Nebengedanken

Von Marktrechten und Menschenrechten

Von Geert van Dok

Vor fast 400 Jahren – am 2. Mai 1602 – notierte der Florentiner Kaufmann Francesco Carletti in sein Tagebuch: "Wo die Ware hingeht, da will auch ich hingehen, komme, was da kommen mag." Carletti segelte um die Welt, um Waren einzukaufen. Er sah Sklaven, Seide, Gewürze und Edelsteine – Waren aller Art, die geeignet waren, den Wohlstand europäischer Händler zu mehren.

Carletti brachte damals ungewollt die Maxime europäischer Entwicklung auf den Punkt: Wenn es ums Geschäft geht, darf es keine Schranken geben, weder für die Händler, noch für die Waren. Europäer liessen sich ungefragt überall nieder, plünderten Länder, machten Einheimische Untertan, vertrieben sie oder brachten sie um. Wer fragte je die betroffenen Völker, was sie davon hielten, dass ihnen die Lebensgrundlage entzogen und ihre Menschenwürde mit Füssen getreten wurde.

Heute, 50 Jahre nach der UNO-Menschenrechtserklärung, hat sich die Lage für die Menschen im Süden und Osten vielerorts nicht entscheidend verbessert. Während Liberalisierung des globalen Warenverkehrs und Ausbau der Rechte des Marktes unaufhaltsam voranschreiten (Stichwort Deregulierung), bleiben die Rechte der betroffenen Menschen auf der Strecke. Der Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen wie Boden, Wasser und Rohstoffe ist ihnen vielfach verwehrt. Politischer Widerstand wird niedergeschlagen. Von den Orten des Wohlstandes und deren Errungenschaften werden sie ferngehalten. Die Welt ist aufgeteilt in eine globale Zwei-Klassen-Gesellschaft: jene, welche über die Markt- und Menschenrechte verfügt, und jene, welcher diese Rechte bestenfalls in Absichtserklärungen zugestanden wird.

Natürlich: Menschenrechte einhalten wollen heute grundsätzlich alle, auch grosse Wirtschaftsunternehmen. Doch Umsätze machen wollen letztere auch. Also werden Güter abgewogen: Das Recht des Betriebs auf Profit ist dabei in aller Regel näher als das Recht der anderen auf Menschenwürde. Sobald es über die Schönwettererklärungen von Leitbildern und wirtschaftsethischen Grundsätzen hinausgeht, geraten Menschenrechte vielfach zum unerwünschten Störfaktor. Zum Beispiel: Millionen Kinder arbeiten weltweit unter gesundheitsschädigenden Bedingungen, unter anderem für Kunstleder-Fussbälle oder Billigtextilien in unseren Warenhäusern. Unternehmen wie ABB oder UBS nehmen in ihren Profitstrategien die Enteignung und Zwangsumsiedlung von über 1,8 Millionen Menschen in Kauf, nur um am Milliardendeal des Drei-Schluchten-Staudamms in China beteiligt zu sein – unterstützt durch Politik und Verwaltung, welche das Geschäft mit einer Exportrisikogarantie absichern. Dabei ist doch die Förderung der Menschenrechte erklärtermassen eines der fünf Hauptziele schweizerischer Aussenpolitik…

"Wenn wir es nicht tun, tun es die anderen, und die kümmern sich vielleicht noch weniger um diese Fragen." Solch häufig vorgebrachten Entschuldigungen geraten letztlich zur Bankrott-Erklärung von Ethik und Moral im Geschäft. Die Rechte des freien Marktes bleiben unantastbar, für die Rechte des Menschen auf Würde, Nahrung, Freiheit und Selbstbestimmung muss nach wie vor gekämpft werden. Erst wenn den grossen Worten die grossen Taten folgen, wenn sich also Wirtschaft und Politik – und nicht nur die Zivilgesellschaft – in ihrem Handeln als Anwälte der Menschenrechte profilieren, erst dann steht es den Staaten des Nordens wirklich zu, ein Jubiläum der Menschenrechtserklärung zu feiern – in 50 Jahren vielleicht?

Geert van Dok ist Ethnologe und Mitarbeiter der Fachstelle Entwicklungspolitik der Caritas Schweiz.


Inhaltsübersicht nächster Artikel