Ich wurde im Kalten Krieg geboren, 1985. Die Welt war voller Atomwaffen. Schon im Kindergartenalter erfuhr ich, dass solche Waffen die ganze Welt vernichten könnten – theoretisch tausendfach. Doch irgendwie geriet für mich diese doch eigentlich nicht hinnehmbare Vorstellung über Jahre in Vergessenheit. Und heute? In mir ist eine Einsicht gereift: Die fortdauernde Existenz von Atomwaffen ist unverzeihlich. Ich bin Student und beschäftige mich, so oft es geht, mit Möglichkeiten zur atomaren Abrüstung. Noch heute gibt es auf der Welt mehr als 22000 Atomwaffen; die ungefähren 2000 auf jeweils US- und russischer Seite, von denen in den letzten Monaten berichtet worden ist, sind allein die stationierten Atomwaffen mit interkontinentaler Reichweite. Oft wird übersehen, dass es darüber hinaus Tausende gibt, die eingelagert, aber noch längst nicht verschrottet sind. Was auch oft übersehen wird, ist, dass sich die stationierten Atomwaffen zum Grossteil nach wie vor im Zustand der höchsten Alarmbereitschaft befinden, das heisst binnen Minuten einsetzbar sind. Wer garantiert, dass Russland nicht eines Tages – wie schon oft geschehen – einen Wettersatelliten oder eine Mondspiegelung in einer Wolke für eine anfliegende US-Interkontinentalrakete hält? Und dann in der Überprüfungs- und Befehlskette aufgrund von Stress Fehler gemacht werden und Russland atomar zurück schiesst? US-Amerikaner und Europäer sind aus der Angst vor Terroristen teilweise so weit gegangen, dass sie die Ideale, welche sie glauben zu verteidigen, verraten haben – in Guantanamo, beim so genannten Waterboarding, in ungezählten Fällen im Irak, in Afghanistan und anderswo. Doch was sie, was wir verdrängen, ist, dass unsere fundamentale Sicherheit auch von der Funktionstüchtigkeit etwa russischer Technik abhängt. Schon 2005 fragte der Berliner Kulturwissenschaftler Thomas Macho in der «Zeit», warum es in der Bevölkerung keine Angst mehr vor Atomwaffen gebe!? Er gab zu, keine Antwort darauf zu haben.
Auch ich, der ich selbst jahrelang keine solche Angst gespürt habe, masse mir nicht an, die Antwort zu kennen. Zu sagen ist aber:
1. Atomwaffen tauchen nicht oder kaum in schulischen Lehrplänen auf, höchstens als historischer Stoff.
2. Die Berichterstattung in den Medien ist zwar durch den neuen START-Vertrag zwischen USA und Russland und durch den Sicherheitsgipfel im April wieder intensiviert worden, doch in ihrem Umfang längst nicht vergleichbar mit derjenigen über ein anderes globales Problem, den Klimawandel. Der Klimagipfel in Kopenhagen im Dezember 2009 war – vollkommen zu Recht – tagelang präsent in Fernsehen, Zeitungen, Radio und Internet. Erfuhren wir dagegen aus den Medien, dass kürzlich – vom 3. bis zum 28. Mai 2010 – die Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages in New York abgehalten wurde? Diese Konferenz war für die Zukunft der atomaren Abrüstung so existentiell wie Kopenhagen für das Klima – doch sie fand nahezu unbemerkt statt.
3. In den USA ist der militärisch-industrielle Komplex so gross, dass der Bevölkerung immer noch eingebläut wird, auch von allerhöchster Stelle, Atomwaffen würden sie verteidigen. Doch gegen die erklärten Hauptfeinde des Westens, die staatenlosen Terroristen, helfen Atomwaffen rein gar nichts.
Wir lullen uns also selbst ein, indem wir uns nicht richtig informieren, indem wir Atomwaffen in die Zeiten des Kalten Krieges und in James-Bond-Filme verbannen, indem wir nicht-gefundene Atomwaffen im Irak mystifizieren, indem wir uns von so genannten Sicherheitsexperten einflössen lassen, Atomwaffen aufzugeben sei nicht möglich, solange es die jeweils anderen auch nicht täten; indem wir uns schlichtweg nicht mehr für das Thema interessieren. Wir jungen Menschen von heute brauchen keine Atomwaffen, denn wir sind nicht mehr die Feinde der Russen oder der Chinesen. Doch indem wir diese alten Waffen erben, werden wir – ob wir wollen oder nicht - in die alten Konfliktbahnen gepresst. Wir müssen die jungen Menschen in Russland, China, Indien, Pakistan und anderswo fürchten – denn auch sie erben Atomwaffen. Es ist Zeit, dass unsere Generation staatenübergreifend aufsteht und dieses ewige Belauern und Misstrauen und die Angst vor der Verletzung des nationalen Stolzes überwindet und gegen Interesse, Verständnis und Vertrauen tauscht. Das ist der Nährboden für die Einsicht, dass Atomwaffen niemandem nützen, aber allen schaden können. Diese Waffen haben nach wie vor das Potential, das ultimative Verbrechen an Menschheit, Natur und Zukunft zu verüben – die Vernichtung unserer Welt. So etwas ist durch keine «Sicherheitsdoktrin» der Welt zu rechtfertigen.
Wir können als zukünftige Politiker und Wissenschaftler an völkerrechtlichen Verträgen zur Abrüstung mitwirken, wir können Methoden zur unwiderrufbaren Abrüstung von Sprengköpfen und Trägerraketen entwickeln. Als Zivilgesellschaft können wir die Politik staatenübergreifend zur alleinigen Option «Abrüstung» drängen. Es gibt überall auf der Welt Politiker, Wissenschaftler und zivilgesellschaftlich Organisierte, welche dankbar auf unserer Seite stehen werden.
Eine letzte Bemerkung: Vielleicht glauben Sie, eine Erfindung wie Atomwaffen könne nicht mehr rückgängig gemacht werden!? Das ist nicht von der Hand zu weisen – doch bedenken Sie, dass wir Deutschen auch einmal den millionenfachen industrialisierten Mord in Gaskammern erfunden und betrieben haben. Das ist heute, 65 Jahre später, undenkbar. Greifen wir also nicht zur Denksperre, Atomwaffen könnten nicht abgeschafft werden. Sondern fühlen wir uns selbst dafür verantwortlich!
Eine Chronologie des nuklearen Zeitalters von 1945 bis 2010 erscheint in regelmässigen Folgen auf der Homepage des Düsseldorfer Instituts für Sicherheits- und Aussenpolitik (DIAS). Sie soll einen kleinen Beitrag leisten, die nukleare Problematik wieder verstärkt in den wissenschaftlichen und vielleicht sogar politischen und zivilgesellschaftlichen Fokus zu rücken. Berichtet wird darin von bedeutsamen und meistens gefährlichen Ereignissen der letzten 65 Jahre, etwa der Kubakrise oder dem Nato-Doppelbeschluss. Die Chronologie fasst völkerrechtliche Rüstungskontroll-, Nonproliferations- und Abrüstungsverträge zusammen und schildert nicht zuletzt die Bemühungen von Wissenschaft und Zivilgesellschaft um nukleare Abrüstung.
So sehr das Ende des Kalten Krieges eine Zäsur in den internationalen Beziehungen dargestellt haben mag, so sehr wird in der Chronologie erkennbar, dass die Geschichte der Nuklearwaffen 1990/91 keineswegs zu Ende ging, sondern sich bis heute und oft verhängnisvoll fortsetzt. Die Chronologie möchte historisch, politisch und völkerrechtlich Interessierten als Ausgangspunkt und Nachschlagewerk für vertiefende Recherche dienen. Nahezu alle politischen Statements, wissenschaftlichen Empfehlungen und völkerrechtlichen Verträge, welche im Folgenden thematisiert werden, sind hierfür im Original gesichtet worden.
(mvdm)
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