FriZ 1+2/2011

Dass im Vorfeld der eidgenössischen Wahlen die Konkordanz wieder zum Thema geworden ist, kann nicht verwundern, besonders seit dem Rücktritt von Micheline Calmy-Rey aus dem Bundesrat. Die Diskussionen tragen allerdings mehr zur Verwirrung als zur Klärung bei. Von Ruedi Tobler

Die Konkordanz muss erneuert werden

Anfangs Juli dieses Jahres ist Avenir Suisse mit der Publikation «Konkordanz in der Krise» an die Öffentlichkeit getreten, mit «Ideen für eine Revitalisierung».1 Ende Juli hat der Historiker Thomas Maissen in einem Interview mit dem St. Galler Tagblatt die Bildung einer bürgerlichen Regierung unter Führung der SVP, auf der Basis eines gemeinsamen Regierungsprogramms, vorgeschlagen.2 Beiden Vorschlägen gemeinsam ist, dass sie für die Wahlen in diesem Herbst zu spät kommen. Voraussetzung für die Reformvorschläge Hermanns ist eine Verfassungsänderung. Und wie sollen SVP, FDP und CVP mitten im Wahlkampf ein gemeinsames Regierungsprogramm aus dem Hut zaubern? Sich erst danach auf ein solches zu einigen, würde sogar noch den «Wahlkampfschlager» der SVP übertreffen, ihren so genannten «Vertrag mit dem Volk».3

Der Vorschlag von Maissen würde faktisch die grösstmögliche Korrektur der Bundesratswahlen von 2007 bedeuten - nämlich nicht nur die Rückkehr des grossen Führers der SVP in den Bundesrat, sondern dass ihm zugleich offiziell das Mandat zur Führung der Landesregierung anvertraut würde, unabhängig davon, ob er gleich auch noch zum Bundespräsident gewählt würde oder nicht. Denn die SVP erhielte drei Sitze im Bundesrat, für FDP und CVP blieben je zwei.4

Politische Konkordanz, nicht bloss arithmetisch

Recht zu geben ist Thomas Maissen wie auch Michael Hermann, dass die Konkordanz in einer tief greifenden Krise steckt. Beide liefern allerdings keine adäquate Analyse ihrer Ursache. Das ist vor allem ein Manko bei Hermann, der immerhin ein über zweihundertseitiges Buch verfasst hat. Indem er nicht auf die Entstehungsgeschichte der «Zauberformel» im Bundesrat von 1959 eingeht, blendet er zugleich deren politischen Gehalt aus. Beim Aufbau der Konkordanz ging es - entgegen dem was heute vor allem die SVP behauptet, aber nicht nur sie - nicht primär um die Aufteilung der Bundesratssitze unter den grössten Parteien nach deren Stärke. Voraussetzung dafür, überhaupt für die Beteiligung im Bundesrat in Betracht zu kommen, war die Anerkennung gewisser Werte und politischer Gemeinsamkeiten.

Zum einen war dies in der Zeit des Nationalsozialismus und danach im Kalten Krieg die Anerkennung der militärischen Landesverteidigung (von der SP im Programm von 1935 vollzogen), zum zweiten die Bereitschaft zum sozialen Ausgleich statt Klassenkampf (dafür hat das «Friedensabkommen» in der Metallindustrie von 1937 Pionierdienste geleistet) und zum dritten die Nichtzusammenarbeit mit links- oder rechtsextremen politischen Kräften (weder «Volksfront» noch «Frontenfrühling»). Dazu gehörte weiter eine gewisse Öffnung der Schweiz gegenüber der internationalen Staatengemeinschaft: 1961 Beitritt zur OECD, 1963 zum Europarat, 1966 zum GATT, 1969 erster Bericht zum Verhältnis der Schweiz zur UNO. Eine formelle Vereinbarung zur Konkordanz gab es aber nicht und schon gar keine Regeln über den Umgang mit Verstössen dagegen.

Konkordanz zeigt «Abnützungserscheinungen»

Nach dem Ende des Kalten Krieges hat sich die Bedeutung der militärischen Landesverteidigung stark relativiert.5 Zudem sind die Militärausgaben seit Jahren massiv abgebaut worden. Die endlosen Konzeptionsdiskussionen zeigen, dass kein Konsens mehr besteht in Bezug auf Ausrichtung und Aufgaben der Armee. Ein gemeinsamer Nenner der Konkordanz ist verloren gegangen. Besonders umstritten ist die Beteiligung an internationalen Einsätzen zur Friedenssicherung.

Aber auch sonst zeigte die Konkordanz gewisse «Abnützungserscheinungen». Bei der Frage des sozialen Ausgleichs gehen die Meinungen zunehmend auseinander. So sind einerseits neoliberale Staatsabbau- und Deregulierungstheorien ins Spiel gebracht worden, während anderseits zunehmend umstritten ist, welche sozialen Absicherungen wie zu finanzieren sind. Ob es angesichts der sich ständig öffnenden Schere zwischen arm und reich und den explodierenden Millionenbezügen für gewisse Manager gelingen kann, den sozialen Frieden in der Schweiz zu retten, ist fraglich. Da wäre eine Erneuerung der Konkordanz gefragt.

Seit sich Christoph Blocher zum Führer der SVP aufgeschwungen und diese Partei gemeinsam mit andern Multimillionären faktisch aufgekauft und privatisiert hat, hat er sie auch von einer gutbürgerlichen Partei - wofür der frühere Name Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei symbolisch steht - zu einer Rechtsaussenpartei transformiert. Selbst Berührungsängste mit rassistischen Organisationen sind ihm fremd. Seine politischen Sporen abverdient hat er sich ja in der aktiven Unterstützungsarbeit für die Apartheid in Südafrika. Erst nach deren Zusammenbruch hat er seinen politischen Schwerpunkt auf die Schweizer Politik verlegt. So ist es alles andere als ein Zufall, dass er 1997 in einem Brief das Buch «Vom Untergang der Freiheit» von Jürgen Graf lobte, in dem dieser die Leugnung des Holocaust begründet und verteidigt. Als Herr Blocher vor den Wahlen 1999 deswegen kritisiert wurde, hatte er nur die fadenscheinige «Rechtfertigung» vorzubringen, er habe den Holocaustleugner Graf nicht gekannt und das Buch nicht gelesen...

Konkordanz ist nur ohne SVP möglich

Die SVP hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur nicht vom Rechtsextremismus abgegrenzt, sie wurde zum eigentlichen Magneten für viele am Parlament interessierte rechtsextreme Kreise, die fast alle mit offenen Armen empfangen wurden. Das hat immer wieder zu Kritik in den Medien geführt, ohne dass dies auf die Haltung der SVP Einfluss gehabt hätte. Auch der grösste Teil der Autopartei ist in der SVP aufgegangen. Und die Zürcher SVP ist nicht davor zurückgeschreckt, deren Exponenten Michael E. Dreher als Nationalratskandidaten aufzustellen, 2007 sogar auf Platz eins der «SVP Auto-Liste». Berüchtigt geworden ist Herr Dreher dadurch, dass er 1988 das propagiert hat, was Anders Behring Breivik in Norwegen am 22. Juli 2011 in die Tat umgesetzt hat: möglichst viele Linke auszutilgen. Bei Herrn Dreher tönte das damals so: «Linke und Grüne an die Wand nageln und mit dem Flammenwerfer drüber.»6 Für die SVP nach wie vor kein Problem. Genau so wenig, wie sie Hemmungen hat, sich für ihre Werbung des Grafikstils der Nazis zu bedienen. In ihrer Hetzpolitik gegen «Fremde», «Asoziale» und «Linke» greift sie ja auch auf das gleiche Gedankengut zurück.

Erstarkende Rechtsaussen-Parteien gibt es praktisch in allen europäischen Ländern. Da bildet die Schweiz keine Ausnahme. Ungewöhnlich ist aber, wie die SVP von den andern Parteien mit «Samthandschuhen» angefasst und nicht zur Einhaltung der Grundregeln der Konkordanz ermahnt wird, als ob die Nichtabgrenzung gegen Extremismus eine Bagatelle wäre. Und warum haben FDP und CVP Hemmungen klarzustellen, dass eine solche Praxis nicht als bürgerliche Politik anerkannt werden kann?

Eine Besserung des politischen Klimas und der politischen Verhältnisse ist vom Vorschlag Maissens nicht zu erwarten, denn in einer Regierung mit einem gemeinsamen Programm würden FDP und CVP noch enger an die SVP gebunden. Und die Vorschläge Hermanns sind kurzfristig nicht umsetzbar. Aber selbst wenn dies möglich wäre, ist es fraglich, ob sie die gewünschte Wirkung erzielen würden. Denn sie bleiben auf einer technokratischen Ebene und blenden die politischen Dimensionen aus.

Was in erster Linie nötig wäre, ist eine Rückbesinnung auf die Grundsätze der Konkordanz.7 Deren Gedanke, die zentralen Probleme gemeinsam und nicht gegeneinander zu lösen, ist nach wie vor zeitgemäss. Und für die Wiederbelebung der Konkordanz braucht es keine institutionellen Veränderungen. Eine Konkordanzregierung, ohne Beteiligung der SVP, kann mit gutem Willen der konstruktiven politischen Kräfte nach den eidgenössischen Wahlen im kommenden Dezember in neuer Zusammensetzung gewählt werden.

Ruedi Tobler ist Präsident des Schweizerischen Friedensrates

Fussnoten

1 Michael Hermann: Konkordanz in der Krise. Ideen für eine Revitalisierung, Hg. Avenir Suisse, Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich, 2011, ISBN 978-3-03823-732-7, 232 Seiten, Fr. 38.-.
2 «Die Schweiz wird nicht regiert». Interview mit dem Historiker Thomas Maissen, St. Galler Tagblatt, Samstag, 30. Juli 2011, Nr. 176; Aufriss auf der Titelseite unter dem Titel «Geschichtsprofessor schlägt Bundesrat ohne SP vor».
3 Der hat ja idealtypisch aufgezeigt, welche Rolle die SVP dem Volk zuschreibt: Ohne Möglichkeit auch nur irgend etwas dazu zu sagen - und schon gar nicht mitzubestimmen - die Beschlüsse der Partei zu schlucken.
4 Das könnte für diese beiden Parteien insofern attraktiv sein, als die FDP nicht mehr um einen ihrer Sitze bangen müsste und die CVP ihren angestrebten zweiten Sitz kampflos zurück erhielte. Und die beiden Parteien könnten sich erst noch sagen, dass mit ihrer gemeinsamen Mehrheit im Bundesrat tatsächlich eine bürgerliche Mehrheit gegeben sei, unabhängig davon, wie stark die SVP weiter nach rechtsaussen abdriftet. Aber wie würde das konkret aussehen? Die Abschaffung der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus könnte ja allenfalls noch mehrheitsfähig sein. Aber möchten FDP und CVP ernsthaft Kernpostulate der SVP mittragen, wie die Aufkündigung der Personenfreizügigkeit mit der EG und damit der Schengen/Dublin-Abkommen, Ausschaffungen unter Verletzung des zwingenden Völkerrechts, die Kündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention, den Austritt aus der UNO, das Bankgeheimnis zum Schutz auch schmutziger Gelder in der Verfassung verankern, die Rückkehr zum Massenheer des Kalten Krieges? Wenn aber FDP und CVP die zentralen Anliegen der SVP nicht mittragen würden, wie könnte eine gemeinsame Regierung dieser drei Parteien funktionieren?
5 So wurde 1998 die Zentralstelle für Gesamtverteidigung sang- und klanglos abgeschafft und 2005 haben die führenden BildungspolitikerInnen aller vier Bundesratsparteien, inklusive SVP, in gleich lautenden Motionen (05.3360, 05.3378, 05.3379, 05.3380, 05.3381) die Aufhebung des VBS vorgeschlagen, um so Platz für ein Bildungsdepartement zu schaffen.
6 Siehe etwa Spiegel vom 16. Mai1988 (S. 210), online: www.spiegel.de/spiegel/print/d-13529091.html
7 Sehr bedenkenswert sind in diesem Zusammenhang die zehn Thesen des Club Helvétique «Zukunftsfähige Konkordanz» (zu finden unter: www.clubhelvetique.ch/downloads/framedownD.htm)


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