NGOs & Menschenrechtsarbeit: "In der Schweiz hat der Lernprozess erst begonnen"

Welche Bedeutung haben die Menschenrechte für Nichtregierungsorganisationen in der Schweiz? Wo begegnen sie ihnen in ihrer praktischen Arbeit? Wie wirken sich die mittlerweile mehr als 70 internationalen Verträge und Konventionen im Bereich Menschenrechte für sie aus? Die FriZ hat vier VertreterInnen von Schweizer NGOs zu einem Gespräch rund um diese Fragen eingeladen..

Die Schweiz hat in den vergangenen Jahren einige UNO-Menschenrechtskonventionen endlich unterzeichnet, die zum Teil schon sehr lange aufgelegen sind. Frauke, wie beurteilt Ihr von Amnesty International dies als Organisation, die schon lange auf diesem Thema arbeitet? Bringt das Veränderungen für Eure Arbeit?

Frauke Seidensticker: Die Frage kann ich so nicht beantworten, weil es sehr viele Konventionen gibt, und die Schweiz hat sehr viele unterzeichnet. Grundsätzlich geht die Schweiz in vielen Belangen in eine Richtung, wir unterstützen, so auch mit ihrer vollständigen Abschaffung der Todesstrafe.

Was allerdings die letzten Veränderungen betrifft, ist mir aufgefallen, dass vor allem im Zusammenhang mit der Diskussion um die Frauenkonvention einiges passiert ist. Zum Teil ist das den Vorbereitungen der Beijinger UN-Frauenkonferenz des Eidgenössischen Departements des Innern und den Nachbereitungen der Post-Beijing-Koordination zu verdanken, zum Teil aber auch der Tatsache, dass im Eidgenössischen Departement des Äusseren einige tüchtige Frauen die Initiative ergriffen haben.

Welche neuen Möglichkeiten hat die Unterzeichnung der UNO-Frauenkonvention durch die Schweiz eröffnet?

Anni Lanz: Weltfrauenkonferenzen finden bereits seit Jahrzehnten statt. Eine der wichtigsten Forderungen bestand stets darin, dass endlich alle Länder die UNO-Frauenkonvention ratifizieren sollen. Die Schweiz war bis vor kurzem zusammen mit den USA eines der letzten Länder, welche dies noch immer nicht getan hatten: 1995 fand die 4. Weltfrauenkonferenz statt, 1997 wurde die Frauenkonvention von der Schweiz ratifiziert. Ich denke, der Druck, den wir im Vorfeld der Weltfrauenkonferenz in Beijing aufsetzen konnten, hat einiges bewirkt. Die Frauen, welche sich zusammengeschlossen haben, sind eine sehr konstante Gruppe; sie sind in der Lage, auch nach Beijing immer wieder in der Öffentlichkeit aufzutreten. Nach der Ratifizierung der Frauenkonvention durch die Schweiz geht es jetzt um deren konkrete Umsetzung. Als nächstes soll es einen Bericht zur Situation der Frauen in Schweiz geben, an dem wir uns beteiligen möchten.

Generell denke ich, dass solche Konventionen zunächst einmal sehr abstrakt sind und eine gewisse Hilflosigkeit darüber besteht, wie die darin festgehaltenen Rechte im nationalen Rahmen angewendet werden können. Deshalb haben wir kürzlich erwogen, eine Tagung zu veranstalten, an der wir die Frauenkonvention in der Schweiz sozusagen zum Leben erwecken wollen.

Im Bereich Antirassismus läuft dies bereits. Michele, Du arbeitest im Sekretariat der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus. Wie schätzt Du von die Auswirkungen der jüngsten Ratifikationen für die Schweiz ein?

Michele Galizia: Die Form der offiziellen und internationalen Berichterstattung stellt ein Novum für die Schweiz dar. Der Antirassismus-Bericht war einer der ersten, dann folgte der Bericht zum Sozialpakt und jetzt stehen die Frauen- und die Kinderrechts-Konvention der UNO an. Das bedeutet auch, dass ein Lernprozess in Gang gesetzt wurde, sowohl bei der offiziellen Schweiz wie auch bei den Nichtregierungsorganisationen.

Im Falle der Antirassismus-Konvention wusste die Kommission zunächst nicht genau, wann der Bericht des Bundesrates herauskommen würde. Das Ganze war ziemlich undurchsichtig, bis der Bericht am Schluss in der Verwaltung zusammengestellt war. Als Kommission konnten wir eigentlich nichts mehr beitragen. Dass schliesslich doch noch ein "Schattenbericht" zum offiziellen Antirassismus-Bericht des Bundesrates zustandekam, war nur möglich, weil sich das Forum gegen Rassismus kurzfristig mit grossem Engagement dahintergestellt hat. Der so entstandene NGO-Bericht ist zwar nur kurz und in vielem sicher verbesserungswürdig, war aber absolut notwendig, wie die Verhandlung vor dem UNO-Ausschuss gegen Rassismus in Genf gezeigt hat: Praktisch alle Fragen, die dort an die offizielle Schweiz gestellt wurden, stützten sich auf diesen NGO-Bericht.

Im Bereich der UNO-Kinderrechtskonvention läuft es nach meinen Beobachtungen sowohl auf Verwaltungs- wie auf NGO-Seite sehr gut, weil es NGOs gibt, die auf dieses Thema spezialisiert sind und die sich auch sehr früh zur Mitarbeit am Bericht gemeldet haben. Aber auch, weil es in der Bundesverwaltung Leute gibt, die sensibel reagieren und bereits jetzt, ein Jahr im voraus, mit den Vorbereitungen begonnen haben.

Beim Sozialrechtspakt war die Berichterstattung dagegen sehr schwierig. Zwar haben das Forum gegen Rassismus und die Akademie für Menschenrechte versucht, kurzfristig einen "Schattenbericht" dazu zusammenzustellen, aber die Erfahrungen zeigen die Grundprobleme auf: Zum einen hatten die NGOs wenig Ahnung, wie die Anliegen vorgebracht werden müssen, und welche Informationen von ihnen erwartet wurden. Zum anderen können NGOs in der Regel weder zeitliche Kapazitäten noch Finanzen so kurzfristig zur Verfügung stellen.

Auch zur UNO-Folterkonvention gibt es ein Berichterstattungsverfahren. Beteiligt sich die Schweizer Sektion von Amnesty International daran?

Frauke Seidensticker: In unserem Fall ist die ganze Berichterstattung immer durch die klare Arbeitsteilung geprägt, die zwischen der Amnesty-Zentrale in London und der Schweizer Sektion von AI besteht. Als Schweizer Sektion sind wir von unseren internen Arbeitsregeln her nicht ermächtigt, für einen solchen Bericht die notwendigen Sondierungsarbeiten zu unternehmen. Konkret werden die Kommentare zu den Schweizer Berichten zur UNO-Folterkonvention in London geschrieben und ich kann sie nur zur Kenntnis nehmen. Amnesty Schweiz hat nicht den Auftrag, Einzelfälle in der Schweiz zu überprüfen, und verfügt entsprechend auch nicht über die nötigen Forschungsstellen, die es für eine Überprüfung und fundierte Kommentierung dieser Berichte brauchen würde.

Was ist aufgrund der bisherigen Erfahrungen Eure Einschätzung: Ist eine solche Berichterstattung eher Fleissarbeit für Dritte oder ergeben sich aus dieser Arbeit Impulse, die sich nachher für die eigene Basisarbeit umsetzen lassen?

Anni Lanz: Eine Schwierigkeit sehe ich darin, dass die verschiedenen Menschenrechtsartikel nicht alles Wünschbare wirklich gewährleisten. Ein Beispiel: Die Ratifizierung des Rechts auf Arbeit in der Menschenrechtserklärung allein garantiert noch keine Vollbeschäftigung. Herauszufinden, wieweit die Geltungsbereiche der einzelnen Artikel gehen, ist in meinen Augen ein Lernprozess, der uns in unserer täglichen Arbeit zugutekommen wird. In der Schweiz beginnt dieser Lernprozess eigentlich erst jetzt – 50 Jahre nach der UNO-Menschenrechtserklärung.

Frauke Seidensticker: Ich finde es sehr schwierig, die Inhalte der Allgemeinen Menschenrechte in der Öffentlichkeit zu kommunizieren. Es ist ja nicht nur so, dass der Artikel "Recht auf Arbeit" in der Erklärung noch lange keine Garantie auf Arbeit für alle ist. Die Menschenrechtserklärung selbst hat als solche keine verbindliche Rechtskraft, sondern ist eben nur eine Erklärung. Die wichtigste Frage ist für mich deshalb: Wie wird die Erklärung international, national und regional in Rechtssprechung und Praxis umgesetzt? Ein Schwerpunkt der diesjährigen Kampagne von Amnesty International zu den Menschenrechten lag darin, zunächst einmal die Menschenrechtserklärung als solche bekannter zu machen. Um die Bevölkerung darüber aufzuklären, was dies de facto im Rechtssystem jedes einzelnen Landes bewirkt, würde es umfassende Seminare brauchen – von denen selbst wir "Fachpersonen" noch profitieren würden. Ich denke, es wird nur schon ein langer Prozess nötig sein, um die Rechtsmöglichkeiten überhaupt bekannt zu machen, die jetzt aufgrund der ratifizierten Konventionen bestehen. Nicht zu reden davon, was es brauchen wird, diese zu festigen und voranzutreiben.

Ruedi, Du warst sowohl bei der Berichterstattung zum Antirassismus als auch zum Sozialpakt beteiligt. Was braucht es, damit die NGOs ihre Positionen in den kommenden Berichten besser unterbringen können?

Ruedi Tobler: Ich fand die Berichterstattung selbst und auch die Verhandlung vor dem UNO-Ausschuss gegen Rassismus sehr spannend. Wie produktiv das Ganze für uns NGOs ist, ist für mich je länger je unklarer. Am Anfang sind wir einfach eingestiegen, weil wir es gut fanden und überzeugt waren, dass es gemacht werden müsse. Im Nachhinein bin ich mir aber noch nicht schlüssig darüber, worauf es hinausläuft: Ob einfach die am Berichtverfahren Beteiligten eine Beschäftigung bekommen, die sehr abgehoben von der Basisarbeit ihrer NGO ist. Oder ob es uns gelingen wird, die Erfahrungen daraus mit unserer alltäglichen Arbeit zu vernetzen. Damit die Menschenrechte nicht einfach Paragraphen bleiben, um die dann am Schluss nur noch Spezialisten vor dem Bundesgericht streiten können.

Der Aufwand, den ein vernünftiger Bericht erfordert, ist auf jeden Fall enorm und bindet auf unserer Seite sehr viele Kapazitäten. Dies gilt umso mehr, je breiter gefasst die betreffende Konvention ist: Während sich die Antirassismus- oder die Folterkonvention thematisch relativ gut eingrenzen lassen, wird es beim Sozialpakt praktisch grenzenlos. Noch ist es für ein Fazit zu früh, aber nach den nächsten Berichten wird es zwingend werden, eine Zwischenbilanz zu ziehen: Bringt es uns wirklich etwas oder strampeln wir uns dabei nur ab?

Anni Lanz: Ich sehe durchaus einen Link zur täglichen Praxis: Bei meinen Eingaben oder Rekursen für AsylbewerberInnen habe ich mich bisher immer nur auf die UNO-Flüchtlingskonvention oder die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) berufen. Jetzt habe ich begonnen, auch auf die UNO-Kinderrechtskonvention zurückzugreifen, und auch bei der Mitarbeit beim Sozialpakt habe ich neue Möglichkeiten für diese Arbeit entdeckt.

Wichtig dabei: Je häufiger eine Konvention vor Gericht und bei Behörden angerufen wird, desto mehr Bedeutung gewinnt sie. Ähnliche Erfahrungen habe ich auch bei der NGO-Koordination zur Weltfrauenkonferenz gemacht: Je mehr wir uns auf internationale Dokumente bezogen, umso weniger konnten unsere Vorschläge als Idee von ein paar Frauen abgetan werden. Und mit jeder Berufung wurden nicht nur wir gestärkt, sondern auch das Gewicht der betreffenden Konvention. Ich denke, diesen Mechanismus müssten wir sowohl vor Gericht als auch in der Politik noch stärker ausnützen. Denn praktisch zu jedem Thema lässt sich ein Bezug zu den Menschenrechten herstellen.

Michele Galizia: Für die Schweiz waren die Menschenrechte bis vor kurzem innenpolitisch nie ein Thema: "Bei uns müssen die Menschenrechte nicht angewendet werden, wir sind ja der Hort der Menschenrechte." Praktisch hat diese Ansicht dazu geführt, dass in der Bundesverwaltung das Thema Menschenrechte nur beim Departement des Äusseren angesiedelt ist, während innenpolitisch ein Pendant fehlt. Damit die internationale Berichterstattung das leisten kann, was sie eigentlich soll, müssen meines Erachtens in der Schweiz zuerst zwei Voraussetzungen erfüllt werden: Zuerst einmal muss das Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass die Ratifizierung der UNO-Menschenrechtskonventionen ganz konkrete Auswirkungen auf unsere Innenpolitik hat. Und danach müssen diese Auswirkungen in einer verständlichen Art und Weise sichtbar gemacht werden. Erst dann werden sich die NGOs erfolgreich auf die Konventionen berufen und die entsprechenden staatlichen Stellen unter Druck setzen können.

Deshalb würde ich davor warnen, von diesen ersten Berichten zu schnell Resultate erwarten zu wollen. Berichte bringen wie jedes diplomatische Instrument auch Frust und Schaumschlägerei mit sich. Der Aufwand lässt sich erst nach drei oder vier Berichten einschätzen. Die Akademie für Menschenrechte plant ja bereits den Aufbau einer Struktur zur systematischen Erarbeitung von NGO-Berichten.

Ruedi Tobler: Die Erfahrungen mit der Antirassismus-Konvention finde ich durchaus ermutigend. Zum Beispiel hat die Kritik der eidgenössischen Kommission gegen Rassismus meines Wissens zum ersten Mal bewirkt, dass VertreterInnen der Bundes das 3-Kreise-Modell in der AusländerInnenpolitik nicht mehr verteidigt haben. Aber: Wenn wir im voraus besser "gecheckt" hätten, was alles mit dem Antirassismus-Bericht herauszuholen ist, wäre mehr drin gelegen…

Zurück zum 50-Jahr-Jubiläum der UNO-Menschenrechtserklärung: Amnesty hat mit der Jahreskampagne "Schutz für MenschenrechtsverteidigerInnen" einen kleinen Teilerfolg erreicht, nachdem in Genf eine entsprechende UNO-Erklärung veröffentlicht wurde. Wird das jetzt auch in der Schweiz umgesetzt?

Frauke Seidensticker: Zunächst einmal: Das ist kein kleiner Teilerfolg, sondern eine grossartige Errungenschaft, auf die wir gar nicht mehr hoffen mochten. Was die konkreten Auswirkungen angeht, müssen wir jetzt erst einmal die Absegnung durch die UNO-Generalversammlung abwarten. Und dann kommt es auf die Vorschläge der UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte an, wie die Staaten mit dieser Erklärung umgehen sollen. Wir von Amnesty würden uns eine Empfehlung wünschen, dass sämtliche Staaten ihre internen Mechanismen mit der Menschenrechtsdeklaration vergleichen. Das wäre zunächst eine Arbeit für die einzelnen Staaten, aber auch eine Gelegenheit für alle NGOs, mit ihrem Engagement den MenschenrechtsaktivistInnen Rückendeckung zu geben.

Aber auf jeden Fall ist es schon ein grosser Erfolg, dass es in diesem Bereich jetzt etwas gibt, auf das wir uns berufen können. Eine verabschiedete Deklaration ist ganz einfach eine Diskussionsgrundlage, die vorher nicht existiert hat. Ich weiss nicht, ob sich jemand vor 50 Jahren hat vorstellen können, was die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte alles nach sich ziehen würde. In ihrem Fahrwasser sind insgesamt 70 internationale Verträge und Konventionen zustandegekommen, die eigentlich doch alle einen sehr grossen Dienst geleistet haben.

Die Akademie für Menschenrechte hat 1998 ihr Projekt "Menschenrechtsbildung" mit einer Übersichtsstudie lanciert. Liegen bereits Resultate vor?

Michele Galizia: Die vollständige Auswertung wird erst nach der Impulstagung vom 2. Dezember möglich sein. Bestätigt hat sich aber unser Ausgangspunkt: Die Menschenrechte werden im Bildungsbereich in der Schweiz zwar durchaus thematisiert, es ist aber unklar, wo und wie dies geschieht. Und zwar sowohl wenn es um grundsätzlich ethische Fragen der Menschenrechte geht, wie auch wenn es um die Menschenrechte geht, wie sie in internationalen Abkommen festgelegt sind. Die Situation in der Erwachsenenbildung gibt die Studie recht gut wieder, während für den Schulbereich erst Stichproben vorliegen. In diesem Bereich handelt es sich bestenfalls um eine Pilotstudie, die unbedingt vertieft werden muss.

Die Abklärung, ob und auf welche Art und Weise das Thema Menschenrechte und deren Umsetzung in den Schulen und in der Erwachsenenbildung in der Schweiz vermittelt wird, ist aber nicht nur für den Bildungssektor allein wichtig.

Die vielleicht öffentlichste Auseinandersetzung zum Thema Menschenrechte in diesem Jahr ist wahrscheinlich in den beiden Asylreferenden zu orten. Die Unterschriftensammlung lief unter dem Stichwort "Asylrecht ist Menschenrecht". Anni, ist das auch als Aufforderung an die Schweiz zu verstehen, die Menschenrechtserklärung aktiver umzusetzen?

Anni Lanz: Gerade in diesem Jubiläumsjahr ist mir aufgefallen, dass es in der Schweiz so etwas wie einen allgemeinen, aber sehr vagen Bezug auf die Menschenrechte gibt. Bei den meisten politischen Anliegen werden auch noch die Menschenrechte angerufen, fast immer aber auf sehr abstrakte Weise.

Zwischen der Asylpolitik und den Menschenrechten bestehen ganz klare Verknüpfungen, zum Beispiel mit der Non-Refoulement-Bestimmung, die sowohl in der UNO-Flüchtlingskonvention als auch in der EMRK verankert ist. Trotzdem habe ich bei den unzähligen Gesprächen, die ich anlässlich des Referendums diesen Sommer auf der Strasse geführt habe, festgestellt, dass zum Thema Menschenrechte in der Schweiz ein riesiges Nachholbedürfnis besteht.

Ruedi Tobler: Am Rand der Verhandlung vor dem UNO-Ausschuss gegen Rassismus in Genf tröstete mich der Berichterstatter für die Schweiz, der Holländer Theo van Boven: "Punkto Menschenrechte hat die Schweiz eben 30 Jahre Rückstand auf das restliche Europa…" Und er hat mir erklärt, die Diskussionen, die wir jetzt in der Schweiz führen, hätten in der Vergangenheit überall in Europa auch einmal stattgefunden. Vielleicht schaffen wir es ja, diesen Rückstand aufzuholen!

Frauke Seidensticker: Es gibt aber auch einen westeuropäischen Rückstand. Wir sonnen uns seit Jahrzehnten darin, dass wir die Guten sind. Amnesty International hat aber regelmässig immer wieder Berichte über Missstände in Westeuropa veröffentlicht, z.B. die berühmten Polizeiübergriffe in Hamburg, aber auch in Frankreich. Die Regierungen sind vor Schreck fast auf den Rücken gefallen, als sie zum ersten Mal so etwas lesen mussten. Mir scheint, im öffentlichen Bewusstsein der westlichen Länder ist es praktisch nicht präsent, dass sich auch bei uns menschenrechtsrelevante Vorfälle abspielen könnnen.

Auch die USA sind ein Heiligtum: Ich war kurz nach dem Start der USA-Kampagne von Amnesty International zur jährlichen Sicherheitspolitischen Tagung des Verteidigungsdepartements VBS eingeladen, die dieses Jahr den Vereinigten Staaten von Amerika gewidmet war. Das Thema "Menschenrechtssituation innerhalb der USA" war schlicht ausserhalb des Bewusstseins der TeilnehmerInnen, während das internationale Verhalten der USA zumindest noch als "kleine Schwierigkeit" bezeichnet wurde.

Michele Galizia: Das gilt nicht nur für die Menschenrechte allgemein, sondern auch ganz konkret zum Beispiel für den Rassismus. Aufgrund von Zeitungsartikeln lässt sich belegen, dass Rassismus und Xenophobie bei uns erst durch die Diskussion um das Antirassismus-Gesetz ins öffentliche Bewusstsein gelangten. Noch 1989 bat Bundesrat Flavio Cotti als damaliger Innenminister: "Bitte reden Sie doch nicht von Fremdenfeindlichkeit im Zusammenhang mit der Schweiz!"

Das Gleiche gilt für Deutschland und Italien: Der Begriff Rassismus wurde bis Ende der 80er Jahre nicht auf das eigene Land angewendet – und wenn, dann höchstens historisch –, sondern galt nur für Südafrika oder die USA.

Wo seht Ihr punkto Menschenrechte die grössten Lücken in der Schweiz? Wo muss am dringendsten etwas verändert werden?

Frauke Seidensticker: Die Schweizer Sektion von Amnesty hat schon vor fünf Jahren ein NGO-Forum initiiert, das regelmässig mit Bundesrat Cotti über Menschenrechtsfragen diskutiert. Unser Dauerthema während dieser Zeit war die Übereinstimmung zwischen den verschiedenen Departementen. Verändert hat sich wenig. Auf der einen Seite besteht punkto Menschenrechte die Inkohärenz zwischen dem Departement des Äusseren und dem Departement für Justiz und Polizei, speziell was den Asylbereich betrifft. Die andere Unstimmigkeit sind die frappanten Widersprüche zwischen Wirtschaftsaussenpolitik und Menschenrechtsaussenpolitik. Nur ein Beispiel: 17 Prozent der schweizerischen Exportrisikogarantie betreffen Geschäfte mit Indonesien und gleichzeitig versucht das EDA jetzt, einen sogenannten Menschenrechtsdialog mit Indonesien zu eröffnen. Da frage ich mich doch, wo es denn interdepartementale Arbeitsgruppen zu diesem Thema gegeben haben soll. Zwar hat Bundesrat Cotti am "Forum Brig" dieses Jahr ehrlicherweise zugegeben, dass eine optimale Übereinstimmung aufgrund der unterschiedlichen und zum Teil gegensätzlichen Bedürfnisse gar nicht möglich sei. Das fand ich einen Fortschritt, weil es ehrlicher ist, als dies immer kaschieren zu wollen. Aber die Dynamik, die hinter diesem Widerspruch steckt, müsste transparent gemacht werden.

Anni Lanz: Ich wünsche mir, dass neben den zwingend vorgeschriebenen Rechten, wie sie beispielsweise in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgehalten sind, endlich auch die heute noch wenig ernst genommenen Empfehlungen z.B. aus dem Sozialpakt beachtet werden. In der Schweiz werden sie heute fälschlicherweise als blosse Richtlinien aufgefasst, die wenig verpflichtend sind. Es geht aber nicht an, es einfach beim Glauben an die freie Marktwirtschaft zu belassen, die schon dafür sorgen wird, dass der Wohlstand in der Schweiz erhalten bleibt. Denn die Artikel des Sozialpakts verpflichten den Staat effektiv zum ausserhalb des marktwirtschatlichen Rahmens. Hier muss in der Schweiz etwas geschehen: im Sozialrecht, bei der Fürsorge, im Arbeitsbereich usw. Auch dürfen Rückschritte auf diesen Gebieten nicht einfach hingenommen werden; der Staat müsste eigentlich zuerst überprüfen, ob er wirklich alle möglichen Gegenmassnahmen ergriffen hat.

Ruedi Tobler: In diesem Zusammenhang ist auch der Bildungsbereich sehr wichtig. Hier ist in den letzten Jahren ein massiver Abbau betrieben worden, was klar gegen den Sozialrechtspakt verstösst, ohne dass dies in der öffentlichen Diskussion wahrgenommen oder thematisiert worden ist.

Michele Galizia: Ich würde von den Strukturen ausgehen und die Frage stellen: Welche Strukturen müssten bestehen, damit die Umsetzung der Menschenrechtskonventionen und Sozialpakte in der Schweiz garantiert wird? Weil Menschenrechte grundlegend immer Schutz vor dem Staat sind, müssen die TrägerInnen der Menschenrechte die Zivilgesellschaft und NGOs sein. In diesem Sinn muss die Menschenrechtsbildung gefördert werden und es muss eine Unterstützung der NGOs geben.

Auf der anderen Seite müssen beim Staat Ansprechspersonen für Fragen der Menschenrechte vorhanden sein, und zwar auch im Bereich der Innenpolitik, nicht nur beim Departement des Äusseren. Weil es im Generalsekretariat des EDI niemanden anderen dafür gibt, gelangen alle mit Fragen zu Menschenrechten an uns, sowohl aussenstehende Personen wie auch DepartementsmitarbeiterInnen.

Wirklich funktionieren können die Menschenrechte erst, wenn sie den einzelnen Menschen schützen. Und der Einzelne wird erst geschützt, wenn eine Anlaufstelle existiert, an die er oder sie sich wenden kann. Eine Ombudsstelle für Menschenrechtsfragen wäre eine Lösung für Konflikte mit dem Staat. Daneben bräuchte es aber auch andere Einrichtungen: z.B. Mediationsstellen oder Anwaltschaftsstellen bei Konflikten mit Dritten. Wegen des schweizerischen Föderalismus würde eine zentrale Einrichtung beim Bund nicht genügen, sondern es müsste eine ganze Kette solcher Stellen auch in den Kantonen und Gemeinden geschaffen werden.

Anni Lanz: Aus meiner praktischen Arbeit weiss ich, dass die Schaffung von Ombudsstellen im Bereich Menschenrechte äusserst wichtig wäre. Konkret: Wohin ich mich mit Fällen aus dem Asylbereich auch wende, ich werde meist abgewimmelt – mit Ausnahme von der Ombudsstelle der Stadt Basel. Gerade wenn es ums AusländerInnenrecht geht, sind der Bund und die Kantone allein massgebend. Deshalb würde ich das, was die Basler Ombudsstelle hier leistet, auch als Menschenrechtsarbeit bezeichnen, obwohl es nie so genannt wird.

Fändet Ihr es denn sinnvoll, wenn analog zur Antirassismus-Kommission auch eine eidgenössische Menschenrechtskommission eingesetzt würde?

Anni Lanz: Ich würde die Schaffung einer Ombudsstelle für Menschenrechte vorziehen.

Michele Galizia: Die Funktion einer Kommission ist es, Öffentlichkeit für ein Thema zu schaffen und – typisch schweizerisch – alle Beteiligten miteinzubeziehen und zur Verantwortung zu mahnen. Wie aber sieht die Realität aus? Die Kommission gegen Rassismus hat ein Jahresbudget von 150 000 Franken und nur ein kleines Sekretariat, viel zu klein für die vielen Aufgaben, die es erfüllen muss; sie ist praktisch nicht in der Lage, auch noch Ombudsaufgaben wahrzunehmen. Um es hart auszudrücken: In der Schweiz besteht die Gefahr, dass immer dort Kommissionen eingesetzt werden, wo man nichts verändern möchte. Persönlich hätte ich lieber eine Stelle für Menschenrechte im EDI oder EJPD, an die ich mich mit Fragen wenden kann. Zusätzlich braucht es auf kantonaler Ebene und in den grossen Gemeinden entsprechende Ombudsstellen.


Die TeilnehmerInnen am Runden Tisch

Frauke Seidensticker ist Generalsekretärin von Amnesty International, Schweizer Sektion.

Anni Lanz ist Mitarbeiterin der BODS (Bewegung für eine offene, demokratische und solidarische Schweiz), Mitinitiantin der Frauenkoalition Post-Beijing und Ausschussmitglied beim "Forum gegen Rassismus".

Michele Galizia ist stellvertretender Leiter des Sekretariats der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus ERK.

Ruedi Tobler ist Ausschussmitglied des "Forums gegen Rassismus" und Präsident des Schweizerischen Friedensrats. Für die VPOD-Verbandskommission Lehrberufe hat er am NGO-Bericht zum UNO-Sozialrechtspakt teilgenommen.

Das Gespräch leitete Toni Bernet, Koordinator des NRO-Rates für UNO-Belange und Sekretär der Arbeitsgemeinschaft für ein Rüstungs- & Waffenausfuhrverbot ARW.


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