweck der NATO auch mögliche Krisen in der Golfregion oder in der Strasse von Taiwan berücksichtigt werden müssten. (...) Auch von deutscher Seite wurde ein hohes Mass von Zustimmung für ein erweitertes Verständnis der künftigen Rolle der NATO signalisiert. So forderte etwa Verteidigungsminister Rühe ein neues strategisches Konzept, welches die politisch-strategische Aufgabenstellung der Allianz so definiert, dass sie weit in die Zukunft trägt. Die NATO müsse in Richtung einer Gemeinschaft verändert werden, die ihre gemeinsamen Interessen schützen kann und will." (...)
"In der Mandatsfrage, die mit dem Aspekt der künftigen Verantwortlichkeiten des Bündnisses eng verbunden ist, stehen sich im wesentlichen Frankreich und die übrigen NATO-Partner gegenüber. (...) In den folgenden Monaten verfestigte sich diese Haltung und die französischen Vertreter in der PCG3 bestanden darauf, in das neue Konzept eine Formulierung aufzunehmen, welche die Handlungsfähigkeit der NATO im Bereich des Krisenmanagments zwingend an ein Mandat der UNO oder der OSZE bindet. Darin sah die überwiegende Mehrheit der übrigen NATO-Mitglieder allen voran die USA eine unzulässige Einschränkung des Handlungsrahmens der Atlantischen Allianz. (...) Rückendeckung bekamen die Gegner der französischen Mandatsposition von den Mitgliedern des amerikanischen Kongresses. In der am 30. April 1998 mit 80 zu 19 Stimmen angenommenen Senatsresolution zur Ratifizierung der NATO-Osterweiterung ist die Ablehnung der unbedingten Mandatserfordernis deutlich zu erkennen. (...) Frankreich beharrte aber auf seiner Position und warnte vor einer möglichen Selbstmandatierung unter Berufung auf den Artikel 51 (Recht auf Selbstverteidigung im Falle eines Angriffes; A.B./C.R.). Dies würde einerseits die Gefahr in sich bergen, dass auch Russland sich diese Argumentation zu eigen machen könnte, um in dem nach der Lesart Moskaus nahen Ausland militärisch aktiv zu werden. Auch würde ein militärisches Handeln der NATO ohne Mandat eine Änderung von Artikel 7 des NATO-Vertrages erfordern, in dem die Verantwortung des UN-Sicherheitsrates für die Aufrechterhaltung der internationalen Sicherheit betont wird. Politische Aktualität gewann die Mandatsfrage mit den Entwicklungen im Kosovo seit dem Winter 1997/98. (...) Während einerseits gerade bei den europäischen NATO-Partnern die Sorge wuchs, eine Verschärfung der Kosovo-Krise könnte eine erneute Fluchtwelle von Kosovoalbanern nach Westeuropa auslösen, wurde andererseits heftig diskutiert, welche rechtlichen Voraussetzungen für ein Eingreifen der NATO gegeben sein müssten. (...) Weit interessanter als dieser innenpolitische Disput (zwischen dem damaligen Verteidigungsminister Rühe und dem damaligen Aussenminister Kinkel um die Notwendigkeit eines UN-Mandates; A.B./C.R.), der nicht zuletzt auch von Wahlkampfüberlegungen geleitet gewesen sein dürfte, ist der Beispielcharakter der Kosovokrise für die Problematik eines völkerrechtlichen Mandats als zwingende Voraussetzung für ein militärisches Eingreifen der NATO." (...)
"Ein zweiter Streitpunkt innerhalb der PCG3 bezog sich auf die künftigen Kernfunktionen der NATO und wurde zunächst zwischen Deutschland und Grossbritannien ausgetragen. (...) Das deutsche Bestreben, den Artikel 5 (gegenseitige Beistandspflicht; A.B./C.R.) als die primäre Kernfunktion zu etablieren, wird nicht zuletzt aus dem Interesse genährt, die Hauptverteidigungskräfte der Bundeswehr und damit den Erhalt der Wehrpflicht rechtfertigen zu können. Grossbritannien hingegen sieht für seine auf rasche Verlegbarkeit und auf Power Projection ausgerichtete Berufsarmee einen wesentlichen Aufgabenbereich jenseits der derzeitigen Bündnisgrenzen. Das im Juli 1998 von der Labour-Regierung verkündete neue britische Verteidigungskonzept sieht explizit mobile Streikräfte für Einsätze überall in der Welt vor, um im Sinne einer Defense Diplomacy frühzeitig intervenieren zu können. (...) Ungeachtet dieser Auseinandersetzungen um Einzelaspekte sind derzeit keine wirklich fundamentalen Differenzen im Bündnis hinsichtlich des neuen Strategischen Konzeptes zu erkennen. (...) Dieser relativ harmonische Beratungsverlauf kann sich aber verändern, sollten die Überlegungen zum Strategischen Konzept von anderen anstehenden Themen, wie etwa der Umsetzung der Ende 1997 im Grundsatz beschlossenen neuen Kommandostruktur der NATO, oder die Frage einer zweiten NATO-Erweiterungsrunde überlagert werden." (...)
"Der Versuch einiger NATO-Partner, den geographischen Handlungsrahmen der Allianz primär auf das Bündnisgebiet zu beschränken, entspricht kaum den künftigen Anforderungen. Statt dessen muss das neue Strategische Konzept der Tatsache Rechung tragen, dass geographische Entfernung einen immer geringeren Einflussfaktor in der sicherheitspolitischen Risikoanalyse darstellt. Durch die zunehmende Verbreitung weitreichender Trägermittel für Waffensysteme aller Art erlangen immer mehr Staaten die Fähigkeit zur militärischen Machtprojektion über weite Distanzen. (...) Die NATO ist keine rechtsetzende Organisation und damit auf eine völkerrechtliche Legitimation für Aktionen jenseits der reinen Selbstverteidigung angewiesen. (...) Vorstellbar wäre, dass in den Situationen, in denen vitale Interessen einzelner NATO-Staaten berührt sind, ein explizites Mandat aber nicht zu bekommen ist, die betroffenen Länder individuell oder im Zusammenwirken mit Partnerstaaten ihre Interessen ausserhalb des Allianzrahmens militärisch vertreten. Hier ermöglicht das NATO-Konzept der Combined Joint Task Force die Zustimmung aller Bündnispartner vorausgesetzt die Nutzung des militärischen Grossgerätes der Allianz." (...)
"Nach wie vor herrscht in der NATO mehrheitlich die Auffassung, innerhalb des neuen Strategischen Konzepts die Rolle von Kernwaffen nicht neu zu definieren, sondern sich statt dessen auf die Formulierungen des Konzepts von 1991 abzustützen. (...) Auch glaubt die Mehrheit der NATO-Partner auf diese Weise eine erneute Nukleardiskussion und damit eine weitere Erosion der Akzeptanz von Kernwaffen in der Öffentlichkeit verhindern zu können. Gegen einen solch minimalistischen Ansatz spricht allerdings, dass es in den letzten Jahren eine stetige Veränderung im Verständnis der Funktion von Kernwaffen gegeben hat, die nur schwer ignoriert werden kann. So sind gerade die amerikanischen Kernwaffen konzeptionell aus dem Ost-West Kontext herausgelöst worden und gelten zunehmend auch als Mittel zur Abschreckung gegen biologische oder chemische Waffen im Rahmen regionaler Konflikte. Seit der versteckten Nukleardrohung der USA gegenüber dem Irak im Golfkrieg hat es immer wieder Äusserungen aus der amerikanischen Administration gegeben, die das Recht der USA auf nukleare Vergeltung im Falle eines Angriffs mit Massenvernichtungswaffen betont haben. Eine entsprechende Formulierung ist auch in den im Dezember 1997 von Präsident Clinton unterzeichneten nuklearstrategischen Richtlinien (Presidential Decision Directive, PDD) enthalten. Die USA haben mit dieser neuen Nuklearstrategie die längst überfällige Anpassung der nationalen Dokumentenlage an die veränderte Rolle von Kernwaffen vollzogen. Auch in diesem Dokument wird die Option nuklearer Vergeltung gegen Angriffe mit biologischen oder chemischen Waffen explizit erwähnt." (...)
Soweit die Arbeit der Konrad-Adenauer Stiftung.
Was die NATO-PolitikerInnen und ihre Militärs derzeit planen, läuft auf reine Machtpolitik der reichen Staaten gegen den Rest der Welt hinaus: Militärische Interventionen zur Durchsetzung der eigenen Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen. Da es in einer militärisch-unipolaren Welt keinen ernst zu nehmenden Gegner mehr gibt, soll die NATO auf die Legitimation militärischen Handelns durch internationales Recht und die UN verzichten. Was daraus folgt, ist das "Recht der Stärkeren", also modernisiertes Faustrecht. Wir fragen uns, wo der Aufschrei der neuen rot-grünen Regierung in Bonn bleibt? Wird selbst in diesem Falle nur Kontinuität regieren?! Es steht diesmal noch viel mehr auf dem Spiel als "nur" friedenspolitische Glaubwürdigkeit.
Statt NATO-Faustrecht brauchen wir eine Stärkung des internationalen Rechts, das auch die schwachen Länder schützt. Deshalb müssen die UN und die OSZE gefördert und ausgebaut werden.
Statt Interventionsarmeen mit schnellen Eingreiftruppen zur Interessendurchsetzung der wohlhabenden Staaten benötigen wir die Entfaltung der Methoden und Instrumente ziviler Konfliktbearbeitung. Diese sind möglichst vorausschauend einzusetzen, damit Gewalt und Kriege vermieden werden können.
Statt der Nuklearwaffenstrategien mit dem Vorbehalt, Atomwaffen als erste einzusetzen, benötigen wir einen schnellen Abbau dieser Massenvernichtungsmittel sowie wirksame Kontrollen zu deren Nichtweiterverbreitung. Am 8. Juli 1998 verkündete der Internationale Gerichtshof in Den Haag: "Die Drohung mit und der Einsatz von Kernwaffen verstossen generell gegen die Regeln des Internationalen Völkerrechts." 75 US-Bischöfe appellierten im Juni 1998: "Die Menschheit steht vor den schwerwiegendsten Konsequenzen, wenn die Welt von einem durch Kernwaffen repräsentierten Militarismus beherrscht wird, anstatt dem Völkerrecht Geltung zu verschaffen. (...) Es gibt keine Rechtfertigung für sie. Sie sind zu verdammen."4 Wenn die Verteidigungs- und Aussenminister der NATO dennoch meinen, sie müssten mit Atomwaffen gegenüber Staaten der sogenannten "Dritten Welt" drohen, müssen sie vor ein internationales Tribunal gestellt werden.
Statt der internationalen Einordnung der Militär- und Aussenpolitiker in das globale, unipolare Militärsystem unter Führung der USA benötigen wir eine Zusammenarbeit derjenigen Staaten, die es ernst mit dem Satz meinen, dass Aussenpolitik Friedenspolitik sein muss. Das neue NATO-Dokument zeigt schon in der Planung: "Militärische Friedenspolitik" ist ein Widerspruch in sich selbst.
1 Frankfurter Rundschau, 23.11.98 2 St. Augustin, August 1998 3 Die Policy Coordination Group ist das NATO-Gremium, welche das neue Grundsatzdokument vorbereitet hat 4 Frankfurter Rundschau, 31.8.98 *Prof. Dr. Andreas Buro ist friedenspolitischer Sprecher des deutschen "Komitees für Grundrechte". Clemens Ronnefeldt ist Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des internationalen Versöhnungsbundes.Inhaltsübersicht | nächster Artikel |