Editorial

Liebe Leser, liebe Leserinnen

Parallel zur Fertigstellung dieser FriZ spitzt sich einmal mehr die Situation im Südosten Europas dramatisch zu. Hektische Vermittlungsreisen des US-Sonderbotschafters wechseln sich in den Nachrichten fast stündlich mit Verlautbarungen aus UNO- und Nato-Kreisen ab. Immer wieder erhielt Milosevic seine unwiderruflich letzte Chance – und erklären sich die Militärs zu einem Angriff auf die Bundesrepublik Jugoslawien bereit.

Zwei Dinge erinnern mich fatal an die Situation zu Beginn des Bonsien-Konflikts vor wenigen Jahren: Erstens die Unfähigkeit der führenden Staaten Europas, sich trotz aller EU-Vorschusslorbeeren auf eine gemeinsame Politik zu einigen; einmal mehr reibt man sich aneinander und nimmt Rücksicht auf Dritte, deren Motive – wie im Falle Russlands – teilweise undurchsichtig sind. Und zweitens das scheinbar teilnahmslose Zuwarten aller europäischer Staaten, was die Flüchtlingspolitik angeht. Nicht nur bei uns in der Schweiz wird über die Asylpolitik bereits wieder so diskutiert, als ob sie bloss eine theoretisch-ethische Angelegenheit wäre.

Bald schon werden vielleicht wieder mehrere zehntausend Menschen auf der Flucht vor Kanonen und Maschinengewehren sein. Und über die Grenze kommen, um bei uns Sicherheit zu finden. Noch weniger als zu Beginn des Bosnien-Konflikts wird dann irgend jemand behaupten können, er oder sie sei überrascht. Auch Gedankenspiele, mit von mir aus einer ganzen Armee an der Grenze, werden die Flüchtlinge zum Glück nicht aufhalten können. Soviel wissen wir alle heute schon. Aber gehandelt wird genauso sowenig wie zu Beginn des Jahrzehnts. Für einmal ist es kein Trost, dass die Schweiz kein Sonderfall mehr ist.

Detlev Bruggmann

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