Richtung Frieden

Thema

Wenn wir «Frieden» sagen, sprechen wir über etwas, was nicht da ist, das wir im Engagement für eine gerechtere Gesellschaft suchen und nirgends vollumfänglich verwirklicht sehen. Sobald wir positiv zu sagen versuchen, was denn verwirklichter Frieden wäre, differenzieren sich Standpunkte und Projekte.

Von Dorothee Wilhelm*

«Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Frieden ist mindestens auch die Abwesenheit von Gewalt» ­ die Formulierung mit «mehr als...» und «mindestens...» weist auf einen Bedeutungs-überschuss im Begriff «Frieden» hin, der sich nicht mit einem einzelnen Projekt, einem bestimmten Friedensvertrag, ein für allemal erledigt. Vielmehr dient das, was als abwesend befunden wird, ein wirklicher Frieden nämlich, dazu, konkrete Projekte und Friedensverträge als unzureichend zu kritisieren: Das Dayton-Abkommen? Die sogenannten ethnischen «Säuberungen» gehen weiter, von einer Rückkehr der Flüchtlinge in Sicherheit kann keine Rede sein ­ von Frieden also auch nicht. Der zweite Osloer Vertrag? Netanyahus Regierung diktiert, was die Palästinensische Autonomiebehörde wollen soll, und die palästinensische Forderung nach «Land für Frieden» pervertiert zu «Sicherheit statt Frieden», einer repressiven Scheinsicherheit natürlich, nicht Frieden.

Von Frieden zu reden bedeutet, von schmerzhaft Vermisstem zu reden. Es markiert die Abwesenheit von Frieden, die Lücke, und sensibilisiert für herrschende Gewaltverhältnisse. Es hilft, politisch die Richtung zu halten, sich nicht vorschnell zufrieden zu geben, gerade
weil Frieden nicht sofort mit einer begrenzten Anzahl von Projekten und politischen Zielen übersetzbar ist.

Der Bedeutungsüberschuss im Sprachgebrauch von «Frieden» weist auf die religiösen Wurzeln des Begriffs hin. Es muss doch mehr als alles geben ­ diese Sehnsucht steht am Anfang der verschiedensten religiösen Suchbewegungen. Religion hat mit masslosen Sehnsüchten zu tun, mit grenzenlosen Visionen ­ ein Beispiel für solche Masslosigkeit ist das Jesaja-Wort, dass die Kuh sich mit der Bärin anfreunden wird, der Säugling am Loch der Natter spielt (Jesaja 11, 7-8), dass der kommende Frieden so weit geht, dass sogar die nichtmenschliche Natur gewaltfrei wird. Das «Schalom» der hebräischen Bibel ist ein utopischer Begriff, ein Suchbegriff, ein ethisches und politisches Programm, welches Frieden nicht ohne Gerechtigkeit denken kann. Im Überschreiten des Bestehenden, im Vermissen, ist immer schon eine Kritik des Bestehenden impliziert. Psalm 85,11 der hebräischen Bibel heisst: «Gerechtigkeit und Frieden küssen sich.» Und das sollen sie auch. Frieden braucht Gerechtigkeit, um mehr zu sein als Waffenstillstand.

Jenseits der religiösen Bezüge bedeutet «Frieden» als Kritik des Bestehenden und Suchbegriff einen Selbstschutz vor ideologischer Verblendung. Er schützt vor der Verwechslung von «Frieden», mit der Friedhofsruhe zementierter Gewaltherrschaft, die als strukturelle Gewalt so selbstverständlich ist, dass sie bisweilen gar nicht mehr als Unrecht wahrgenommen wird.

Erst das Durchbrechen der herrschenden Selbstverständlichkeit macht es Einzelnen und Gruppen möglich, sie nicht automatisch zu reproduzieren, sondern Alternativen zu entwickeln. Zum Beispiel das geschlechterspezifische Gutachten zu den GSoA-Initiativen von Margrith von Felten und Karin Haeberli: Ich halte es für schätzenswert, weil es die alltägliche Männergewalt gegen Frauen für relevant erklärt; sie muss in der friedenspolitischen Realpolitik vorkommen.1 In diesem Sinn schrieb auch Urs Höltschi 1995 im cfd-Blatt über die damaligen Volksinitiativen «für weniger Militärausgaben und mehr Friedenspolitik» und «für ein Verbot der Kriegsmaterialausfuhr»: «Die Halbierung der Männergewalt ist damit nicht gemeint.»2 Nach einer Analyse der Schweizer Armee als «Schule zum Mannwerden» kritisiert er aus geschlechterspezifischer Perspektive die blosse Reduzierung der Schweizer Armee als «Beibehaltung des Status Quo auf tieferem Niveau». «Bewaffnet, militärisch gedrillt und abgestumpft bleiben in aller Regel die Männer; entsprechend unangenehm bleibt die Lage für ihre Mitmenschen»3, so Höltschi. Er zieht den Schluss: «In bezug auf das Geschlechterverhältnis von einer Annahme der beiden friedenspolitischen Initiativen eine qualitative Verbesserung zu erwarten, wäre wohl illusorisch, doch eine quantitative Verbesserung brächte sie allemal. (...) Die beiden friedenspolitischen Initiativen sind nicht geeignet, das herrschende Geschlechterverhältnis grundlegend zu verändern, aber sie entziehen der militärischen (Männer-)Gewalt Mittel ­ und das dürfte kaum schaden.»4

Diese Ansätze führen die rein realpolitische Tagesaktivität hin zu einem umfassenderen gesamtgesellschaftlichen Entwurf.

«Frieden» als Markierung von etwas Vermisstem dürfte ebenfalls dafür verantwortlich sein, dass Friedenspolitik häufig vor allem «Gegen»-Politik ist, gegen Militarismus, Waffenexport, den Krieg in Ex-Jugoslawien, Rwanda etc. Es sind die Momente des Widerstandes gewesen, die in den letzten Jahren die Massendemonstrationen und -aktivitäten der Friedensbewegung möglich gemacht haben ­ so der Widerstand gegen die Wiederbewaffnung in der BRD der 50er Jahre, gegen das Wettrüsten im Kalten Krieg, besonders gegen die Raketenstationierung Anfang der 80er Jahre in West- und Osteuropa, die Grossdemonstrationen gegen den westlichen Militäreinsatz im zweiten Golfkrieg, das Engagement gegen den Krieg in Ex-Jugoslawien etc.

«So jedenfalls soll es nicht sein!» ­ unter diesem Minimalkonsens konnten sich Massenbewegungen zusammenfinden und breite Bündnisse geschlossen werden. Es war frustrierend, als sie jeweils wieder auseinanderfielen. Das Abebben der grossen Bewegungen lässt verschiedene plausible Deutungen zu, zum Beispiel die folgende:

Nach der gemeinsamen und verbindenden Phase des «So nicht!» kommt die Stufe des «Wie dann?». Und da das Gegenteil von Unfrieden positiv gefüllt werden will, differenzieren wir uns in verschiedene Engagements, siedeln uns statt in der Friedensbewegung in der Asyl-, der feministischen, der Solidaritäts- oder der Ökobewegung an oder werden in den verschiedenen Formen der Menschenrechtsarbeit aktiv. All diese Engagements gehören inhaltlich selbstverständlich in einen Friedensbegriff, der über die «Gegen»-Politik hinaus erweitert ist auf das hin, was sein soll: eine gerechtere (Welt-) Gesellschaft.

Die Antwort auf die Frage nach Alternativen zum offenen Kriegszustand bringt aber auch Spaltungen auf der Ebene der im engen Sinn friedenspolitisch Engagierten hervor: Unterstützen wir vor allem den Wiederaufbau? Projekte für Kriegstraumatisierte, Flüchtlinge, Überlebende ohne Perspektive? Setzen wir auf gewaltfreie Trainings für MultiplikatorInnen aus der kriegsbetroffenen Bevölkerung, um den gesellschaftlichen Wiederanfang zu unterstützen, oder auf die Kriegsverbrecher-Tribunale, die durch Veröffentlichung und Sanktionierung des Unrechts eine neue Vertrauensbasis ermöglichen? Engagieren wir uns für die Stärkung der UNO und die Rolle der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) innerhalb der UNO für eine weltweite Zivilgesellschaft? Konzentrieren wir uns auf die öffentliche Bewusstseinsarbeit in
der Schweiz, um Unterstützung, aber auch internationalen Druck zugunsten der Opfer des Krieges zu erreichen? Lobbyieren wir bei schweizerischen Institutionen und der Regierung, damit sie ihr politisches Gewicht und ihr Geld für bestimmte Projekte und eine bestimmte, z.B. antinationalistische Linie gegenüber dem kriegsbetroffenen Land einsetzen? Oder versuchen wir alles, um den Waffenexport, den Export von Tod an die Zivilbevölkerung anderer Länder von der Schweiz aus, endlich zu stoppen, worum die Friedensbewegungen, Menschenrechtsgruppen, Frauenbewe-gungen und anderen NGO's anderer Länder uns seit langem dringend bitten? Auch nach der beelendenden Niederlage vom 8. Juni?

Wir müssen uns jedenfalls entscheiden, denn unsere Kapazitäten und unser Know-how, kompetent zu handeln, sind begrenzt. Spezialisierung und Differenzierung erscheinen nötig, nicht bedauerlich. Nur: Wie bleiben wir darin bündnisfähig und gut genug verhängt, dass wir uns ergänzen können?

Die bleibende Herausforderung, die bleibende Inspiration ist, den weiten Friedensbegriff von Gerechtigkeit in den engen Antikriegsbegriff einzubringen und damit Friedenspolitik über die abhängige «Gegen»-Politik hinauszubringen. Uns gleichzeitig nicht caritativ und unpolitisch im weiten Friedensbegriff zu verlieren, sondern bezogen zu handeln mit Blick auf das System, das verändert werden soll, auf das politische Kraftfeld, das die herrschenden Machtverhältnisse aufrechterhält und reproduziert.

Solche Gleichzeitigkeiten und Spannungen produktiv zu halten, ist eine Gratwanderung. Nach dem Ende des Kalten Krieges ist der Friedensbewegung zunächst die klare Orientierung ­ gegen das Feindbild-Denken in Blöcken, gegen die Aufrüstung, die auch ohne Krieg tötet, gegen den drohenden atomaren und anderen Overkill ­ abhanden gekommen. Die brisanteste Debatte und Spaltung innerhalb der westeuropäischen Friedensbewegung danach fand während und wegen des Krieges im ehemaligen Jugoslawien statt. Analog zur Debatte um die Erwünschtheit oder
Unerwünschtheit von Blauhelmsoldaten aus friedenspolitischer Sicht wurde nun über die Haltung zu einer allfälligen militärischen Intervention der UNO oder Nato in Ex-Jugoslawien gestritten: Wie soll die internationale Gemeinschaft denn sonst handelnd eingreifen, wenn es nötig ist, um Krieg zu verhindern oder einzudämmen? Dagegen: Sind denn Soldaten mit blauen Helmen plötzlich weniger Soldaten, weniger in einem gewalttätigen, militaristischen, sexistischen, imperialistischen Kontext, nämlich dem der Armee? Können wir als Friedensbewegung eine Militärintervention befürworten? Dagegen: Wen liefern wir aus, wenn wir es nicht tun? Dürfen wir die Wahl «Intervention ja oder nein?» verweigern? Wollen wir uns nur nicht die Hände schmutzig machen?

Unter dem Titel «Hilfloser Pazifismus ­ die Friedensbewegung im Aus?» organisierte etwa das MOMA ein Podium zu dieser Debatte. Clemens Raming schreibt dazu im Heft antimilitarismus information (ami) im Juni diesen Jahres: «(...) wenn man es, so wie im ehemaligen Jugoslawien, mit einer durch fanatischen Nationalismus angetriebenen Gewalttätigkeit zu tun hat, vertritt man eine schwer zu verteidigende Position, wenn man keinerlei Form militärischer Konfrontation in Erwägung ziehen will.

Unsere Rolle in Diskussionen über den Einsatz militärischer Mittel (...) lag auf der Hand: hinweisen auf die destruktiven Effekte militärischer Aktionen, die Eskalationsgefahr und darauf, dass die Granaten die Probleme genau so wenig lösen könnten. Nur waren das keine spezifisch antimilitaristischen Töne. Sie kamen selbst von Seiten hochgestellter Militärfunktionäre. (...) 'Wo bleibt so das eigene Gesicht der Friedensbewegung?' wurde gerufen und: 'Ist es nicht verkehrte Welt, wenn Menschen aus der Friedensbewegung militärische Aktionen fordern, während Generäle davor warnen?'.»6

Max Webers Gegenüberstellung von «Verantwortungsethik» und «Gesin-nungsethik» tönt an. In dieser Gegenüberstellung «gewinnt» immer die Ver-antwortungsethik, weil die Gesinnungs- ethik nicht nur unter den Verdacht gerät, fundamentalistisch zu sein, sondern konkrete Menschen, die Opfer des militärischen Aggressors, im Stich zu lassen. Damit sind wir bereits in eine Falle getreten. Ein wesentlicher Teil dieser Falle besteht in Allmachtsphantasien angesichts realer tagespolitischer Ohnmacht der Friedensbewegung im Kriegsfall: Was, zum Teufel, hätte es denn geändert, wenn wir für oder gegen eine Intervention Stellung bezogen hätten? Vesna Kesic, Gründerin und Mitarbeiterin von Frauenprojekten und politischen «Pressure Groups» in Zagreb und Projektpartnerin des cfd, nahm 1994 dazu folgendermassen Stellung:

«Wir haben eine Taktik entwickelt, um mit diesen Diskussionen nicht zuviel Energie zu verlieren. Dazu gehörte, auf Polemik nur dann zu reagieren, wenn es unsere Projekte wirklich beeinträchtigte. Natürlich muss frau sich verhalten zu realpolitischen Fragen, und als Privatpersonen haben wir das auch alle getan. Als Pazifistin und Feministin hätte ich eine begrenzte militärische Intervention 1992 begrüsst. Denn zu diesem Zeitpunkt war klar, dass dieser Krieg zum Genozid führt. Ethnische 'Säuberungen' sind ultimativ und politisch irreparabel. Eine Intervention hätte diese Kriegsentwicklung vielleicht unterbrechen können. Der Krieg entwickelt seine eigene Dynamik, der unsere Friedensstrategien nichts entgegenhalten können. Wir müssen den Krieg verhindern, stoppen können wir ihn nicht. Deshalb ist mir als Feministin diese realpolitische Perspektive zu eng. Der Krieg reduziert das Leben auf ganz wenige Dinge: das erste ist Angst, das zweite Hass, das dritte sind Fragen wie Intervention ja oder nein. Als Frauenprojekte wollen wir uns nicht von solchen Diskussionen aufzehren lassen, denn es ist überhaupt nicht wichtig für uns und unsere Gruppen, darin Konsens zu erreichen.»7

Wenn wir die Falle «Halten wir vor allem unsere Hände sauber oder lassen wir uns auf militärstrategische Erwägungen ein?» akzeptieren, funktionieren wir systemimmanent zu den Bedingungen militärischer Logik, im äussersten Fall visionslos realpolitisch. Auch von uns ist in diesem Fall kein alternativer Impuls ausserhalb der Bedingungen dieser Falle zu erwarten. Wie ausbrechen aus der unfruchtbaren Debatte zwischen visionsloser Systemimmanenz und Funda-mentalpazifismus? Durch Beschränkung auf das, was wir können? Aber sicher ­ das wäre Friedensarbeit zur Eindämmung militärischer Gewalt, Wiederaufbauarbeit, Versöhnungsarbeit... Durch Agendasetting? Dies ist in der Tat ein Zauberwort. Es bedeutet, nicht nur zu reagieren auf die öffentliche und offizielle Agenda, sondern selbst Prioritäten zu setzen, ohne das umgebende politische Kraftfeld zu ignorieren. Solidarität mit illegalisierten Frauen8 ist in diesem Blick ein eminent friedenspolitisches Thema, denn es bedeutet, das politische Engagement auf Frauen im Fadenkreuz verschiedener struktureller und manifester Gewaltverhältnisse zu richten.

Ich glaube, wir können und sollten die Interventionsdebatte nicht ein für allemal kontextlos beantworten, aber die Tendenz zum Handeln diesseits der Intervention klar bevorzugen. Wir können Korrektive fest einbauen, ausserpar-lamentarische Begleitgruppen der realpolitischen AkteurInnen und umgekehrt einrichten, Bilanzorte und -zeiten in Form institutionalisierter Treffen der auseinanderdriftenden «Flügel» installieren. Wir haben es nötig, konkrete Projekterfahrungen für Lobbying und
Vertretungsaufgaben fruchtbar zu machen, damit jene nicht vom Boden der ambivalenten Gegenwart abheben. Wir haben es nötig, unsere Projekte davor zu schützen, als Ersatz für einen strukturellen und politischen Zugriff zu dienen und damit Symptombehandlungen «von der Hand in den Mund» zu werden. Wir brauchen den explizit friedenspolitischen Zugang als Kritik der diversen strukturellen und unmittelbaren Gewaltverhältnisse, damit wir den gespannten Bogen halten können zwischen dem konkret Machbaren und dem Menschheitstraum von Frieden in Gerechtigkeit, ohne das eine mit dem anderen zu blockieren, ohne Strukturen gegen individuelle und kollektive Not auszuspielen, Erfahrungen gegen Visionen ­ kurz: Wir brauchen den explizit friedenspolitischen Zugriff, um die Richtung zu halten. Um zu gehen, damit wir sehen können, wohin wir denn kämen, wenn wir denn gingen.
Krieg entwickelt seine eigene Dynamik, der unsere Friedensstrategien nichts entgegenhalten können. Wir müssen den Krieg verhindern, stoppen können wir ihn nicht. Deshalb ist mir als Feministin diese realpolitische Perspektive zu eng. Der Krieg reduziert das Leben auf ganz wenige Dinge: das erste ist Angst, das zweite Hass, das dritte sind Fragen wie Intervention ja oder nein. Als Frauenprojekte wollen wir uns nicht von solchen Diskussionen aufzehren lassen, denn es ist überhaupt nicht wichtig für uns und unsere Gruppen, darin Konsens zu erreichen.»7

Wenn wir die Falle «Halten wir vor allem unsere Hände sauber oder lassen wir uns auf militärstrategische Erwägungen ein?» akzeptieren, funktionieren wir systemimmanent zu den Bedingungen militärischer Logik, im äussersten Fall visionslos realpolitisch. Auch von uns ist in diesem Fall kein alternativer Impuls ausserhalb der Bedingungen dieser Falle zu erwarten. Wie ausbrechen aus der unfruchtbaren Debatte zwischen visionsloser Systemimmanenz und Funda-mentalpazifismus? Durch Beschränkung auf das, was wir können? Aber sicher ­ das wäre Friedensarbeit zur Eindämmung militärischer Gewalt, Wiederaufbauarbeit, Versöhnungsarbeit... Durch Agendasetting? Dies ist in der Tat ein Zauberwort. Es bedeutet, nicht nur zu reagieren auf die öffentliche und offizielle Agenda, sondern selbst Prioritäten zu setzen, ohne das umgebende politische Kraftfeld zu ignorieren. Solidarität mit illegalisierten Frauen8 ist in diesem Blick ein eminent friedenspolitisches Thema, denn es bedeutet, das politische Engagement auf Frauen im Fadenkreuz verschiedener struktureller und manifester Gewaltverhältnisse zu richten.

Ich glaube, wir können und sollten die Interventionsdebatte nicht ein für allemal kontextlos beantworten, aber die Tendenz zum Handeln diesseits der Intervention klar bevorzugen. Wir können Korrektive fest einbauen, ausserpar-lamentarische Begleitgruppen der realpolitischen AkteurInnen und umgekehrt einrichten, Bilanzorte und -zeiten in Form institutionalisierter Treffen der auseinanderdriftenden «Flügel» installieren. Wir haben es nötig, konkrete Projekterfahrungen für Lobbying und
Vertretungsaufgaben fruchtbar zu machen, damit jene nicht vom Boden der ambivalenten Gegenwart abheben. Wir haben es nötig, unsere Projekte davor zu schützen, als Ersatz für einen strukturellen und politischen Zugriff zu dienen und damit Symptombehandlungen «von der Hand in den Mund» zu werden. Wir brauchen den explizit friedenspolitischen Zugang als Kritik der diversen strukturellen und unmittelbaren Gewaltverhältnisse, damit wir den gespannten Bogen halten können zwischen dem konkret Machbaren und dem Menschheitstraum von Frieden in Gerechtigkeit, ohne das eine mit dem anderen zu blockieren, ohne Strukturen gegen individuelle und kollektive Not auszuspielen, Erfahrungen gegen Visionen ­ kurz: Wir brauchen den explizit friedenspolitischen Zugriff, um die Richtung zu halten. Um zu gehen, damit wir sehen können, wohin wir denn kämen, wenn wir denn gingen.9
schen Aggressors, im Stich zu lassen. Damit sind wir bereits in eine Falle getreten. Ein wesentlicher Teil dieser Falle besteht in Allmachtsphantasien angesichts realer tagespolitischer Ohnmacht der Friedensbewegung im Kriegsfall: Was, zum Teufel, hätte es denn geändert, wenn wir für oder gegen eine Intervention Stellung bezogen hätten? Vesna Kesic, Gründerin und Mitarbeiterin von Frauenprojekten und politischen «Pressure Groups» in Zagreb und Projektpartnerin des cfd, nahm 1994 dazu folgendermassen Stellung:

«Wir haben eine Taktik entwickelt, um mit diesen Diskussionen nicht zuviel Energie zu verlieren. Dazu gehörte, auf Polemik nur dann zu reagieren, wenn es unsere Projekte wirklich beeinträchtigte. Natürlich muss frau sich verhalten zu realpolitischen Fragen, und als Privatpersonen haben wir das auch alle getan. Als Pazifistin und Feministin hätte ich eine begrenzte militärische Intervention 1992 begrüsst. Denn zu diesem Zeitpunkt war klar, dass dieser Krieg zum Genozid führt. Ethnische 'Säuberungen' sind ultimativ und politisch irreparabel. Eine Intervention hätte diese Kriegsentwicklung vielleicht unterbrechen können. Der

  1. Gutachten zu Handen der GSoA über zwei Initiativprojekte. Vorgelegt von Margrith von Felten und Karin Haeberli. Basel, im Februar 1997. Punkte 3.2.4.: Sicherheit für Männer, 3.2.5. Alltagsgewalt, 3.2.6. Gewalt macht
    Männer, 3.2.7. Perspektiven einer umfassenden Friedenspolitik.
  2. Titel von Urs Höltschis Beitrag in: cfd-Blatt Nr. 407. 1995. S. 14-17.
  3. ebd. S. 16.
  4. ebd. S. 17.
  5. MOMA. Monatsmagazin für neue Politik. Nr. 12-95/1-96. S. 43-48.
  6. Clemens Raming: Friedensperspektiven für das ehemalige Jugoslawien. Eine antimilitaristische Spurensuche. In: antimilitarismus information (ami) 6/97. 27. Jahrgang. Heft 6, Juni 1997. S. 23-30. 24. Zitiert aus dem Gespräch von Vesna Kesic und Stella Jegher, welches Franziska Müller wiedergibt in ihrem Artikel: Frauenbündnisse im Krieg. In: cfd-Blatt Nr. 406. 1994: Herrschaft und Gewalt. Männerfragen und Frauenstrategien. S. 27-29. 28.
  7. Wir reden von «Illegalisierten», denn darin wird eine Täterseite sichtbar; jemand kann nicht einfach «illegal» sein: Es gibt jemanden, der Menschen die Illegalisierung antut. «Wir», das ist eine Gruppe von Frauen und Frauenorganisationen, die seit Frühjahr '96 zur Lage illegalisierter Frauen und zum Widerstand dagegen arbeitet.
  8. 9 ziemlich frei nach Ernst Bloch.

*Dorothee Wilhelm ist Mitarbeiterin der cfd-Frauenstelle für Friedensarbeit
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