Die Menschenrechtskonventionen in der Schweiz: Widersprüche und Nachholbedarf

Das IKRK und die Förderung des humanitären Völkerrechts trugen wesentlich zum Bild einer humanitären Schweiz bei. Dem gegenüber ratifizierte die Schweiz erst 1992 die Menschenrechtspakte der UNO – über 25 Jahre nach deren Fertigstellung.

Von Daniel Béguin*

Wird auf die humanitäre Tradition der Schweiz verwiesen, fällt im gleichen Atemzug oft das Stichwort IKRK. Mit der Gründung des IKRK wurde 1864 eine Bewegung ins Leben gerufen, deren Hilfstätigkeiten bei Konflikten und Katastrophen heute nicht mehr wegzudenken sind. Ausgehend von einer privaten Initiative Dunants entwickelte sich die Rotkreuzbewegung rasch zu einer internationalen Hilfsorganisation. Neben diesen bekannten Tätigkeiten leistete das IKRK zusammen mit dem Bund gewichtige Beiträge zur Entwicklung und Anwendung des humanitären Völkerrechts. Die ersten Abkommen zum Schutz der Kriegsopfer wurden im ausgehenden 19. Jahrhundert vom IKRK und der Schweiz angeregt und ausgearbeitet. Wichtigste Resultate der kontinuierlichen Arbeit waren 1949 die vier Genfer Abkommen und deren Zusatzprotokolle von 1977. Die Abkommen halten grundlegende Rechte der Gefangenen, Verwundeten und Zivilpersonen fest und regeln die Funktion und Rechte des IKRK.

Für diesen Bereich des internationalen Menschenrechtsschutzes kann durchaus von einer Pionierrolle der Schweiz und einer humanitären Tradition gesprochen werden. Diese Rolle der Schweiz stand aber lange Zeit im krassen Gegensatz zur reservierten Haltung gegenüber multilateralen Bestrebungen, einen Menschenrechtsschutz in Friedenszeiten zur Geltung zu bringen.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

Das vorrangige Ziel der 1945 gegründeten UNO war die Verhinderung gewaltsamer Änderungen des Status quo. Der solchermassen definierte Weltfrieden sollte mit einem System der kollektiven Sicherheit gesichert oder – wenn nötig – wieder hergestellt werden. Die Gründungsakte der UNO, die Charta, sieht vor, dass auch bei massiven Menschenrechtsverletzungen wirtschaftliche Zwangsmassnahmen oder gemeinsame militärische Interventionen möglich sind.

Die Friedenskonzeption der Charta zeichnet sich nicht bloss durch die Abwesenheit von Krieg aus: Durch die Förderung und Verwirklichung der Menschenrechte sollte der Frieden auch aktiv gefestigt werden. In einem ersten Schritt konkretisierte die UNO 1948 die zu schützenden Menschenrechte in einem internationalen Instrument: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte beinhaltet einen umfassenden Katalog von Rechten, der für die unterzeichnenden Staaten jedoch bloss empfehlenden Charakter hat. Zu seiner grossen Bedeutung kam dieses Instrument aber durch die breite Zustimmung, die es von den Staaten erhielt, und durch den Umstand, dass es die künftige menschenrechtliche Arbeit der UNO vorzeichnete.

Erst die Ratifikation von Konventionen verpflichtet die Staaten zum Schutz von Menschenrechten in ihrem Herrschaftsgebiet. Zu den wichtigsten zählen: Die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords (1948), die Konvention über die politischen Rechte der Frau (1953), die Konvention gegen die Rassendiskriminierung (1965), die Konvention gegen die Diskriminierung der Frauen (1979) und die Kinderrechtskonvention (1989). Mit der Annahme der beiden Menschenrechtspakte konnte 1966 der Katalog der Allgemeinen Erklärung in verbindliche Instrumente umgesetzt werden. Daneben verabschiedeten die Sonderorganisationen der UNO Verträge in speziellen Bereichen, wie die UNESCO 1960 mit einer Konvention gegen die Diskriminierung im Unterrichtswesen oder die internationale Arbeitsorganisation ILO mit diversen Instrumenten zum Schutz der ArbeitnehmerInnen.

Parallel dazu arbeiteten auf regionaler Ebene ebenfalls multilaterale Organisationen am Ausbau des vertraglichen Schutzes der Menschenrechte. Bereits 1950 verabschiedete der Europarat mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) einen verbindlichen Grundrechtskatalog. Kontinuierlich wurde dieses Instrument mit Zusatzprotokollen ergänzt. So hielt das erste Zusatzprotokoll 1952 das Recht auf Bildung und die Eigentumsgarantie fest, das sechste Zusatzprotokoll von 1983 verbot die Todesstrafe.

– und die Schweiz?

Die Wahrnehmung dieser Entwicklungen auf regionaler und internationaler Ebene wurde in der Schweiz massgeblich durch ihre Haltung gegenüber den neuen multilateralen Organisationen bestimmt. In der Diskussion des Bundesrates um den UNO-Beitritt standen nicht die Mitwirkungsmöglichkeiten im Vordergrund, sondern die Probleme, die sich mit einer eng ausgelegten Neutralität ergeben könnten. Gegen innen und aussen half die Rekonstruktion des Sonderfallverständnisses die enge Auslegung der Neutralität zu legitimieren. Ein Beitritt zur UNO – der im Gegensatz zum Völkerbund, die Schweiz zur Beteiligung bei kollektiven Sanktionen verpflichtet hätte – erschien unter diesen Umständen unmöglich. Damit wurde nicht nur die Möglichkeit einer breiten Beitrittsdebatte verpasst; die fehlende Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit über einen UNO-Beitritt wirkte sich auch negativ auf die Wahrnehmung und Sensibilisierung breiter Bevölkerungsteile für die menschenrechtliche Arbeit dieser Organisation aus.

Das Fernbleiben von der Hauptorganisation sollte mit der Mitarbeit bei der "technischen" UNO, den Sonderorganisationen, kompensiert werden. Sowohl im Rahmen der ILO, als auch bei der Ausarbeitung der UNESCO-Konvention gegen Diskriminierung im Unterrichtswesen beteiligte sich die Schweiz an der Ausarbeitung von Menschenrechtsinstrumenten. Bei letzterer ging die aktive Mitarbeit aber nicht von einer initiativen Bundesbehörde aus; das Engagement bei der Ausarbeitung der Konvention erwirkten Frauenrechtsorganisationen, die sich gegen die geschlechterspezifische Trennung im Unterrichtswesen einsetzten. Zu einer Ratifikation dieser Konvention durch die Schweiz kam es jedoch nicht. Auch trat sie im Rahmen der ILO nicht mehr als Förderin des internationalen ArbeiterInnenschutzes auf – einen Namen, den sie sich im ausgehenden 19. Jahrhundert und in der Zwischenkriegszeit geschaffen hatte. Das Bild einer in Menschenrechtsfragen zurückhaltenden Schweiz zeigt sich auch bei der Ratifikation der wichtigen Konventionen der UNO. Bis spät in die 1980er Jahre wurde keines der "grossen" Menschenrechtsinstrumente ratifiziert. Ausnahmen bildeten die in den 1950er Jahren ratifizierten Konventionen zur Abschaffung der Sklaverei, zur Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Staatenlosen. Die Schweiz setzte bei ihrer Menschenrechtspolitik bis in die 1970er Jahre weitgehend auf den bilateralen Weg und intervenierte bei Menschenrechtsverletzungen mit diplomatischen Demarchen.

Aussenpolitik bedingt Menschenrechtspolitik

Dem Trend zum Multilateralismus in der Nachkriegszeit konnte sich die Schweiz aber nicht entziehen. Gegen Ende der 1950er Jahre begann sich die Schweiz verstärkt an europäischen und internationalen Verhandlungforen zu beteiligen. Diese Neuorientierung an multilateralen Organisationen bedeutete faktisch eine verstärkte Integration ohne Partizipation. Der Öffentlichkeit blieb dieser Wandel bis in die 1960er Jahre verborgen, weil von behördlicher Seite her weiterhin das Bild des "Sonderfalls" Schweiz kommuniziert wurde. Erst ab Mitte der 1960er Jahre wurde dieser Widerspruch zunächst in intellektuellen Kreisen und im Parlament thematisiert. Die Forderung nach einer aktiven Aussenpolitik nahmen die Protestbewegungen Ende der 1960er Jahre auf und verknüpften sie mit ethischen Werten: Neben Entwicklungshilfe und Rüstungskontrolle wurden konkrete menschenrechtliche Forderungen wie der Kampf gegen die Apartheid oder die politischen Frauenrechte aufgenommen. Beim letzten Beispiel zeigte sich, wie die internationale oder regionale Verankerung eines Menschenrechts als Argument für innenpolitische Forderungen verwendet werden kann: Unter Verweis auf die EMRK forderte die Frauenrechtsbewegung ab 1968 das Frauenstimmrecht als völkerrechtlich anerkanntes Menschenrecht ein.

Breiteren Bevölkerungsteilen wurde erst jetzt bewusst, welchen Nachholbedarf die Schweiz bei der Ratifikation von regionalen und internationalen Übereinkommen hatte. So konnte die Schweiz die EMRK erst 1974 ratifizieren, nachdem das Frauenstimmrecht 1971 angenommen und die konfessionellen Ausnahmeartikel 1973 aufgehoben wurden.

Mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki, wurde 1975 ein Prozess eingeleitet, der die Achtung der Menschenrechte untrennbar mit der angestrebten Entspannung zwischen Ost und West verknüpfte. An diesem beteiligte sich die Schweiz aktiv als Mitglied der Neutralen und Nichtgebundenen Staatengruppe. Neben ihrer Rolle als Vermittlerin zwischen den beiden Blöcken, machte sie sich in diesem Verhandlungsforum für die Durchsetzung grundlegender Menschenrechte stark. Dieses Auftreten der Schweiz auf dem internationalen Parkett stand aber im Widerspruch zur bisherigen Haltung gegenüber Menschenrechtsfragen: Ein glaubwürdiges Eintreten für die Menschenrechte war für den Kleinstaat, der keine der wichtigen internationalen Verträge ratifiziert hatte, schwierig geworden.

Dieser Umstand muss dazu beigetragen haben, dass der Bundesrat 1982 erstmals eine schweizerische Menschenrechtspolitik umriss. Die aktive Beteiligung der Schweiz an der Erhaltung und Förderung der Menschenrechte wurden nun zum Bestandteil der künftigen Aussenpolitik erklärt. Erste konkrete Umsetzung, dieser nun von bundesrätlicher Seite vertretenen Maxime, war die Schaffung eines Menschenrechtsbüros im EDA und die aktive Beteiligung ab 1987 an den Sitzungen der Menschenrechtskommission der UNO. Im selben Jahr unterzeichnete die Schweiz die UNO-Konvention gegen die Diskriminierung der Frau und ratifizierte einige Zusatzprotokolle zur EMRK. 1992 folgte endlich die Ratifikation der beiden Menschenrechtspakte und erst seit 1995 erfüllt die Schweiz, mit dem Inkrafttreten der Strafnorm gegen Rassendiskriminierung, die gleichlautende Konvention der UNO – eine Konvention, die in der Schweiz allerdings von rechter Seite her weiterhin in Frage gestellt wird.

*Daniel Béguin ist Historiker an der Universität Bern


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