Mitten in Pristina, in einem Quartier, wo Albaner und Serben Haus an Haus wohnen, finden wir den Bungalow, in dem sich die Nansengruppe eingemietet hat. Arjeta, die uns willkommen heisst, kenne ich vom letztjährigen Seminar "Frieden von unten" im Kinderdorf Pestalozzi in Trogen, in dessen Trägerkreis auch der Schweizerische Friedensrat mitgewirkt hat. Sie arbeitete damals und bis diesen Herbst im Büro des Rates zur Verteidigung der Menschenrechte in Pristina und schrieb die wöchentlichen Rapporte über die Menschenrechtsverletzungen im Kosov@, die weltweit verschickt werden. Sie wurde dadurch tagtäglich konfrontiert mit scheusslichen Berichten und Bildern von Folterungen und Morden. Als wir damals die Zukunft des Kosov@ diskutierten (der Krieg war noch nicht ausgebrochen), überraschte sie uns mit der eher ungewöhnlichen Aussage, dass für sie andere Lösungen des Konflikts anzustreben sind als die illusorische Forderung nach voller Unabhängigkeit, die nur mit Gewalt zu erreichen wäre. Inzwischen hat sie zusammen mit andern Kosov@-Albanerinnen und mit Serbinnen eine Gruppe gegründet, die ein Dialogprogramm realisieren will, eben die Nansengruppe. "Wenn wir zusammenleben sollen, müssen wir auch zusammen reden".
Wir treffen noch einige andere junge Frauen an. Flurina, eine Albanerin, die im Kontakt mit den Nachbarskindern auch fliessend serbisch und türkisch sprechen gelernt hat, leidet darunter, dass jetzt durch den Krieg viele dieser Kontakte abgebrochen sind. Mit ihrer serbischen Freundin Jasmina z.B., mit der sie während der ganzen Schul- und Studentinnenzeit alles besprechen konnte, hat sie sich seit Ausbruch des Krieges zu keinem Kaffee mehr getroffen. Snezanja, eine Serbin und Mitbegründerin der Nansengruppe, ist auch da; sie hat keine Berührungsängste, obwohl sie damals noch für das Kulturministerium arbeitete. Wie ist es nur möglich, dass mitten im Krieg diese Gruppe von Frauen sich so gut versteht?Der Anstoss zur Gründung der Nansengruppe kam durch die Teilnahme an einem Training in "Demokratie, Menschenrechten und gewaltfreier Konfliktbearbeitung" an der Nansen-Akademie in Lillehammer/Norwegen. Der Norweger Fridtjof Nansen, bekannt als Nordpolforscher, war zur Zeit des Völkerbundes unermüdlicher Kämpfer für eine internationale humanitäre Aktion zur Rettung der Hungernden in der Sowjetunion und für den Austausch der Kriegsgefangenen (Nansenpass). Noch in Lillehammer beschlossen die albanischen und serbischen TeilnehmerInnen aus Pristina, ein ähnliches Projekt im Kosov@ zu starten. Im Herbst 1997 begannen sie mit einer Serie von einwöchigen Dialogseminarien in Montenegro, je mit 10 SerbInnen und 10 AlbanerInnen. Das Besondere an dieser Initiative ist, dass der angestrebte "Brückenbau" zwischen den beiden Volksgruppen schon in der Organisation selber Tatsache ist, was die Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit erhöht.
Das wichtigste Element in dieser Seminararbeit ist die Förderung der Empathie für die je andere Bevölkerungsgruppe. Es wird mit Rollenspielen gearbeitet, in denen die SerbInnen in die Haut von AlbanerInnen schlüpfen und umgekehrt, um Not, Gefühle und Bedürftigkeit der andern nachzuempfinden, zu begreifen, sich dadurch anzunähern und gemeinsame Lösungsvorschläge und Handlungsansätze zu entwickeln. Debattieren, so sagen mir die Frauen, führe nur zu noch grösserer Distanz. Der Dialog wird als befreiend erlebt. Für alle 60 TeilnehmerInnen an den ersten drei Seminarien fand im Juni 98 ein gemeinsames Follow-up-Seminar statt mit dem Titel "Think about Kosov@".
In den nächsten 12 Monaten sollen drei weitere Seminare zur gewaltfreien Konfliktbearbeitung mit je 10 neuen Kosov@-AlbanerInnen und SerbInnen in Montenegro oder in Mazedonien stattfinden, wiederum ergänzt mit einem Follow-up Seminar für alle TeilnehmerInnen sowie ein runder Tisch zur Zukunft des Kosov@. Weitere Angebote sind ein allwöchentliches informelles Treffen der bisherigen TeilnehmerInnen und kulturelle Veranstaltungen. Der Traum der Nansen-Gruppe ist es, bald einen gemischten Kindergarten eröffnen zu können und ein Internet-Café einzurichten, wo sich albanische und serbische SurferInnen treffen können. In der Gründungsurkunde der Nansengruppe steht: "Eines steht fest: Der Dialog zwischen AlbanerInnen und SerbInnen ist eine Notwendigkeit und eine dringende Handlung. Er stellt den zuverlässigsten Weg zu Frieden und Zusammenarbeit dar." Was die Staatengemeinschaft von aussen bis jetzt vergeblich zu erreichen versucht, nämlich Dialogbereitschaft, setzen die jungen AlbanerInnen und SerbInnen der Nansengruppe in die Tat um. Sie legen einen Grundstein für ein friedliches Zusammenleben der beiden Bevölkerungsgruppen, für ihre einzig mögliche Zukunft.
*Arne Engeli ist Heks-Programmbeauftragter für Bosnien, Kroatien, Serbien und Mazedonien. Zurzeit ister wieder zu Besuch in Pristina.Inhaltsübersicht | nächster Artikel |