Differenzen um die Gleichheit oder Frauenrechte als Menschenrechte

Menschenrechte sind Frauenrechte – Frauenrechte sind Menschenrechte: Das tönt lächerlich selbstverständlich, ist es aber nicht.1 Frauenrechte stellen in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 eine Lücke dar; so wird dort nicht nur von "Brüderlichkeit" gesprochen, sondern auch vom "Schutz der Familie".2 Was aber, wenn die Familie der Ort ist, an dem die Menschenrechte einer Person verletzt werden?

Von Dorothee Wilhelm*

Erst anlässlich der Welt-Menschenrechtskonferenz in Wien 1993 gelang es feministischen Aktivistinnen dank intensiven internationalen Lobbyings, die familiäre Gewalt gegen Frauen international als Menschenrechtsverletzung anerkennen zu lassen und ins öffentliche Bewusstsein zu heben.3 Ein entscheidender Erfolg der Menschenrechtskonferenz in Wien, der zwei Jahre später an der Weltfrauenkonferenz 1995 in Beijing erneut gegen heftigen Widerstand behauptet werden musste, war die Feststellung, dass die Menschenrechte unteilbar und unveräusserlich sind, unabhängig von Kultur, Religion oder anderen kontextuellen Faktoren. Dieser Erfolg kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. So schützen die Menschenrechte in ihrer aufs Individuum ausgerichteten Tendenz – wenigstens indem sie es ermöglichen, Menschenrechtsverletzungen auch so zu nennen – die Einzelnen nämlich gegen jegliche gesellschaftliche Gewalt, also auch gegen ihre eigene gesellschaftliche Gruppe, Religionsgemeinschaft und nicht zuletzt Familie. Würden die Menschenrechte stattdessen für welche Kollektive auch immer gelten, würde die historisch mehr oder minder zufällige und mehr oder minder gewalttätige Form dieser Kollektive quasi sakrosankt, in den Menschenrechten verewigt und für unantastbar erklärt.4 Seit in den letzten Jahren bekannt wurde, in welchem Umfang Frauen und Kinder in der Familie von Männergewalt getroffen werden – es handelt sich ja schon eher um die Regel als um die Ausnahme –, kann wohl als erwiesen gelten, dass gerade die Familie eher des Schutzes vor Übergriffen innerhalb ihrer Struktur als des Schutzes vor "Eingriffen" von aussen bedarf.

Recht auf die Differenz

Die Forderung, Menschenrechte auch als Frauenrechte zu verstehen, zeigt die Linie, auf der Menschenrechte für alle eingeklagt werden, nicht nur für die jeweils Machthabenden, die sich selbst als die Norm von Menschsein setzen und andere daraus ausgrenzen. Der Slogan "Menschenrechte sind Frauenrechte" erhebt den Anspruch aller Menschen, auch der weiblichen Hälfte, auf der Grundlage der Gleichheit aller. Auf dem Feld des Arbeitsrechts konkretisiert sich dieser Slogan z.B. in der Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit, im politischen Bereich war die Einführung des Frauenstimmrechts eine Umsetzung von Menschenrechten als Frauenrechte.

Der Satz "Frauenrechte sind Menschenrechte" steht nicht im Gegensatz dazu, sondern akzentuiert den Massstab der Gleichheit. So bedeutet z.B. Gleichheit im Arbeitsrecht an entscheidenden Punkten Gleichheit zu den Bedingungen einer bestimmten Gruppe, die ihre Bedingungen als Norm setzt: Solange beispielsweise eine Schwangerschaft einen Störfall in einer als "normal" behaupteten Arbeitsbiographie darstellt, ist in dieser "Normalität" diese weibliche Lebensmöglichkeit nicht vorgesehen. Weiblichkeit wird zur Abweichung, die aus dem Rahmen der Gleichheit zu männlichen Bedingungen fällt.

Das Recht auf Differenz, auf besondere Frauenrechte, konkurrenziert also nicht das Recht auf Gleichheit, sondern qualifiziert es: Heimliche "Normalitäten", die eine Gruppe von Menschen mit "Menschen" schlechthin bezeichnen und viele andere ausgrenzen, werden als begrenzt entlarvt. Der universale Anspruch der Menschenrechte wirkt im Sinne der Aufhebung dieser Begrenzungen, für die Rechte der bislang ausgegrenzten Menschengruppen.

So entstand die Forderung nach der Anerkennenung frauenspezifischer Fluchtgründe (vgl. Anni Lanz' Artikel in der FriZ 2/98): Thematisiert an der Menschenrechts-Weltkonferenz in Wien 1993, wurden sie 1995 an der Weltfrauenkonferenz in Beijing gerettet und wieder aufgenommen. Dass frauenspezifische Gründe zur Flucht hervorgehoben und konkretisiert werden, macht sichtbar, dass die bisher (mehr oder minder) international geltenden Gründe, Menschen als Flüchtlinge anzuerkennen, nur einer bestimmten Gruppe Fliehender gerecht werden: EinzelkämpferInnen, die aufgrund ihrer eigenen politischen Aktivität vom Staat verfolgt werden. Diese Konzeption anerkennenswerter Fluchtgründe wird häufig der realen Lebenssituation von Frauen nicht gerecht: Frauen können z.B. einfach "mitgemeint" sein und als Schwester, Tochter, Mutter oder Ehefrau von politisch missliebigen Männern verhaftet oder gefoltert werden. Frauen können durch familiäre oder gesellschaftliche Gewalt gezwungen sein, das Land zu verlassen. Sie sind im Fall bewaffneter Konflikte nicht erst seit dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien von sexualisierter Gewalt durch Männer aller kriegführenden Gruppen betroffen; es spielt für das Ausmass ihrer Bedrohung auch keine Rolle, ob ein bewaffneter Konflikt zwischen Staaten oder unterhalb der staatlichen Ebene stattfindet.

Was heisst "frauenspezifisch"?

Erstens: Frauen sind mehr und anders von Gewalt betroffen als Männer. Diese umfang- und facettenreiche Gewalt ist strukturell verankert, ebenso ist die Angreifbarkeit von Frauen nicht Teil ihrer Natur, sondern sie ist gemacht. Frauen haben weltweit signifikant weniger Zugang zu allen Ressourcen, von Nahrung bis Bildung, und deutlich weniger Zugang zur politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Macht, die es ihnen ermöglichen würde, Einfluss auf die Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse zu nehmen.5 Gewalt gegen Frauen im sogenannten Frieden ist alltäglich und umfangreich. Sie betrifft als häusliche Gewalt zwanzig Prozent der Schweizerinnen (ohne Dunkelziffer).6 Die häusliche Gewalt ist nicht weniger gewalttätig als die öffentliche, sie ist nur leichter unsichtbar zu machen. Feministische Friedenspolitik erlaubt deshalb nicht, die häusliche von der öffentlichen Gewalt zu trennen und nur die öffentliche oder gar von aussen kommende als "Sicherheitsproblem" ernstzunehmen, zu thematisieren und zu bekämpfen – der tatsächliche Gewaltpegel in der Gesellschaft wird dabei um einen wesentlichen Teil verkleinert. Diese Verkleinerung ist unzulässig: Das Private ist das Politische!

Zweitens heisst "frauenspezifisch": Frauen in ihren Lebensverhältnissen sind verschieden, ebenso verschieden sind die Gewaltformen und Unterdrückungsverhältnisse, von denen sie betroffen sind. Frauen sind in ihrer Klassenlage, durch Rassismus, Behindertenfeindlichkeit, als Mädchen oder alte Frau, aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder aufgrund von Migration von Gewalt betroffen und besonders verletzbar. Die Frauenbewegung hat in schmerzhaften Auseinandersetzungen gelernt, sensibel zu sein für Machtgefällen zwischen Frauen und Ausgrenzungen "unsichtbar gemachter" Frauen. Dem trägt auch das Schlussdokument der Weltfrauenkonferenz Rechnung. In der "Erklärung von Beijing" heisst es dazu: "Wir sind entschlossen, verstärkte Anstrengungen zu unternehmen, um sicherzustellen, dass alle Frauen und Mädchen, die sich aufgrund von Faktoren wie Rasse, Alter, Sprache, ethnische Herkunft, Kultur, Religion und Behinderung oder aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur autochthonen Bevölkerung in mehrfacher Hinsicht Hindernissen gegenübersehen, was ihre Machtgleichstellung und Förderung betrifft, alle Menschenrechte und Grundfreiheiten gleichberechtigt wahrnehmen können."7

Immer neue Menschengruppen melden ihren Anspruch an, auf ihre Weise in den Menschenrechten vorzukommen. Dieser Prozess ist tendenziell unabschliessbar.

1 Vgl. im folgenden passim: Christa Wichterich: Frauenrechtspolitik im internationalen Menschenrechtsdiskurs. In: Widerspruch 35: Menschenrechte. S. 57-64.
2 So heisst es in Artikel 12: "Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, sein Heim (...) ausgesetzt werden."
3 Vgl. Wichterich: ebd. S. 58.
4 Vgl. für diesen Gedankengang Alex Sutter: Keine kollektiven Menschenrechte! In: Widerspruch 35: Menschenrechte. S. 35-46. Passim.
5 Vgl. dazu die internationalen Belege in der Dokumentation darüber, welche Beschlüsse der Weltfrauenkonferenz von den unterzeichnenden Staaten inzwischen tatsächlich umgesetzt wurden in: WEDO, Women's Environment and Development Organisation (Ed.): Mapping Progress. Assessing Implementation of the Beijing Platform. USA/NY 1998.
6 Vgl. die Kampagne "Halt Gewalt gegen Frauen in Ehe und Partnerschaft", initiiert von der Konferenz der Schweizer Gleichstellungsbüros 1998.
7 Bericht der Vierten Weltfrauenkonferenz (Beijing 4.–15. September 1995). Erklärung von Beijing, Punkt 32.
*Dorothee Wilhelm ist Mitarbeiterin der cfd-Frauenstelle für Friedensarbeit

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