"Behinderte" – Menschen ?

Von Peter Wehrli*

Wird ein Mensch wegen seiner schwarzen Hautfarbe am hellichten Tag aus einem Restaurant ausgewiesen, sind wir alle – zu Recht – entrüstet. WelcheR aufgeklärte HumanistIn wollte noch in einem solchen Restaurant verkehren? Von 2000 Restaurants in der Stadt Zürich sind gerade mal 36 behindertengerecht. WelcheR HumanistIn weigert sich ein Restaurant zu besuchen, das Behinderten den Eingang verbaut?

Es gibt in der Schweiz lediglich in Bern ein öffentliches Verkehrsmittel, welches für Behinderte im Rollstuhl ohne zusätzliche Hilfe und Aufwand benutzbar wäre. Welcher Humanist weigert sich mit einem Verkehrsmittel zu reisen, das Behinderte systematisch, bewusst ausschliesst? 95 von 100 Schul- und Ausbildungsstätten sind für Behinderte nicht zugänglich. WelcheR solidarische HumanistIn würde sich weigern, solche Dienstleistungen mit seinen Steuergeldern zu bezahlen und zu konsumieren?

Wer fordert den sofortigen Sturz des allseits geschätzten Bundesrates Koller, der öffentlich Bescheid gibt, die Schweiz könne sich gleiche Rechte für Behinderte finanziell nicht leisten?

Warum nimmt niemand wahr, wie hier in der Schweiz Tausende von Kindern schon vor ihrem Eintritt in den Kindergarten aus ihren Familien gerissen, aus der Öffentlichkeit entfernt und in sogenannte "Heime" gesteckt werden – wo sie dann meist lebenslänglich verbleiben, ohne dass je ein Gericht über eine Begnadigung befinden muss?

Ein erwachsener Mensch mit einer schweren Behinderung – "nachweislich in 4 von 5 Bereichen des täglichen Lebens auf Assistenz angewiesen" – hat Anspruch auf eine IV-Rente von maximal 60 Franken und eine "Hilflosenentschädigung" von maximal 27 Franken pro Tag. Dass niemand mit 90 Franken pro Tag leben und eine Assistenz bezahlen kann, ist klar. "Solche Krüppel gehören ins Heim." Letzteres kassiert in ihrem Namen Subventionen von Gemeinde, Kanton und IV. Einmal im Jahr, am Tag der offenen Tür, werden die Behinderten dann dem Publikum gezeigt. Ihre Peddigrohrkörbchen, tönernen Aschenbecher aus der Beschäftigungstherapie und die Zeichnungen der Kinder werden am traditionellen Bazar verkauft. Das bewegte Publikum darf Einblick nehmen in die ach so fremde Welt dieser armen Geschöpfe, dann Gutes tun und spenden. Die Frau des Bürgermeisters hat eines ihrer schönen Bilder zur Versteigerung gestiftet. Die Dorfschule bleibt weiterhin invalidenfrei. Die Welt hat ihre Ordnung.

Eine PflichtverteidigerIn, welche Behinderten helfen würde, alternative, integrative Wege zu finden und zu entwickeln gibt es nicht. Ein Höchststrafmass, nach welchem der oder die Behinderte wieder entlassen und reintegriert wird, kennt niemand. Die meisten Behinderten wollen nach ein paar Jahren auch gar nicht mehr raus. Sie glauben nicht mehr daran, dass sie es könnten. Denn wer ein Heim psychisch überleben will, muss vor allem sich selbst überzeugen, dass es keine andere Wahl gibt. Man und frau ist eben hilflos. Wer seine HelferInnen nicht immer dankbar und lächelnd bestätigt, ist leicht bestraft an einem Ort, wo die einen alle, die andern keine Rechte haben. Wer zum Überleben akzeptieren muss, dass jedermann seinen Körper berühren und damit machen kann, was er oder sie für richtig hält (es sind ja staatlich diplomierte Fachleute!) tut gut daran, keine Identität zu entwickeln – sonst müsste sie oder er mit täglicher Entwürdigung umgehen.

Machen wir uns keine Illusionen. Wer Menschenrechte mit Füssen trampelt, muss dem Opfer zuerst die Menschlichkeit absprechen. Die offizielle Gesetzgebung nennt uns "invalid" – zu deutsch "wertlos", "ungültig". Ungültige Menschen haben keinen Anspruch auf Menschenrechte.

*Peter Wehrli ist Leiter des Zentrums für Selbstbestimmtes Leben in Zürich


Inhaltsübersicht nächster Artikel