Nationalstaat und Menschenrechte: ein Widerspruch?

Gewöhnlich geht man davon aus, dass Demokratie und Menschenrechte unlösbar aneinander geknüpft seien, und zwar in einem doppelten Sinn: Zum einen ist der demokratische Verfassungsstaat die Bedingung dafür, dass die Menschenrechte institutionell verankert werden können; zum andern ist die Teilnahme aller Staatsbürgerinnen an politischen Prozessen selbst ein klassisches Menschenrecht.

Von Alex Sutter *

Trotz der engen Verbindung von Demokratie und Menschenrechten gibt es immer wieder demokratische Entscheidungen, die mit bestimmten Menschenrechten nicht zu vereinbaren sind. Der Mehrheitswille ist zu allem fähig. Dies zeigt die geschichtliche Erfahrung zur Genüge; man denke etwa an die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 in Deutschland. Der menschenrechtliche Unterbau der Demokratie muss in Ex-tremsituationen gegen die Mehrheitsmeinung verteidigt werden. Auch in der Demokratie gibt es ein Recht auf Widerstand.

Struktureller Widerspruch

Noch ist die Erinnerung an die Einführung der "Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht" nicht ins kollektive Vergessen abgesunken. Obwohl diese Vorlage von kompetenter Seite wegen menschenrechtlicher Bedenken abgelehnt wurde, hat das schweizerische Stimmvolk die Gesetzesvorlage bekanntlich klar angenommen. Ob in der Schweiz oder in Kalifornien: Es ist kein Zufall, dass die aus menschenrechtlicher Sicht problematischen oder nicht akzeptablen Gesetzesvorlagen oft im Ausländer- oder Asylrecht angesiedelt sind. Denn in diesem Bereich zeigt sich ein struktureller Widerspruch der real existierenden demokratischen Staaten, ein Widerspruch zwischen der menschenrechtlich geprägten Verfassung einerseits und der nationalstaatlichen Ausgrenzungspolitik andererseits.

Moderne Demokratien sind "Nationalstaaten", das heisst Staaten, die sich über ein zusammenhängendes Territorium und eine dazugehörige Bevölkerung definieren. Letztere bildet als klar abgegrenztes Staatsvolk den Souverän. Das Staatsvolk ist allerdings nicht mit der zu einem gegebenen Zeitpunkt innerhalb des staatlichen Territoriums lebenden Bevölkerung identisch. Die tatsächliche Bevölkerung ist mobil; sie hält sich nicht an die Staatsgrenzen. Die Gesetze über die Staatsbürgerschaft regeln, wer zum politischen Souverän gehört und wer davon ausgeschlossen bleibt. Das heisst also: Jeder moderne Staat beruht auf der Zweiteilung der Menschheit in Staatsangehörige und AusländerInnen. Die rechtliche Privilegierung der Mitglieder gegenüber den Nichtmitgliedern kann mehr oder weniger krass gestaltet sein; ganz aufgehoben werden kann sie jedoch nicht, da es keine staatliche Identität ohne Diskriminierung der Nicht-Dazugehörigen gibt. Diese strukturelle rechtliche Benachteiligung widerspricht dem in den Menschenrechten verankerten Grundpostulat der Nicht-Diskriminierung aufgrund zufälliger Gruppenzugehörigkeiten wie der nationalen Her kunft.

Die "Nation" besteht in einem nüchternen Sinne aus der Summe aller gesetzlich anerkannten StaatsbürgerInnen. Doch bei dieser Nüchternheit ist es nie geblieben. Die Nation wurde zugleich zum emotional aufgeladenen Objekt der Identifikation. Die Nation als imaginäre Gemeinschaft ist mehr als nur eine Fata Morgana; sie wurde im Rahmen gezielter Vorkehrungen Schritt für Schritt hergestellt. Der moderne Staat schuf sich seine Nation sowohl bürokratisch durch die Festlegung der Kriterien der Staatszugehörigkeit als auch ideologisch durch die gezielte Einpflanzung der Mythen nationaler Identität in die Seelen der StaatsbürgerInnen. Eine Politik der kulturellen Vereinheitlichung durch die Bildungsinstitutionen hat die Nationalisierung des gesellschaftlichen Bewusstseins vorangetrieben. Die Ausgrenzung der AusländerInnen jenseits und diesseits der Grenze war zugleich Mittel und Effekt dieses kollektiven Prozesses, der darin mündet, dass die Nationalität zu einem quasi natürlichen Bezugspunkt des Alltagsbewusstseins geworden ist.

Willensnation: Wessen Wille?

In allen modernen Rechtsstaaten ist die politische Nation (im Sinne des Stimm- und Wahlvolks) in den Nebel der Abstammungs- und Kulturmythen eingehüllt, wenn auch mit unterschiedlicher Akzentuierung. Selbst im schweizerischen Bundesstaat, dessen sprachlich heterogene Bevölkerung die Lehre von der homogenen Abstammungs- und Kulturgemeinschaft Lügen straft, wurde das Konzept der politischen Willensnation so ausgelegt, als handle es sich um eine Ethnie zweiten Grades, um eine Abstammungsgemeinschaft, welche – nebst anderen Privilegien – die echte Demokratie für sich gepachtet hat. Nach dieser vorherrschenden Auslegung ist die Zugehörigkeit zur schweizerischen Nation ein angeborenes Privileg. Die Eintrittshürden der Einbürgerung sind vermutlich so unsinnig hoch angesetzt, damit der kollektiven Narzissmus der Selbstgerechten auf seine Rechnung kommt.

Es wäre falsch, die strukturell widersprüchlichen Fundamente des Nationalstaates mit dem Heiligenschein einer Zwangsläufigkeit auszustatten. Es gibt durchaus einen politischen Spielraum zur Umdeutung und Neugestaltung, was die Definition und den Stellenwert der Staatsbürgerschaft angeht. In der Theorie gibt es heute ausreichend normative Entwürfe, welche die politischen Funktionen der Staatsbürgerschaft vom Kriterium der Nationalität ablösen und auf regionaler und/oder transnationaler Ebene neu verankern möchten. Die Gleichsetzung von Staatsbürgerschaft und Nationalität muss aufgebrochen werden. In der Folge der Migrationen und der supranationalen Zusammenschlüsse entsteht allmählich ein politischer Druck zur Entkoppelung von Nationalität auf der einen Seite und dem Status als politischeR BürgerIn auf der anderen Seite. Die Zulassung von doppelter oder mehrfacher Staatsangehörigkeit ist nur ein erster Schritt in diese Richtung. Allerdings zeigt die schweizerische Abstimmungspraxis gerade auch in der Frage der politischen Rechte für AusländerInnen zur Genüge, wie der demokratische Mechanismus einer menschenrechtlich nicht nur legitimen, sondern akuten Forderung entgegenarbeiten kann.

Staatsbürgerschaft wird im heutigen westeuropäischen Kontext ein Mittel, um aussereuropäische MigrantInnen von menschenrechtlichen Ansprüchen auszuschliessen. Sie wird zur Absicherung von Standortvorteilen eingesetzt und widerspricht damit dem Nichtsdiskriminierungspostulat ebenso wie Ausschliessungspraktiken, die zum Beispiel auf re ligiöse oder geschlechtliche Kriterien zurückgreifen. Staatsbürgerschaft ist heute eines der wichtigsten Instrumente, um weltweite Ausbeutungs-, Diskriminierungs- und Unterdrückungsverhältnisse aufrechtzuerhalten.

Kette Staatsbürgerschaft

Blenden wir kurz zurück: Unter der europäischen Kolonialherrschaft hatten die einheimischen Bevölkerungen in der Regel als Menschen zweiter Klasse keinen Zugang zur Staatsbürgerschaft der jeweiligen "Mutterländer", – womit eben auch ihr Anspruch auf Menschenrechtsschutz völlig der Willkür ihrer Kolonialherren überantwortet war, – vergleichbar der von Hannah Arendt beschriebenen Situation der "staatenlosen" Kriegsflüchtlinge im Zweiten Weltkrieg. Mit der Unabhängigkeit erlangten die vormals Kolonisierten zwar eine Staatsbürgerschaft. Doch diese bedeutet im Kontext des gegenwärtigen Weltsystems mit seinen für die Besitzlosen drastischen Aus- und Einreisebeschränkungen nichts anderes als eine Kette, die sie an ein Land bindet, in dem es ein Glücksfall ist, wenn sie ihre Arbeitskraft inklusive ihrer Gesundheit gegen erbärmliche Überlebensbedingungen verkaufen können. Staatsbürgerschaft heute sanktioniert die von der Geschichte der Kapitalakkumulation zugewiesenen Sonn- und Schattenplätze und damit eine ungerechte Weltordnung, die den Menschenrechten Hohn spricht.

Dass es nicht leicht ist, die Kritik am Konzept der Staatsbürgerschaft in richtungsweisende Vorschläge für praktikable Neugestaltungen umzumünzen, versteht sich von selbst. Im Gegenzug werden zum Stichwort "offene Grenzen" schnell einmal wilde Überflutungsszenarien imaginiert, welche den Zweck haben, solche Kritik zum Schweigen zu bringen.

Doch in der heutigen Situation sind beispielsweise verstärkte Bemühungen um eine Lockerung der Einbürgerungsbestimmungen in der Schweiz dringender denn je. Dazu müssten neue Impulse in die Diskussion eingebracht werden. Allgemein geht es darum, der fremdenfeindlichen Vereinnahmung unserer demokratischen Strukturen endlich wieder eine eigenständige Strategie entgegenzusetzen. Doch dies bleibt so lange ein frommer Wunsch, als weit und breit keine etablierten politischen Kräfte in Sicht sind, die bereit wären, in diesem Felde eine – zugegeben gewagte – Offensive zu beginnen.

* Alex Sutter ist Philosoph und betreibt in Bern ein "Büro für interkulturelle Bildung". Ausserdem ist er Mitglied im Ausschuss der "Akademie für Menschenrechte".

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