friZ 3+4/2010

Der Kauf und Verkauf von Menschen war und ist eine Form der Sklaverei - die es auch in der Schweiz gab und gibt. Elisabeth Joris zur Geschichte des Menschenhandels in der Schweiz.

Vielschichtige Zirkulationsstränge

Unter dem Begriff «Menschenhandel» verstehe ich im folgenden Text auch für die Schweiz die Anbietung, Anwerbung, Beförderung, Vermittlung, Abnahme und Beherbergung von Frauen, Männern und Kindern durch Androhung oder Anwendung von Gewalt und anderen Formen machtbedingter Druckausübung unter Ausnutzung von sozialer und ökonomischer Abhängigkeit sowie von Armut generell zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung, der Zwangsarbeit und/oder der Aneignung von materiellem Gewinn und Mehrung des geschäftlichen Profits. Ein entscheidendes Kriterium für den Opferstatus ist die Unmöglichkeit, das Ausbeutungsverhältnis aufzukündigen oder aus diesem auszubrechen, ohne erneut in eine Zwangslage zu geraten.1

«hominum commercium» – der Söldnerhandel

«hominum commercium», Menschenhandel, so lautete nach Valentin Groebner2 zu Beginn des 16. Jahrhunderts der Standardvorwurf gegen die Schweizer. Gemeint war damit der Söldnerhandel, da von einflussreichen Herren die Söldner an denjenigen verkauft wurden, die am meisten bezahlten. Dass es sich beim Solddienst nicht einfach um einen freiwilligen Kriegsdienst handelte, davon zeugen die vielen, in den eidgenössischen Orten erlassenen Massnahmen gegen Deserteure, die sich vom 16. bis zum 18. Jahrhundert dem Dienst durch Flucht zu entziehen suchten. Denn sie konnten den Dienst nicht individuell quittieren: die Herren hatten Verträge abgeschlossen, mit denen diese sich beispielsweise dem französischen König gegenüber verpflichtet hatten, eine bestimmte Menge an Rekruten zu liefern.

«marchandises de la traite» – Tauschwaren für den Sklavenhandel

Banken aus der Schweiz hielten noch kurz vor der Französischen Revolution von 1789 bis zu einem Drittel der Aktien der französischen Compagnie des Indes, die das Monopol im Sklavenhandel in Westafrika besass. Eine bedeutende Zahl von Schweizer Händlern hielten sich deshalb in den atlantischen Hafenstädten Nantes und Bordeaux auf, wo sie in den Zeitungen per Inserat «des marchandises de la traite» anboten – Tauschwaren für den Sklavenhandel. Vor allem mit orientalischen und indischen Mustern bedruckte Baumwolltücher, auf deren Produktion beispielsweise die Glarner spezialisiert waren, galten als «argent de la traite» – Tauschwährung. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, während der Hochblüte des Sklavenhandels, lieferten Schweizer Firmen 80 bis 90 Prozent dieser gefragten Textilien. Diese machten fast die Hälfte sämtlicher Handelsware aus, die von Sklavenschiffen nach Afrika gebracht wurden, wo sie gegen Sklaven eingetauscht wurden, die dann in die Karibik, nach Nord- und nach Südamerika verkauft wurden. Insgesamt haben Schweizer Sklavenhändler und Financiers in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf 80 Schiffsexpeditionen rund 15 000 bis 20 000 Sklaven in die Karibik sowie nach Nord- und Südamerika verschifft.3

Auswandern – Geschäfte mit der Armut

Schweizer verdienten auch bei der freiwilligen Migration an der Überfahrt, wobei die Menschen, die nicht über die genügenden Mittel verfügten, sich in persönliche Dienstknechtschaft begaben oder für Jahre über nicht früher aufkündbare Verträge – die so genannte Kontraktarbeit (s. Randspalte) – an einen Arbeitgeber gebunden waren.4
Erst in den letzten Jahren wurden von der historischen Forschung Formen von langjähriger oder kurzfristiger und temporärer Migration von Kindern untersucht. Beispielsweise das Schicksal der Tessiner Kinder, die als Kaminfeger in Norditalien der schlimmsten Ausbeutung, dem Missbrauch und höchster Bedrohung der Gesundheit ausgeliefert waren. Oder die Schwabengängerei armer Bündner Kinder, die vom Frühling bis zum Herbst nach Süddeutschland verdingt wurden.5

Rechtlos und missachtet – die Verdingkinder

Fast wie auf dem Sklavenmarkt wurden Kinder im 19. Jahrhundert den Bauern angeboten; viele von ihnen wurden geknechtet und geschlagen. Da die Behörden die Kinder meistens den Mindestfordernden überliessen, kam es auf diesen öffentlichen Zurschaustellungen zu eigentlichen «Absteigerungen». Verdingt – oder «verakkordiert», wie es auch hiess – wurden die Kinder in der Regel auf ein Jahr. Auch wenn die Kinder nicht öffentlich versteigert beziehungsweise abgesteigert wurden, hiess das noch nicht, dass es ihnen besser ging. Weil die Schonung der Armenkasse für alle Gemeinden in der Regel das entscheidende Kriterium war, wollten auch sie dem abnehmenden Bauern jeweils nur den kleinstmöglichen Betrag zahlen.6

Überregional und transnational – Prostitution am Ende des 19. Jahrhunderts

Prostitution als organisiertes Gewerbe entwickelte sich in der Schweiz im Kontext der grossen Infrastrukturprojekte wie des Eisenbahn- und Tunnelbaus, insbesondere jedoch im Kontext der Verstädterung. Dass es im Tunnelbaudorf Göschenen während des Baus der ersten Alpenquerung Prostitution gab, ist über gerichtliche Akten verbrieft. Im Zusammenhang mit polizeilichen Untersuchungen traten um 1880 sechs der Prostitution verdächtigte Frauen von 14 bis 28 Jahren in den Akten auf. Sie waren ausnahmslos Auswärtige: arme Frauen und Mädchen aus Orten der umliegenden Region, aus Altdorf, Stans und vier Luzerner Dörfern.7
In den Städten war der Strassenstrich, was die Zahl der Prostitution anbelangt, weit bedeutender als die Prostitution in Bordellen. Diese waren aber weit stärker im transnationalen Frauenhandel involviert, wie aus dem Begleitband «Wertes Fräulein, was kosten Sie?» zur gleichnamigen Ausstellung im Zürcher Museum an der Bärengasse von 2004 hervorgeht.8 Zwar erlangten die Prostituierten in den Bordellen einen gewissen Schutz und bessere hygienische Verhältnisse, standen aber unter der Kontrolle von Ärzten, Polizisten sowie Bordellhalter und Bordellhalterinnen, das heisst zum Preis des fast gänzlichen Verlustes ihrer persönlichen Freiheit. Den Weg ins Bordell fanden die jungen Frauen in den meisten Fällen über so genannte Mädchenhändler und Kupplerinnen. Der soziale Hintergrund der Bordellprostituierten war demjenigen der Strassenprostituierten ähnlich, ihre Herkunft jedoch internationaler. Die Mehrheit von ihnen stammte aus dem Ausland, vor allem aus Süddeutschland und aus dem Elsass. Aufschlussreich sind diesbezüglich die von Regula Bochsler aufgezeigten überregionalen und internationalen Geschäftsbeziehungen einer Zürcher Kupplerin, die genau Buch führte über Anzahl, Alter, Herkunft, Ein- und Austritt der gehandelten Frauen.9 Die bei einer Hausdurchsuchung von der Polizei beschlagnahmten Visitenkarten und Briefkorrespondenzen verweisen auf Beziehungen mit Bordellen in Amsterdam, Bremerhaven, Strassburg, Mülhausen, Besançon, Mailand sowie in Bern, Biel und Genf. Ein handgeschriebenes Verzeichnis führt Adressen von Bordellen zwischen Algier, Moskau, Amsterdam und Montevideo auf. Dass die Prostituierten dabei wie Waren gehandelt wurden, geht auch aus Briefen hervor. Die betreffende Kupplerin belieferte die meisten Zürcher Bordelle. Zum Teil reiste sie selber in andere Bordelle, auch im Ausland, und holte die Prostituierten ab, die sie dann in Zürich platzierte. Sie zahlte am früheren Ort Geld für die Prostituierte und bezog in Zürich Vermittlungsgebühr. Eine Prostituierte erklärte etwa: «35 fr. musste sie in Montbéliard für mich bezahlen.» In Zürich selbst hielt sich die Kupplerin Mittelsmänner, die junge Frauen zu ihr brachten. Aktiv unterstützt wurde sie von ihrem Ehemann, aber auch von ihrer Tochter, die Kuppelei war ein Familiengewerbe.
Der Bericht des Zürcher Sanitätsrats aus dem Jahr 1891 ist eine weitere aussagekräftige Quelle, die Einblick in den transnationalen Frauenhandel beziehungsweise «Mädchenhandel» beim Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert ermöglicht. Darin wird belegt, dass Zürcher Prostituierte zuvor beispielsweise in Prag, Lyon, Budapest, Leipzig oder Buenos Aires gearbeitet hatten, und in der Regel zwischen 18 und 23 Jahre alt waren.10 Weil die männliche Klientel – effektiv oder nur angeblich – nach Abwechslung verlangte, wurden die als Prostituierte beschäftigten Frauen nach kurzer Tätigkeit in einem Bordell in ein anderes verschoben.

Globalisierung - Auswirkungen des Vietnamkrieges

Während des Vietnamkrieges in den 1960er Jahren wurde die nahe gelegen Hauptstadt Thailands zur Stadt der so genannten Erholung für die US-amerikanischen GIs (rest and recreation); ganze Stadtviertel Bangkoks waren damals von Bordellen geprägt. «Thai-Girls», aber auch vietnamesische Tänzerinnen, wurden nun zunehmend auch in Schweizer Animierlokalen angeboten. Es war der Anfang des sich nun auch in der Schweiz auf die so genannte Dritte Welt ausdehnenden globalisierten Frauenhandels, der sich nach dem Fall der Berliner Mauer seit den 1990er Jahren erneut auf Mittel- und Osteuropa ausdehnt.

Historisches Fazit

Opfer von Menschenhandel in der Schweiz oder von SchweizerInnen waren während der letzten 500 bis 600 Jahre ebenso Frauen wie Männer, Alte wie Junge, Erwachsene wie Kinder. Fast allen Opfern gemeinsam war ihre prekäre soziale Herkunft. Dennoch ist es wichtig, die Unterschiede in den Abhängigkeitsverhältnissen nicht zu verwischen. Die Lage eines Reisläufers aus dem 16. oder 17. Jahrhundert lässt sich nicht gleichsetzen mit derjenigen einer Prostituierten im Zürich der Belle Epoque.


Elisabeth Joris lebt als freischaffende Historikerin und veröffentlichte mehrere Bücher sowie zahlreiche Beiträge zur Frauen- und Geschlechtergeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie ist Mitbegründerin der Zeitschrift Olympe – feministische Arbeitshefte zur Politik.
Dieser Text ist ursprünglich als Referat für die Tagung «Ware Frau – Ware Mann – Ware Kind. Zum Thema Menschen-Handel und Menschen-Ausbeutung in der Schweiz» im September 2010 in Zürich entstanden (siehe www.agava.ch).


Fussnoten

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