friZ 2/2010

Für die schweizerische Aussenministerin ist die Schweiz geradezu prädestiniert, um sich in Zukunft noch stärker für die weltweite Abrüstung der Atomwaffen einzusetzen. Nachstehend einige Gedanken dazu von Micheline Calmy-Rey

Eine Rolle für die Schweiz?

Es ist eine berechtigte Frage, weshalb sich gerade die Schweiz mit nuklearer Abrüstung befassen soll. Man könnte argumentieren, dass es hauptsächlich oder ausschliesslich die Aufgabe der Nuklearwaffenstaaten ist, Abrüstungsverhandlungen zu führen und Abrüstungsverpflichtungen umzusetzen. Nur diese Staaten haben überhaupt Waffen abzurüsten. Nur sie verfügen über das organisatorische und technische Wissen, um die Abrüstung im Konkreten durchzuführen. Nur sie haben vertiefte Erfahrungen im zentralen Bereich der Verifikation.
Ich teile die Haltung nicht, dass die nukleare Abrüstung den Nuklearstaaten überlassen werden sollte. Die Erfahrung zeigt, dass der politische Wille zur Abrüstung volatil ist und oft nicht über längere Zeitspannen anhält. Die Bereitschaft, Abrüstungsverhandlungen zu führen, hängt stark von der aktuellen weltpolitischen Situation ab. Diese kann rasch ändern. Eine Phase der Entspannung kann in eine Phase der Konfrontation umschlagen. Nichtnuklearstaaten wie die Schweiz können dazu beitragen, den Abrüstungsprozess zu verstetigen. Sie können die Nuklearmächte regelmässig an ihre Abrüstungsverpflichtungen erinnern, wie sie im Atomwaffensperrvertrag (Nonproliferationsvertrag, NPT) festgeschrieben sind. Sie können an internationalen Konferenzen den Druck zur Abrüstung aufrechterhalten, sie können Verhandlungs- und Diskussionsvorschläge einbringen und Verhandlungsplattformen anbieten.

Damoklesschwert Atomwaffen

Die Schweiz und die anderen Nichtnuklearwaffenstaaten sind ganz direkt von der Nuklearrüstung betroffen. Denn die Nuklearwaffen sind ein Damoklesschwert, das über der ganzen Welt hängt. Wir alle sind «stake holders» der nuklearen Bedrohung. Im Kalten Krieg war uns diese Bedrohung ständig präsent. Mit seinem Ende ist unsere Angst vor einem ausgedehnten Nuklearkrieg geschwunden. Aber die Gefahr, die von den Nuklearwaffen ausgeht, ist noch nicht gebannt. In einigen Weltregionen, etwa in Südasien, stehen sich regionale Nuklearmächte gegenüber. Wenn diese in einem Konflikt ihre Nuklearwaffen einsetzen würden, könnte dies einen weltweiten nuklearen Winter auslösen, der die globale Landwirtschaft während Jahren schwer einschränken und furchtbare Hungersnöte zur Folge haben könnte – auch in den reichen Ländern. Dies haben neuere Studien auf der Basis der neuesten Klimamodelle bestätigt. Eine weitere Gefahr geht von jenen tausenden Nuklearwaffen Russlands und der USA aus, die zwanzig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges weiterhin auf einem sehr hohem Bereitschaftsgrad verbleiben und aufgrund von Frühwarninformationen eingesetzt werden können. Die Wahrscheinlichkeit eines unbeabsichtigten Nuklearkrieges – eines Krieges, der durch technische Fehler, Hacking oder durch eine Fehlinterpretation der Frühwarninformationen ausgelöst werden könnte – ist wohl nicht sehr gross. Aber sie ist nicht gleich null. Die Schweiz und alle anderen Länder der Welt würden durch den willentlichen oder unbeabsichtigten Einsatz von Nuklearwaffen auf umfassende Weise mit betroffen. Die desaströsen Folgen auf Umwelt, Klima, Ernährung, Migration und Wirtschaft würden alle Staaten treffen. Wir haben daher das Recht – und ich meine: die Pflicht - uns an den Abrüstungsbestrebungen zu beteiligen. Der Atomwaffensperrvertrag legitimiert uns vollends dazu.

Die Aktivitäten der Schweiz

Die Schweiz ist gut positioniert, sich für die nukleare Abrüstung einzusetzen. Sie unterhält gute Beziehungen zu allen Staaten einschliesslich der Nuklearmächte. Sie hat eine hohe Glaubwürdigkeit; man unterstellt ihr keine verdeckten Absichten oder taktischen Spiele. Auch ihre Neutralität kommt ihr in Abrüstungsverhandlungen zugute. Die Schweiz hat sodann in verschiedenen Bereichen pragmatische Beiträge zur Abrüstung geleistet, z. B. bei den Chemie- und Biologiewaffen, den Antipersonenminen und bei der Streumunition.
Der Bundesrat setzt sich für die nuklearen Abrüstung ein, so wie er sich generell für die Abrüstung aller Massenvernichtungswaffen einsetzt. Er hat im Aussenpolitischen Bericht 2009 und im Sicherheitspolitischen Bericht 2010 angekündigt, seine Unterstützung der nuklearen Abrüstung noch zu verstärken.
Gegenwärtig setzt sich die Schweiz international vor allem für die Delegitimierung der Nuklearwaffen und die Absenkung ihres Bereitschaftsgrades ein (sog. «De-Alerting»). Im weiteren bietet die Schweiz ihre traditionellen Guten Dienste für Abrüstungsgespräche und -verhandlungen an.

Delegitimierung der Nuklearwaffen

Anfangs Mai dieses Jahres habe ich in meiner Rede an der Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrags die Nuklearwaffen als unbenutzbar, unmoralisch und illegal bezeichnet. Unbenutzbar sind die Waffen, weil durch einen Zweitschlag auch der Angreifer inakzeptable Zerstörungen erleidet. Unmoralisch sind sie, weil sie Menschen in Massen töten und die Umwelt auf lange Zeit hinaus schädigen. Illegal schliesslich sind die Nuklearwaffen, weil jeder Einsatz die fundamentalen Prinzipien des humanitären Völkerrechts verletzen würde. In einem realistischen Szenario ist eine Beschränkung der Nuklearwaffen auf militärische Ziele und die Verschonung von Zivilisten und zivilen Einrichtungen nicht denkbar. Ich habe daher eine Akzentverschiebung auf die humanitären Perspektive und ein völkerrechtliches Verbot der Nuklearwaffen gefordert. Damit unterstützte ich einen Vorschlag des Uno-Generalsekretärs vom Oktober 2008.
Die Schweiz setzt sich für die Delegitimierung der Nuklearwaffen ein. Dies ist ein Prozess, der die rechtliche und politische Fragwürdigkeit dieser Waffen aufzeigt und eine Vorstufe zu einem Verbot bildet, z.B. zu einem Einsatzverbot. Ein Einsatzverbot wäre ein sinnvoller Zwischenschritt auf dem Weg zur umfassenden nuklearen Abrüstung. Für ein solches stufenweises Vorgehen gibt es einen Präzedenzfall im Bereich der chemischen Waffen. Hier ging das Einsatzverbot dem umfassenden Verbot von Herstellung, Besitz und Einsatz um Jahrzehnte voran. Die Schweiz hat 2009 und 2010 verschiedene Länder zu informellen Diskussionen über die Frage der Delegitimierung der Nuklearwaffen eingeladen. Sie hat eine Studie in Auftrag gegeben, welche Wege zur Delegitimierung aufzeigt.1 Ein Vorentwurf wurde an einem Seminar in der Schweiz mit den Autoren und einer Gruppe von Ländern intensiv diskutiert. Die Studie legt den Hauptakzent auf die humanitären Folgen eines Waffeneinsatzes und unterstreicht die Rolle des humanitären Völkerrechts. Sie zeigt auch die überschätzte Rolle der nuklearen Abschreckung auf. Die Abschreckungswirkung auf potentielle Angreifer ist das Hauptargument, das für die Nuklearwaffen ins Feld geführt wird. Die Studie wurde im Mai am Rande der NPT-Überprüfungskonferenz vorgestellt und erzeugte eine gute Resonanz. Sie soll jetzt dazu verwendet werden, den Prozess der Delegitimierung der Nuklearwaffen zu unterstützen. An der NPT-Konferenz hat sich die Schweizer Delegation erfolgreich dafür eingesetzt, dass die katastrophalen humanitären Auswirkungen eines Nuklearwaffeneinsatzes und die uneingeschränkte Gültigkeit des humanitären Völkerrechts im Schlussdokument Erwähnung finden.

«De-Alerting» der Nuklearwaffen

Noch heute verbleiben tausende Nuklearwaffen auf einem sehr hohem Bereitschaftsgrad. Dies könnte, wie erwähnt, zu einem unbeabsichtigten Nuklearkrieg führen. In der Vergangenheit haben sich einige sehr kritische Vorfälle ereignet.
In den Jahren 2007 und 2008 hat eine Gruppe von Ländern – Chile, Neuseeland, Nigeria, Malaysia, Schweden und die Schweiz – eine Resolution mit dem Titel «Decreasing the Operational Readiness of Nuclear Weapons»2 in die Uno-Generalversammlung eingebracht. Die Resolution hat breite Unterstützung gefunden. 2010 wird sie erneut vorgelegt.
Um die Debatte über das Thema zu dynamisieren, haben die Schweiz und Neuseeland eine Studie zum Thema «De-Alerting» in Auftrag gegeben3. Sie wurde anlässlich eines Seminars in der Schweiz mit russischen und amerikanischen Expertenteams sowie Vertretern von Nichtnuklearstaaten erarbeitet. Die Studie zeigt auf, wie die Nuklearmächte den Bereitschaftsgrad ihrer Waffen absenken und die Sicherheit der Systeme erhöhen können. Sie wurde im Oktober 2009 am Rande des Ersten Ausschusses der Uno-Generalversammlung, später auch in Washington, Moskau und Brüssel im Nato-Rahmen vorgestellt, um das Thema bei Entscheidungsträgern zu positionieren.

Gute Dienste

Die Schweiz hat eine lange Tradition der Guten Dienste im Bereich der internationalen Sicherheit. Sie hat ihre Dienste und ihr Territorium für Abrüstungsverhandlungen und -gespräche zur Verfügung gestellt. Die Schweiz hat auch Seminare mit amerikanischen, russischen und europäischen Experten zu verschiedenen Sicherheitsthemen organisiert (z.B. De-Alerting, Delegitimierung der Nuklearwaffen, neue Sicherheitsstruktur für Europa). Diese Dienstleistungen werden wir auch weiter erbringen.

Was können wir erwarten?

Abrüstungsprozesse können sehr schwierig und langwierig sein. Da Sicherheit ein zentrales Anliegen jedes Staates ist, sind Staaten nur dann bereit abzurüsten, wenn sie davon überzeugt sind, dass dadurch ihre Sicherheit erhöht und jedenfalls nicht beeinträchtigt wird. Der Vertrauensbildung zwischen den Ländern kommt dabei eine zentrale Rolle zu. Die Schweiz ist ein Staat ohne machtpolitische Ambitionen, jedoch mit Erfahrung in Friedensförderung und Mediation, in humanitärem Völkerrecht und in internationaler Verhandlungsunterstützung. Sie hat einen Leistungsausweis als lösungsorientierte, pragmatische und beharrliche Partnerin in internationalen Prozessen. Unsere Dienstleistungspalette ist gut. Wir werden sie im Bereich der nuklearen Abrüstung noch vermehrt anbieten.

Micheline Calmy-Rey ist Mitglied des schweizerischen Bundesrates und seit 2003 Vorsteherin des Eidgenössischen Departementes für auswärtige Angelegenheiten (EDA).

Fussnoten


Mythos atomare Abschreckung

Nicht die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki beendeten den Zweiten Weltkrieg im Pazifik, sondern die Kriegserklärung der UdSSR an Japan vom 8. August 1945. Und: Entgegen der allgemeinen Überzeugung gibt es keinen Beweis dafür, dass die Atomwaffen für die «Aufrechterhaltung des Friedens» während des Kalten Krieges sorgten - im Gegenteil gibt es Beweise, dass atomare Drohungen einen Angriff mit konventionellen, chemischen und biologischen Waffen nicht verhindern können!
Dies sind zwei der zahlreichen Aussagen, die eine vom Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) in Auftrag gegebene Studie zum Thema Atomwaffen ergeben hat. Ausgearbeitet wurde die Studie von fünf WissenschaftlerInnen des Monterey Institute of International Studies und dem James Martin Center for Nonproliferation Studies in Kanada. Sie untersuchten die Belege für die Wirksamkeit der atomaren Abschreckung und befanden sie als «dürftig, wenn überhaupt vorhanden». Ausserdem plädieren sie dafür, dass die Beweislast umgekehrt wird: Wer weiterhin Atomwaffen behalten und einsetzen will, soll real beweisen müssen, dass diese die behaupteten Zwecke erfüllen. (db)

Die Studie «Delegitimierung von Nuklearwaffen - Untersuchung zur Berechtigung der Strategie der nuklearen Abschreckung» kann in englischer Sprache auf der Website des EDA im Dossier «Frieden und Sicherheit» heruntergeladen werden: www.eda.admin.ch/eda/de/home/topics/peasec/peac/armcon/nonpro/abcwe.html

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