Am 18. März 1991 war es soweit, der Ernstfall war eingetreten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte sich ein stetiger Strom von entwurzelten und verarmten Leuten aus ihren in Banden- und Bürgerkriegen versunkenen östlichen Staatsgebilden nach Westeuropa ergossen, dessen Fluten nun auch die Schweiz bedrohten. Bereits spielten sich unhaltbare Zustände um die Flüchtlings-Empfangsstellen ab und die Grenzwacht wurde einfach überschwemmt. Bundesrat Arnold Koller, seit zwei Jahren Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartementes, hatte angesichts dieser sich zuspitzenden ausserordentlichen Lage keine Mühe, Unterstützung für seine Notstands-Massnahmen zu erhalten.
Einerseits waren über 20 von den Kantonen betriebene, militärisch gesicherte und betreute Internierungs-Grosszentren mit 200-500 Plätzen entlang der gesamten Grenze zur Eröffnung bereit. Andererseits trafen an diesem Tag die ersten zum Aktivdienst aufgebotenen Kompagnien des Bündner Infanterieregimentes 36 an der Schaffhauser Nordgrenze ein, die den Auftrag hatten, die langen und verschachtelten Grenzverläufe abzusichern. Während der Bundesrat die Flüchtlings-Betreuungsaufgabe der Armee in den Vordergrund stellte, tönte es intern anders: Die Einsatzplanung stand unter dem Motto "Limes", ein wenig feinsinniger Hinweis auf den altrömischen Schutzwall durch die Mitte Europas zur Abwehr der östlichen Barbarenvölker.
Das überflutungsbegriffliche Notstands-Szenario blieb üppiger Ausfluss behördlicher Phantasie und "Limes" war vor fast acht Jahren noch nicht der Ernstfall, sondern eine militärische Feld-, Wald- und Wiesengrenzübung gewesen. Damals hatte es gegen die mitten in einem asylpolitisch aufgeheizten Klima gegen sogenannt Illegale angesetzte militärische Abhalte-Demonstration noch erhebliche Proteste bis hin zu einem Verweigerungsaufruf an die ostschweizerischen Soldaten gegeben. Anders heute: Nach der sich im Frühling zuspitzenden Lage in Kosov@ und dem absehbaren Anstieg der Flüchtlingszahlen breitete sich der Ruf eines Armeeeinsatzes weit über die extremen SVP-Hardliner hinaus. Nach dem Aufgebot zum Assistenzdienst, einer vor vier Jahren mit einer Militärgesetzrevision eingeführten Vorstufe zum kriegsmässigen Aktivdienst, hiess es, die Stimmung im Kader sei positiv, und viele der ostschweizerischen Soldaten, die schon lange Internierungen geübt hatten, würden sich freiwillig melden.
Wenige Monate vor dem absehbaren Ende seiner bundespolitischen Laufbahn hat der appenzellische Professor und Oberstleutnant Arnold Koller, nach einem kurzen Intermezzo beim Militär seit 1989 als Vorsteher der Justiz und Polizei seit einem Jahrzehnt für den Asylbereich verantwortlich, mit dem Rückgriff auf das Militär das ganze Debakel seiner Flüchtlings-Politik offenbart. Zwar begann schon vor ihm der schrittweise Abbau des Asylrechtes und er war auch nicht der Erfinder der aufkommenden Migrations-Bedrohungsanalysen. In den 80er-Jahren kam keine der grassierenden "Gesamtverteidigungsübungen" und keines der reichlichen militärischen Grossmanöver ohne entsprechende Notstands-Szenarien und Abhalte-Übungen an der Grenze aus.
Voll verantwortlich ist er aber für die folgende, systematische Aushöhlung des Asylrechtes bis zu dessen faktischer Aufhebung. Mit einer ganzen Kaskade von Revisionen des Asylgesetzes in den 90er-Jahren über deren letzte wir nach dem ebenfalls x-mal ergriffenen Referendum anfangs nächsten Jahres zu befinden haben machte er unser Land europaweit zum Vorbild für rechtspopulistische Strömungen. So kennt die Schweiz heute eine extrem niedrige Asyl-Anerkennungsquote, die diskriminierende Trennung in echte und unechte Flüchtlinge mit ihrer Kriminalisierung sogenannt Illegaler, Zwangsmassnahmen, Arbeitsverbote, Rückschaffungen und den häppchenweisen Abbau verbliebener Rechte für Asylsuchende. Gleichzeitig stellte Koller seine meist mit Dringlichkeitsrecht erhobene und von der Parlamentsmehrheit unterstützte revisionistische Asylpolitik als vernünftigen Mittelweg zwischen extremen Forderungen von links und rechts dar. Dieser führt aber seit Jahren für jene, die in die Schweiz zu flüchten versuchen, keineswegs in die Mitte eines sicheren Hortes, sondern stetig weiter weg davon.
Die Wirklichkeit in Kosova hat diese Asylpolitik desavouiert. Jahrelang wurden Kosov@-AlbanerInnen, die oft zuvor als GastarbeiterInnen in der Schweiz gelebt hatten, als reine Wirtschaftsflüchtlinge betrachtet, bis sich diese Fiktion im offenen Bürgerkrieg der letzten Monate auflöste. Statt nun für einen qualifizierten Aufnahmebetrieb für die vom Krieg traumatisierten und entwurzelten Vertriebenen zu sorgen, die genügend vorhandenen Ressourcen bereitzustellen, die private Aufnahmebereitschaft zu fördern oder gar neue Ideen zu entwickeln, zeigte Koller sich mit den wachsenden, aber keineswegs dramatischen Flüchtlingsbewegungen überfordert, verweigerte hartnäckig eine kollektive vorläufige Aufnahme und frischte alte Notstands-Szenarien auf. Immer wieder hat er betont, dass ein Armeeaufgebot nur als ultima ratio in Frage komme, erst wenn alle zivilen Mittel ausgeschöpft seien. Das soll jetzt, wenn auch erst bei der Betreuung, der Fall sein?
Gegen einen namhaften Beitrag der Armee zur Hilfe in der nur für Flüchtlinge ausserordentlichen Lage wäre nicht viel einzuwenden. Für die vorübergehende Aufnahme von grösseren Flüchtlingsgruppen geeignete und auch für Frauen und Kinder einzurichtende Truppenunterkünfte könnte die Armee problemlos an die Kantone abtreten, selbst ihre Zelte eignen sich dafür immer noch besser als die Zivilschutzbunker. Ebenso kann sie gewisse Transport- und Logistikaufgaben übernehmen. Für alles andere ist die Truppe jedoch denkbar ungeeignet. Die Kritik daran ist nicht neu, aber kaum widerlegt.
Für die Organisation des Übertritts von Flüchtlingen braucht es professionelle Grenzorgane, nicht rasch wechselnde, nur aufs Kriegshandwerk ausgebildete, unzweckmässig ausgerüstete und dienstverpflichtete Milizsoldaten mit entsprechender Motivation. Nicht zu Unrecht hält das Grenzwachtkorps nicht viel von militärischer Stütze und fordert stattdessen mehr ausgebildetes Personal. Auch für die meisten Sicherheitsaufgaben genügt die Securitas oder die Polizei. Und völlig fragwürdig ist die "subsidiäre" Betreuung durch Soldaten. Einerseits gelten für die heiklen Betreuungsaufgaben der unterschiedlichsten Flüchtlinge die gleichen professionellen Anforderungen, andererseits mangelt es nicht an zivileren Alternativen.
Zum Beispiel durch Arbeitslosen-Einsatzprogramme. Vor allem aber ist kaum nachvollziehbar, weshalb nicht die vielen jungen, motivierten Zivildienstleistenden aufgeboten wurden, die mit ihrem mehrmonatigen Einsatz für eine ungleich sinnvollere Performance als die martialische Truppe sorgen könnten. Oder wenn die privaten Hilfsangebote einfach abgewiesen werden. Dass es mit etwas Phantasie auch anders gehen könnte, demonstrierte kürzlich der Walliser Regierungsrat Peter Bodenmann mit seinem Vorschlag, dass "Wehrleute in Zivil nach der Rekrutenschule ihre noch verbleibende militärische Dienstzeit ganz oder teilweise im Asylbereich abarbeiten können, sofern ein Kanton ihre Dienste im Rahmen der zivilen Lösung des Asylproblems in Anspruch nehmen will." Die Erwerbsausfallkasse des Bundes soll dabei einen Teil des Lohnausfalles übernehmen.
Eine menschlichere Haltung nach all den näher oder ferner liegenden asylpolitischen Erfahrungen und eine überlegte Suche nach rationalen Lösungen würde allerdings mehr Standhaftigkeit gegenüber dem fremdenfeindlichen Populismus und eine radikale Abkehr von der Fixierung auf den Notstand erfordern. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Wende noch unter dem Regime des Politikers aus den östlichen Voralpen erfolgt, dürfte dabei annähernd so eng sein wie die Grenzen unseres Landes.
*Peter Weishaupt ist Koordinator des Schweizerischen FriedensratesInhaltsübersicht | nächster Artikel |