Eine Gruppe von Menschen beugt sich über die Erde, einer gräbt das rote Erdreich um. Endlich trifft der Spaten auf etwas Hartes. "Sie war mutig, Himmel, war sie mutig", sagt der Täter, ein Sicherheitspolizist, der die Gruppe hergeführt hat. "Sie wollte einfach nicht reden." Der Schädel hat ein Einschussloch, genau in der Mitte des Kopfes. Um das Becken ist ein blauer Plastiksack geknotet. "Oh ja", erinnert sich der Polizist, "wir hielten sie nackt, und nach zehn Tagen machte sie sich diese Unterwäsche."
Südafrika hat seine Vergangenheit ausgegraben. Sogar Exhumierungen musste die Wahrheits- und Versöhnungskommission durchführen. Im Laufe ihrer Ermittlungen stiess sie auf "Todesfarmen", auf denen die ehemalige Sicherheitspolizei ihre GegnerInnen getötet und heimlich begraben hatte. Rund 300 solcher Gräber hat die Kommission identifiziert, darunter auch jenes von Phila Portia Ndwandwe. Sie war Mitglied des bewaffneten Arms der Befreiungsbewegung Afrikanischer Nationalkongress (ANC) und Mutter eines zehnmonatigen Jungen, als sie 1988 in Swazi land von südafrikanischen Sicherheitspolizisten entführt und später erschossen wurde. Denn sie war nicht bereit, eine Aussage zu machen und für die Polizei zu arbeiten. Sie wurde, wie all die anderen, heimlich begraben. Damit sie nicht zur Märtyrerin des Widerstands werden konnte.
Im April 1997 hielt die Wahrheits- und Versöhnungskommission ihre erste Anhörung von Überlebenden und ihren Angehörigen ab. Bewusst sollten zuerst die Opfer im Vordergrund stehen und die Mög lichkeit haben, in aller Öffentlichkeit über das Erlittene zu berichten, vor einem offiziellen Gremium, das vom Präsidenten ihres Landes eingesetzt worden war. 90 solcher Anhörungen haben stattgefunden, rund 2000 erzählten ihre Geschichte öffentlich, mehr als 21 000 reichten eine schriftliche Aussage ein. Es sind Geschichten von tiefster Erniedrigung und Demütigung, von Einzelhaft, Folter, Mord und dem Verschwinden von Familienmitgliedern.
Auch die andere Seite sagte aus, weniger freiwillig zwar, sondern aus Angst vor einem drohenden Strafverfahren. Falls die TäterInnen politisch motivierter Verbrechen ein volles Geständnis ablegen, kann ihnen die Kommission Straffreiheit gewähren. Die umstrittene Amnestieklausel ist die Folge des politischen Kompromisses zwischen der alten und der neuen Regierung. Ein Kompromiss, denn der friedliche Übergang kam auf dem Verhandlungsweg zustande. Es gab weder SiegerInnen noch Besiegte.
7060 Amnestiegesuche wurden eingereicht, 150 Täter erhielten bislang Straffreiheit, 2000 Anträge muss das Amnestiekomitee in den nächsten Monaten noch anhören. Die Mehrheit der Gesuche stammt von Mitgliedern der ehemaligen Befreiungsbewegungen, aber auch eine Reihe von ehemaligen Sicherheitspolizisten und Mitglieder rechtsextremer Gruppierungen haben sich für die Amnestie entschieden. Die Angehörigen der früheren Armee und der Regierung hingegen zogen es bis zuletzt vor, abzuwarten.
Doch die Kommission hat nicht nur öffentliche Anhörungen abgehalten, sie hat auch etliche Personen unter Strafandrohung zum Verhör hinter verschlossenen Türen eingeladen. In ihrem 3500seitigen Schlussbericht, der Ende Oktober veröffentlicht wurde, erwähnt sie all jene, die sie beschuldigt, schwere Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben oder die politische Verantwortung für solche Taten zu tragen. Und sie fordert, dass gegen die Schuldigen, die nicht um Amnestie ersucht haben, Strafverfahren eröffnet werden. Dazu gehören illustre Persönlichkeiten wie der ehemalige Präsident Pieter Willem Botha, der ehemalige Verteidigungsminister Magnus Malan, der Führer der Inkatha Freiheitspartei und heutige Innenminister Mangosuthu Buthelezi, aber auch Winnie Madikizela-Mandela, die Ex-Frau des heutigen Präsidenten, sowie der ANC-General, unter dessen Leitung in den ANC-Lagern in Angola gefoltert und getötet wurde.
Eine wichtige Person fehlt in der Aufzählung: ex-Präsident, Frederik Willem de Klerk. Die Passagen über ihn sind im Bericht schwarz eingefärbt, er hatte dies in letzter Minute mittels superprovisorischer Verfügung erreicht. Seine Rolle während der Apartheid wird aber dennoch öffentlich diskutiert werden: Im kommenden März findet eine Gerichtsverhandlung statt, an der sowohl De Klerk als auch die Kommission ihre Standpunkte darlegen werden.
Vor dem Amnestiekomitee erklären die SicherheitspolizistInnen, bloss Befehle ausgeführt zu haben, ihre Vorgesetzten weisen die Schuld der Politik der damaligen Regierung zu und die politisch Verantwortlichen, allen voran die ehemaligen Präsidenten Botha und De Klerk dementieren nach wie vor, von den Exzessen ihrer Sicherheitskräfte gewusst, geschweige denn sie angeordnet zu haben.
Doch die Flut von Fakten, die die Kommission zusammengetragen hat, spricht eine andere Sprache. "Ohne Amnestie wäre das ganze Ausmass des schmutzigen Krieges nie bekannt geworden", betont Dumisa Ntsebeza, Leiter der Untersuchungseinheit der Kommission. So erfuhren Phila Ndwandwes Eltern endlich, was ihrer verschwundenen Tochter widerfahren war und konnten ihre sterblichen Überreste in einer feierlichen Zeremonie beerdigen.
Die Kommission geht davon aus, dass die Wahrheit bereits ein erster Schritt zur Versöhnung sei: "Immer wieder", erzählt Alex Boraine, der Vize-Vorsitzende der Kommission, "haben uns Zeuginnen und Zeugen gesagt: Wir sind nicht so sehr daran interessiert, die Täter zu bestrafen. Aber wir wollen wissen, was passiert ist, wer unsere Kinder, Frauen und Männer getötet hat. Dann können wir vielleicht die Vergangenheit endlich hinter uns lassen."
Hätte man statt des Amnestieverfahrens die Täter von Anfang an strafrechtlich verfolgt, hätte das nicht nur viel zu lange gedauert, es wäre in den meisten Fällen auch zu keiner Verurteilung gekommen. Denn die Beweislage war schlecht, solange die Täter in der Hoffnung auf Straffreiheit nicht auspackten. Ihre Befehle erhielten sie nicht schriftlich, und die Schreddermaschinen der ehemaligen Regierung liefen bis zur Machtübergabe Tag und Nacht. Zudem ergab sich was manche heute vergessen zu haben scheinen aus der Art, wie es in Südafrika zum Machtwechsel kam, gar keine andere Möglichkeit als die Amnestie: "Für Südafrika ging es nicht um die Wahl zwischen Strafverfolgung und Amnestie, sondern um die Wahl zwischen gar nichts und Amnestie", betont der südafrikanische Verfassungsrichter Richard Goldstone.
Doch der Kompromiss bleibt eine bittere Angelegenheit. Um so mehr, als die Kommission zwar über die Gewährung von Amnestie entscheiden, für die Entschädigung der Opfer jedoch nur Vorschläge einreichen kann. Über Art und Höhe der Entschädigung wird das Parlament bestimmen. Aber das ist noch immer nicht geschehen.
Bezüglich der Entschädigungsfrage hat die Kommission versagt, was sie auch selbst eingesteht. Zu lange hatte sie die Angelegenheit vor sich hin geschoben, erst vor einem Jahr reichte sie ihre Vorschläge ein: Jährliche Zahlungen an die Opfer und ihre Angehörigen während sechs Jahren, symbolische Wiedergutmachung in Form von Museen, Monumenten und Gedenktagen, sowie verschiedene Rehabilitierungsprogramme. Kostenpunkt: Rund eine Milliarde Schweizer Franken.
Die Entschädigung der Opfer ist das Gegengewicht zur Amnestie für die TäterInnen. Denn solange sich die Lebenssituation der Opfer nicht verbessert, kann keine Versöhnung erwartet werden. Der heutigen Regierung ist klar, dass Versöhnung eng mit der wirtschaftlichen und sozialen Umgestaltung des Landes zusammenhängt.
In ihren Vorschlägen zur Entschädigung beruft sich die Kommission auf das Anrecht der Überlebenden schwerer Menschenrechtsverletzungen auf faire und adäquate Entschädigung, wie es festgehalten ist im internationalen Recht (etwa der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte). Dafür aufkommen sollen nicht nur die Regierung und die internationale Gemeinschaft, sondern auch die ProfiteurInnen der Apartheid: Die weisse Bevölkerung, vor allem aber die südafrikanischen und multinationalen Firmen, die während der Apartheid riesige Profite gemacht haben. Im Schlussbericht schlägt die Kommission daher die Einführung einer Reichtumssteuer vor sowie eine einmalige Erhebung auf Einkommen von Firmen und Einzelpersonen. Zudem sollen die an der Johannesburger Börse kotierten Unternehmen dem Entschädigungsfonds ein Prozent ihrer Marktkapitalisierung zukommen lassen.
Die Unternehmen haben bis anhin nicht reagiert. Auch ein Teil der weissen Bevölkerung versteht diese Definition von Versöhnung noch immer nicht und steht dem gesamten Prozess der Kommission ablehnend gegenüber. Erzbischof Desmond Tutu, der Vorsitzende der Kommission, betont, dass fast alle, die sie ablehnen, von der Apartheid profitiert haben. "Was haben unsere Gegner beigetragen zur Versöhnung?", fragt er. "Nichts. Sie trauern noch immer den alten Zeiten nach."
Die Opfer müssen währenddessen weiter warten. Erst 800 Überlebende, die auf dringende Hilfe angewiesen sind, haben kleine Beiträge erhalten.
Ein Erfolg der Wahrheits- und Versöhnungskommission besteht darin, dass sie die grosse Mehrheit politisch motivierter Morde und das Schicksal vieler Verschwundener endlich aufgeklärt hat. Eine Vielzahl von Fakten liegt auf dem Tisch.
Über die Interpretation der Wahrheiten sind sich die ehemaligen GegnerInnen jedoch alles andere als einig: Für die ehemaligen Befreiungsbewegungen besteht die Wahrheit darin, dass sie einen gerechten Kampf geführt haben. Ein Kampf, der moralisch nicht zu vergleichen ist mit den Exzessen der Sicherheitskräfte der Apartheidregierung obwohl bei ihren Bombenanschlägen auch ZivilistInnen ums Leben kamen. Schliesslich habe die UNO die Apartheid zum Verbrechen gegen die Menschheit erklärt. Die Parteien, die früher an der Macht waren, beteuern hingegen, sie hätten bloss Widerstand geleistet gegen die Ausweitung des globalen Kommunismus.
In ihrem Schlussbericht geht die Kommission mit beiden Seiten hart ins Gericht. Der Apartheid-Regierung weist sie die Verantwortung für die grosse Mehrheit aller schwerer Menschenrechtsverletzungen zu, die zwischen 1960 und 1994 (der Zeitperiode, die die Kommission untersuchte) begangen worden sind. Doch auch die ehemaligen Befreiungsbewegungen kommen nicht ungeschoren davon. Der ANC wird ebenfalls beschuldigt, schwere Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben, sowohl in seinen Lagern im Exil als auch während seines bewaffneten Kampfes gegen die Apartheid. Taten, für die er politisch und moralisch Verantwortung zu übernehmen habe. Die Kommission macht zwar einen moralischen Unterschied zwischen den Taten beider Seiten und gesteht den ehemaligen Befreiungsbewegungen zu, legitime Organisationen gewesen zu sein. Doch sie macht einen Unterschied zwischen einem gerechten Krieg und gerechten Mitteln. Wenn es um Menschenrechtsverletzungen geht, bleibt Mord Mord.
Daher hat der Schlussbericht schon vor seiner Veröffentlichung hitzige Debatten ausgelöst. Die Führung des ANC versuchte ebenfalls in letzter Minute, die Veröffentlichung des Berichts zu verhindern. Sie beschuldigte die Kommission, den Befreiungskampf gegen die Apartheid zu kriminalisieren und seine HeldInnen zu "besudeln", indem sie sie anklagt, in ihrem Kampf gegen das Unrechtsregime Menschenrechtsverletzungen begangen zu haben und diese quasi gleichsetze mit den Taten ihrer GegnerInnen. Der Vorstoss des ANC blieb zwar erfolglos und der Bericht wurde fristgerecht veröffentlicht, doch das Vorgehen der Partei, die heute an der Macht ist, hat ihrem Ansehen massiv geschadet und auch parteiintern zu Auseinandersetzungen geführt.
"Dass der Bericht der Kommission bei allen Seiten auf Widerstand stossen würde, war zu erwarten", sagt Justizminister (und ANC-Mitglied) Dullah Omar. "Das wird zu einer lebhaften Debatte führen und dem Prozess der Versöhnung förderlich sein." Er lobte die Kommission für die Bewahrung ihrer Unabhängigkeit, die zur Integrität des Prozesses beigetragen habe.
Trotz aller Unzulänglichkeiten hat die Kommission viel erreicht. Schliesslich hatte sie eine schier unmögliche Aufgabe: Innerhalb von zweieinhalb Jahren ein möglichst umfassendes Bild zu erarbeiten über die schweren Menschenrechtsverletzungen während 34 Jahren Apartheid. Die institutionelle Gewalt des Apartheidsystems (Zwangsumsiedlungen, Passgesetze etc.), die in der südafrikanischen Gesellschaft noch lange nachwirken wird, müssen andere aufarbeiten. Genauso wie die Verbindungen des Apartheidregimes zu anderen Staaten, wie etwa der Schweiz.
Die Wahrheits- und Versöhnungskommission war erst der Anfang des schwierigen Prozesses der Wahrheitssuche und Versöhnung. Desmond Tutu sagte nach der Übergabe des Berichts an Präsident Nelson Mandela vorsichtig: "Vielleicht haben wir das Schlimmste bereits hinter uns." Denn die überwältigende Anzahl von Zeugnissen hat das Bild über Südafrikas Vergangenheit verändert und niemand wird jemals behaupten können, von all dem nichts gewusst zu haben.
Die Eltern von Phila Ndwandwe müssen nicht wie die Mütter der Plaza de Mayo in Argentinien jede Woche erneut Mahnwachen abhalten, um an ihre noch immer verschwundenen Kinder zu erinnern. Sie wissen und mit ihnen ganz Südafrika was geschehen ist.
*Martina Egli ist Journalistin und arbeitet im Rahmen des Medienpreises der Christian Eckenstein-Stiftung zum Thema Menschenrechte in Südafrika.Inhaltsübersicht | nächster Artikel |