Von Peter Hug*
Die politische Krise, welche die schwierige Debatte über die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg offen gelegt hat, birgt für die Friedensbewegung grosse, bisher ungenutzte Chancen. Meinungsumfragen belegen, dass das Problem nicht mehr in der Frage liegt, ob es die Armee (allein) war, welche die Schweiz aus dem Krieg herausgehalten hat. Für eine überwältigende Mehrheit ist dies heute im Sinne jener entschieden, die sich 1989 gegen die Diamantfeiern gestellt hatten.
Viel brisanter ist die Anschlussfrage nach dem Wertmassstab, an dem das damalige (und heutige) politische Handeln der Schweiz gemessen werden soll: Haben die in der Bundesverfassung verankerten Ziele der nationalen Unabhängigkeit und der Steigerung der nationalen Wohlfahrt Vorrang? Oder hat die politische Gemeinschaft «Schweiz» gleichzeitig eine Verantwortung zur Durchsetzung der universalen Menschenrechte (ein-schliesslich der sozialen) wahrzunehmen? Mit anderen Worten: Genügt es, dass die Schweiz vom Krieg verschont blieb (und bleibt), und dass die Versorgung der Bevölkerung sichergestellt war? Oder trug die Beschränkung auf diese Ziele nicht unbeabsichtigt, aber in Kauf genommen zu einer unerträglichen Verquickung mit der Barbarei bei?
Für die Friedensbewegung war und ist klar: Es gibt keinen Frieden nur für
die Schweiz. Frieden ist unteilbar. Die
Schweiz ist kein Sonderfall, sondern hat eine Mitverantwortung zur
universalen Durchsetzung der Menschenrechte wahrzunehmen.
Es gibt kein grundsätzliches Postulat der Friedensbewegung mehr, das nicht in der 1990 von der Schweiz mitunterzeichneten Pariser Charta der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) enthalten wäre. Auch dem Bericht des Bundesrates über die Aussenpolitik der Schweiz in den 1990er Jahren von 1993 und seinem noch präg-nanteren Nord-Süd-Leitbild von 1994 bleibt eigentlich nichts anzufügen. Vorher galt dem Bundesrat egoistischer und nationalistischer ging es kaum mehr - während 55 Jahren die Wahrung der Unabhängigkeit als einziges Ziel der Schweizer Aussenpolitik. 1993 ging er zu einem fünfdimensionalen Zielsystem über, nämlich die Förderung von Frieden, Demokratie und Gleichstellung, Wohlfahrt, sozialem Ausgleich und Ökologie, die weltweit zu verwirklichen seien, und stellte die Frage nach der Kohärenz zwischen diesen fünf Zielen ins Zentrum der aussenpolitischen Debatte.
Das politische Problem stellt sich heute für die Friedensbewegung nicht
mehr auf dieser programmatischen Ebene wie noch im Kalten Krieg, dem wir
vorab ideologisch entgegentraten. Die grosse Schwierigkeit besteht vielmehr darin,
die vom Bundesrat formulierten und vom Parlament zustimmend zur Kenntnis
genommenen vorbildlichen Zielsetzungen in die Tat umzusetzen und dafür die
notwendigen personellen, finanziellen und
intellektuellen Mittel bereitzustellen. Der politische Gegner ist nicht der
Bundesrat, sondern jene politischen Kräfte, die
vorab durch die Aktion für eine
unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS)
repräsentiert werden. Sie haben in den
letzten Jahren zahlreiche fortschrittliche aussenpolitische Vorlagen von Bundesrat
und Parlament zu Fall gebracht, obschon sie höchstens ein Drittel der Bevölkerung
repräsentieren.
Für die Friedensbewegung heisst dies: Sie muss heute versuchen,
Mehrheiten zu bilden, oder es wird sie nicht mehr geben. Dies bedeutet gleichzeitig:
Die Friedensbewegung muss praktisch
werden, oder es wird sie nicht mehr
geben. Denn nur wer konkrete Beiträge zur Konfliktverhütung,
friedlichen Konfliktbeilegung und Nachkonfliktbearbeitung leistet, ist heute
politisch noch glaubwürdig.
Eine vorschnelle Übertragung deutscher Diskussionen auf die Schweiz verdunkelt manchmal den Blick auf die wichtige Tatsache, dass keine andere Gruppe so geschlossen für Schweizer Blauhelm-Truppen eintritt wie die Friedensbewegten. Laut Vox-Nachanalyse stimmten am 12. Juni 1994 Mitglieder von Friedensorganisationen zu 87 Prozent für die Schaffung schweizerischer Blauhelm-Truppen, und Personen, die mit der Friedensbewegung sympathisieren, zu immer noch hohen 74 Prozent. Entsprechend sehen die Entwürfe für eine neue GSoA-Initiative zur Abschaffung der Armee die Aufrechterhaltung
*Peter Hug ist Historiker und Sekretär der Arbeitsgemeinschaft
für Rüstungskontrolle und ein Waffen-ausfuhrverbot (ARW)
kleiner Blauhelmtruppen für eine Schweizer Beteiligung an UNO-
oder OSZE-Einsätzen vor.
Dies ist Ausdruck eines Umdenkens, das mit der Debatte über die Massenvergewaltigungen im ehemaligen Jugoslawien begann und langfristig zu einer Neuordnung der politischen Landschaft in der Schweiz führen könnte. In den letzten Jahren kam nicht nur anlässlich der Blauhelmabstimmung, sondern auch dem Forum der Nichtregierungs-Organisationen zum 50-Jahr-Jubliläum der UNO (UN50), der Beteiligung an den grossen UNO-Weltkonferenzen in Rio, Kairo, Peking, Stockholm und Rom, der Friedensarbeit im ehemaligen Jugoslawien sowie vielen anderen Gelegenheiten eine neue Qualität der Zusammenarbeit zwischen Bund und Friedensorganisationen zustande, wie sie während des Kalten Krieges undenkbar gewesen wäre. Diese gilt es massiv auszubauen.
Interessierte sich der Bund während Jahrzehnten für die
Friedensorganisationen bestenfalls in Form von
Bespitzelungen, Fichierungen und anderen Formen
wilder Verdächtigungen, so gibt es heute keine Friedensorganisation mehr, die
für ihre Projektarbeit nicht von
vielfältigen Formen der
Bundesunterstützung einschliesslich Subventionen
profitieren würde. Im Budget des Service civil
international (SCI Schweizer Zweig) sind Bundesbeiträge ebenso wenig
wegzudenken wie in jenem der Peace Brigades International (PBI Schweiz), die in
ihrer gewaltfreien Menschenrechtsarbeit in zahlreichen Konfliktgebieten dieser
Erde zudem von diplomatischen Interventionen profitieren. Beide
Friedensorganisationen leben heute zu einem Drittel von Bundessubventionen.
Ähnliches gilt für jene, die
Antikriegsarbeit und Wiederaufbauarbeit im
ehemaligen Jugoslawien leisteten oder immer noch leisten, wie das HEKS, Caritas,
Gemeinden Gemeinsam oder GSoA. Wichtig ist dabei auch die Inkraftsetzung
des Zivildienstgesetzes vor einem Jahr. Es weist zwar Mängel auf, befreite
die Schweiz aber auf dem Gebiete der Militärverweigerung endlich von
ihrem Sonderfallstatus und führte sie in den Kreis eines durchschnittlichen
europäischen Staates zurück. Die
interessante
Frage lautet nun, wie aus dem Zivildienst ein echter Friedensdienst werden kann.
Mein Argument lautet überhaupt nicht, der Bund engagiere sich ausreichend ganz im Gegenteil. Um einen wirksamen Beitrag zur Gewaltminderung, zur Konfliktverhütung, friedlichen Beilegung von Streitigkeiten und Durchsetzung der Menschenrechte leisten zu können, sind die Friedensorganisationen aber auf eine fruchtbare Zusammenarbeit mit den auf diesem Gebiete tätigen internationalen Organisationen sowie die finanziellen Mittel und den aussenpolitischen Apparat des Bundes angewiesen. Umgekehrt ist vorab den mittleren Etagen in der Bundesverwaltung höchst bewusst, dass der Bund ohne eine aktive Mitwirkung der Nicht-Regierungs-Organisationen die bundesrätlichen Ziele auf dem Gebiete der Friedenspolitik weder gegen die AUNS innenpolitisch durchsetzen noch am Bestimmungsort in der konkreten Arbeit umsetzen kann.
Ein Umdenken ist auch bei den Friedensorganisationen notwendig, die sich untereinander wirksamer koordinieren, professioneller auftreten und als verlässliche Gesprächs- und Verhandlungspartner dem Bund gegenübertreten müssen. Den Umwelt- und Entwicklungsorganisationen ist es gelungen, sich als starke Partner von Teilen der Bundesverwaltung (Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft BUWAL bzw. Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA) zu etablieren und so einem zentralen Zukunftsbereich eine starke politische Heimat zu geben.
Eine solche Partnerschaft zwischen Friedensorganisationen und den
entsprechenden Ämtern im Departement für auswärtige Angelegenheiten
(Politische Abteilung III für Internationale
Organisationen, Frieden und Abrüstung)
wäre heute politisch denkbar, scheiterte
bisher aber an einer ausreichend konsequenten Umsetzung. Wichtige Ansätze
finden sich beim «NRO-Rat für
UNO-Belange»,
dem «Cotti-Kreis» auf dem Gebiete der Menschenrechte und der jährlich
vom OSZE-Dienst organisierten NRO-Tagung. Auch das Bundesamt für
Aussenwirtschaft hat klar signalisiert, dass es an mehr Dialog mit Friedens-
und Menschenrechtsorganisationen interessiert wäre.
Sonderfalldenken und Neutralität haben die Schweiz in die Sackgasse geführt. Der Ausweg aus erstickender Isolation und heuchlerischer Selbstgerechtigkeit findet sich weniger über Worte als über Taten: Die konkrete Mitwirkung an der Durchsetzung eines wirksamen Systems kooperativer und kollektiver Sicherheit in Europa und der Welt. In dieser Diskussion werden institutionelle Fragen überschätzt - längst ist in den konkreten Einsätzen vom ehemaligen Jugoslawien bis Tschetschenien ein breiter Organisationsverbund von der OSZE über den Europarat bis zur UNO, EU und NATO involviert, und alle leisten ihren Beitrag.
Die nächste Nagelprobe wird eine weitere Abstimmung über den Beitritt der Schweiz zur UNO bilden. Ich wünsche mir, dass die Friedensorganisationen für eine gleichzeitige Zweitauflage der Blauhelmabstimmung eintreten und die Abstimmungskampagne offensiv gegen die Neutralität und für die internationale Zusammenarbeit führen werden. Auf jeden Fall wünsche ich mir hier einen weit tatkräftigeren Einsatz der Friedensbewegung als dies 1986 der Fall war, als 75 Prozent der Stimmenden gegen den UNO-Beitritt eintraten, und sich ausgehend vom dreifachen Neutralitätsvorbehalt des Bundesrates die AUNS gründete.
Noch ist der von der Schweiz geleistete Mitteleinsatz zugunsten einer
kooperativen Friedenspolitik absolut
ungenügend. Weiterhin fliesst der grösste Teil der
personellen und finanziellen Ressourcen in das an fiktiven Risiken
ausgerichtete Landesverteidigungssystem. Für
dieses stehen, die indirekten Kosten mit eingerechnet, jährlich rund 13 Milliarden Franken zur Verfügung, während sich die zivilen Komponenten der Friedenspolitik, inklusive Entwicklungs-zusammenarbeit, Osteuropahilfe und globaler Umweltschutz, mit rund
anderthalb Milliarden begnügen müssen.
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