friZ 1/2010

Religionsfreiheit ist ein grundlegendes Menschenrecht und unverzichtbare Voraussetzung für den Religionsfrieden heute. «Religiöser Analphabetismus», das zunehmende Unwissen um die religiösen Wurzeln unseres Alltags, stellt dafür eine Bedrohung dar. Von Ruedi Tobler

Religiöser und menschenrechtlicher Analphabetismus

Die «Religionslandschaft» in der Schweiz war lange Zeit geprägt von der Zweiteilung zwischen einer protestantisch-reformierten Mehrheit (knapp 60 Prozent, Tendenz leicht abnehmend) und einer römisch-katholischen Minderheit (gut 40 Prozent, Tendenz stabil). Der grösste Teil der Bevölkerung bekannte sich zu diesen beiden christlichen Glaubensrichtungen (gemäss den Volkszählungen sank ihr Anteil von 1860 bis 1960 lediglich von 99,6 auf 98,1 %). Kleine Minderheiten, insbesondere Juden und orthodoxe Christen, hatte es «schon immer» gegeben; nach dem Konzil von 1870 waren die Christ-Katholiken dazugekommen (die das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes ablehnten). Der Anteil der «Konfessionslosen» lag in der Schweiz bis 1960 im Promillebereich.

Grundlegender Wandel

Im letzten halben Jahrhundert hat sich dies grundlegend gewandelt. Schon in den 1950er Jahren ging der prozentuale Anteil der Protestanten in der Schweiz leicht zurück. In der Volkszählung 1970 fielen sie dann erstmals unter fünfzig Prozent (47,7 %) und zugleich hinter die Katholiken (49,4 %) zurück. Von 1960 bis 2000 sank der Anteil der traditionellen Landeskirchen von 98 auf unter 75 Prozent. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der «Konfessionslosen» von einem halben auf über elf Prozent, jener der «islamischen Glaubensgemeinschaften» von einem viertel auf über vier Prozent und jener der Christlich-Orthodoxen von einem Promille auf 1,8 %.1 Im letzten Jahrzehnt hat sich diese Entwicklung hin zur Vielfalt noch einmal verstärkt, doch liegen dafür noch keine detaillierten statistischen Angaben vor. Gibt diese Entwicklung einen «Vorgeschmack» auf die Dimensionen der Veränderungen, die uns der Klimawandel noch «bescheren» wird?
Der Stellenwert des Religiösen in der Öffentlichkeit ist in den letzten Jahrzehnten massiv zurückgegangen. Symbolisch dafür stehen die Verkäufe von nicht mehr gebrauchten Kirchen in Stadtzentren. Hat der Tanz um das goldene Kalb des Konsums das erreicht, was in den kommunistischen Ostblockländern mit Repression und Umerziehung grundlegend gescheitert ist? Zugleich ist die Unübersichtlichkeit der «Religionslandschaft» in der Schweiz unumkehrbar geworden und die Begegnung mit Menschen, deren Glauben und religiöse Bräuche wir nicht kennen, fast unausweichlich. Das ist eine Herausforderung für den Staat und die Volksschule, die den Rahmen für ein respektvolles und friedliches Zusammenleben in der Gesellschaft garantieren, bzw. die Grundlagen dazu schaffen sollen.

Paradoxe Entwicklung

Die Entwicklung ist paradox. Der Bedeutungsverlust des Religiösen in der Gesellschaft hat die Kenntnisse zu Werten, Vorstellungen, Bräuchen und (sprachlichen) Bildern der traditionellen und für die Kultur hierzulande prägenden Religionen vor allem in den jüngeren Generationen weitgehend zum Verschwinden gebracht und unter ihnen zu einem zunehmenden «religiösen Analphabetismus» geführt. Dabei wären vertiefte Kenntnisse über verschiedene Religionen Voraussetzung für einen respektvollen oder zum mindesten nicht verletzenden Umgang mit den Mitmenschen. Und ein Bewusstsein für die Bedeutung der Religionsfreiheit ist Grundlage für ein dauerhaftes friedliches Zusammenleben. Wenn nicht alle verantwortungsvollen Kräfte dazu Sorge tragen, war die Annahme der Minarettverbots-Initiative nicht bloss ein Wiederaufflackern des überwunden geglaubten «Kulturkampfes», sondern könnte für die Brandstifter in und um die SVP der Auftakt dazu sein, religiös aufgeladene Unruhen bis hin zu einem Bürgerkrieg zu entfachen (Nordirland lässt grüssen).

Genf als Vorreiter

Der weit verbreitete «religiöse Analphabetismus» ist bisher kaum ein Thema. Soweit ich feststellen konnte, wurde er bisher offiziell erst im Kanton Genf aufgegriffen, allerdings bereits Ende der 1980er Jahre. Diese Diskussionen führten 1995 zur Einsetzung einer Arbeitsgruppe, die dazu eine breite Untersuchung machte und 1999 den Bericht «Culture religieuse et école laïque»2 publizierte. Auslöser für diese Arbeit waren drei Gründe:
• «Erstens beklagten die Kirchen und gewisse Geschichtslehrer in letzter Zeit einen so genannten ‹religiösen Analphabetismus› bei den Schülerinnen und Schülern. Demzufolge kennen heutzutage viele Jugendliche die Erzählungen und Gestalten der jüdisch-christlichen Tradition nicht mehr. (...) Es besteht die nicht ganz unberechtigte Ansicht, viele Jugendliche wüssten nicht einmal mehr den Ursprung und die Bedeutung der grossen Feste des Jahreskalenders wie Weihnachten, Ostern, geschweige denn Pfingsten.
• Zweitens, so behaupteten Stimmen, werde die jüdisch-christliche Identität durch die multikulturelle und multireligiöse Entwicklung stark herausgefordert, sei es durch die Immigration oder die weltweite Öffnung von Information und Kommunikation. Sowohl von Seiten der Lehrerinnen und Lehrer als auch der Eltern und der Schülerinnen und Schüler werde eine vermehrte Toleranz dem Andersartigen gegenüber gefordert. Diese Toleranz - so die Meinung - könne für jedermann nur auf einer minimalen Kenntnis der eigenen und der fremden kulturellen und religiösen Traditionen entstehen.
• Schliesslich kam seit den 1980er Jahren eine gewisse Angst vor sich rasch entwickelnden religiösen Sekten auf, deren oft manipulatorischen Einflüssen besonders Jugendliche ausgesetzt sind. Dabei befürchtete man wiederum vor allem, dass Unkenntnis in Sachen Religion eine unkritische, naive Einstellung den Sekten gegenüber fördert.»3
Die Genfer Arbeitsgruppe formulierte eine Reihe von Empfehlungen. Seither hat sich aber offenbar nicht mehr viel getan: 2003 gab es eine grosse öffentliche Veranstaltung mit dem französischen Philosophen und Mediologen Régis Debray, danach wurde eine departementsinterne Arbeitsgruppe «Enseignement des faits religieux» eingesetzt, die sich vor allem mit der Beantwortung von parlamentarischen Vorstössen zu befassen hatte, deren Behandlung wiederum zu Diskussionen im Parlament führten.
Das Hauptproblem sei die Ausbildung der Lehrpersonen auf allen Stufen, hat mir der Schweizer Soziologe Walo Hutmacher 2008 erklärt. Langsam komme da aber etwas in Bewegung, nicht zuletzt auf Grund der Bedeutung, welche Regierung und Parlament der Problematik beimessen.
In einigen Kantonen ist in den letzten Jahren ein Fach «Religion und Kultur» oder «Ethik und Religion» eingeführt worden.4 Für die Kantone mit deutschsprachigen Gebieten ist derzeit ein gemeinsamer Lehrplan (Lehrplan 21) in Ausarbeitung. Darin ist «Religion» für die Primarstufe lediglich als Teil der «geistes- und sozialwissenschaftlichen Themen (inklusive Ethik und Religionen)» vorgesehen. Ähnlich sollen auf der Sekundarstufe I «Ethik, Religionen, Gemeinschaft (mit Lebenskunde)» zusammen eines von vier Fachgebieten «im Bereich der Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften» bilden.5 Ob das den aktuellen und künftigen gesellschaftlichen Herausforderungen zu genügen vermag, scheint mir zweifelhaft.

Gesellschaftliches oder privates Problem?

Doch: Ist «religiöser Analphabetismus» überhaupt ein gesellschaftliches Problem und nicht lediglich die persönliche Sache der Betroffenen? Mag sein, dass einzelne leichter Opfer von Sekten werden - seien diese nun fundamentalistisch-evangelikal, islamistisch oder ein globalisiertes Unternehmen wie Scientology.6 Aber religiöse (wie politische) Sekten hat es doch schon immer gegeben. Und sind Konvertitinnen nicht selber schuld, wenn sie einen Niqab oder eine Burka tragen wollen? Ohne zu banalisieren wie schlimm es Menschen ergehen kann, die in die Fänge von Sekten geraten - wenn dies die einzige Folge von «religiösem Analphabetismus» ist, dann wäre er wohl in etwa gleich zu behandeln wie andere Abhängigkeiten, die Alkohol, Nikotin, Drogen, Glücksspiele, Computergames und anderes bewirken können.
Oder: Ist «religiöser Analphabetismus» nicht lediglich eine unausweichliche Nebenfolge der endlich gelungenen Befreiung der Gesellschaft aus der geistigen Bevormundung durch die Kirchen? Schadet es wirklich, wenn viele keine Ahnung mehr von der Bedeutung christlicher Feiertage haben? Sie benutzen diese verlängerten Wochenenden ja sowieso nur für gesteigerten Freizeitkonsum. Hat dabei das stundenlange Ausharren im Stau nicht zur Rückkehr kontemplativer Tradition am heiligsten Ort der individuellen Mobilität geführt, auf der Autobahn? Ist im Zeitalter von Fünftagewoche und Massenarbeitslosigkeit die Sonntagsruhe überhaupt noch von Bedeutung? Ist aus dem religiösen Gebot nicht eine profane gewerkschaftliche Herausforderung im Kampf um anständige Arbeitsbedingungen geworden - auch wieder eine Nebenfolge der Befreiung der Gesellschaft aus der geistigen Bevormundung durch die Kirchen? Lösen allenfalls gar die Gewerkschaften die Kirchen als Hüterinnen der ethisch-kulturellen Werte ab?

Religionsfreiheit und Religionsfrieden

Gewiss, unsere abendländische Kultur ist von einem vielfältigen Erbe geprägt, das nicht nur jüdisch-christliche Elemente, sondern auch klassisch-antike, griechisch-römische und nicht zuletzt islamische in sich vereinigt. Es ist ein Verlust, wenn das Wissen um diese Wurzeln verloren geht. Aber schadet es wirklich, wenn der alttestamentliche Ursprung von Begriffen wie Sintflut, Hiobsbotschaft oder Menetekel nicht mehr bekannt ist? Oder dass Philister Respektspersonen von höchstem Ansehen in Jerusalem waren (etwa so wie Banker vor der Finanzkrise), Samariter hingegen einen höchst zweifelhaftem Ruf hatten (vielleicht vergleichbar mit jenem von Kosovo-Albanern hierzulande) - und sie dank den neutestamentlichen Gleichnissen Jesu zur heutigen Bedeutung gekommen sind?7 Und wer sieht unser «arabisches Zahlensystem» als Erbe islamischer Hochkulturen? Nun, im «Internetzeitalter» finden sich einigermassen brauchbare Auskünfte nur einen Mausklick entfernt bei Wikipedia - für jene, die es wissen wollen.
Bleibt also die Frage, wie wir in der Gesellschaft miteinander umgehen - oder etwas eingeschränkter die Frage nach dem «Religionsfrieden». Wie lange es dauerte und wie schwierig es war, ihn zu erreichen, hat Daniel V. Moser im Beitrag «Zur Entwicklung des Religionsfriedens in der Schweiz» in dieser Ausgabe dargelegt. Die eingangs beschriebene Entwicklung der «Religionslandschaft» in der Schweiz lässt nun die Grundlage des «Religionsfriedens» erodieren - der in einer freiheitlichen Gesellschaft untrennbar mit der Religionsfreiheit verknüpft ist - und zugleich schwindet das Bewusstsein für die elementare Bedeutung von beidem.

Fragwürdige Argumentation der Juso

Intensiv mit der Stellung der Religionen in unserer Gesellschaft und mit der Religionsfreiheit haben sich in der letzten Zeit die Juso beschäftigt, im Zusammenhang mit der Schule und zuletzt mit einem Papier zu «Staat und Religion».8
An der Delegiertenversammlung der SP Schweiz vom 28. Juni 2008 wurden die «Bildungsthesen der SP Schweiz: Für einen chancenreichen Start ins Leben!» diskutiert und verabschiedet. Die Juso vertraten einen Antrag für das strikte Verbot von jeglichem schulischen Dispens aus religiösen Gründen, der auf Antrag der Parteileitung (mit Verweis auf die Glaubens- und Gewissensfreiheit) abgeschwächt wurde. Ein Überdenken ihrer Haltung hat das bei den Juso nicht ausgelöst.
An der Delegiertenversammlung der Juso Schweiz vom 11. Oktober 2008 wurde ein 15-Punkte-Programm «Die Herausforderung annehmen - Wider die Neandertalisierung der Bildung» verabschiedet.9 In These 15 erscheint darin unverändert: «Schuldispense aus religiösen Motiven sind nicht zulässig.» Ebenso: «Das Tragen religiöser Symbole wird für Lehrpersonen an der Volksschule, an Gymnasien und Berufsschulen verboten.»
Beide Forderungen finden sich auch wieder im Papier zu «Staat und Religion», das an der Delegiertenversammlung der Juso Schweiz vom 12. Dezember 2009 verabschiedet wurde. Das Papier ist nicht «aus einem Guss», enthält innere Widersprüche - das Ergebnis der anscheinend recht heftig geführten Auseinandersetzungen.10 Das Papier tritt mit dem Anspruch an: «Wir Jusos sind fest entschlossen, die Religionsfreiheit zu verteidigen.» Aber in verschiedenen Punkten tun sie dies nicht, einzelne Postulate verstossen gegen die Religionsfreiheit und auch gegen die verbrieften Menschenrechte.
Bei etlichen der fragwürdigen Punkte im Juso-Papier hat, so vermute ich, «religiöser» und «menschenrechtlicher» Analphabetismus eine wesentliche Rolle gespielt, und mit diesen Aspekten setze ich mich hier auseinander.11

Kein Dispens aus religiösen Gründen?

Das Verbot von jeglichem Dispens aus religiösen Gründen ist ein eindeutiger Verstoss gegen die Glaubensfreiheit. Aus grund- und menschenrechtlicher Perspektive braucht es hier eine Abwägung zwischen Erfüllung der Schulpflicht und Befolgung von Glaubensvorschriften. Deswegen ist es auch schon mehrfach zu Urteilen des Bundesgerichts (und auch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte) gekommen.12 Im Laufe der Zeit hat sich eine Praxis herausgebildet, die zwar nicht alle Konflikte vermeiden lässt, aber im allgemeinen gut funktioniert.13 Es gibt gute Gründe, daran nichts Grundsätzliches zu ändern.
Aber auch abgesehen vom Verstoss gegen die Menschenrechte ist das Postulat scheinradikal, das sich konkret erzkonservativ auswirken würde. Die meisten Feiertage sind kantonal festgelegt und spiegeln in aller Regel die Bräuche der jeweils historisch dominierenden Konfession. Ihre (überholte) Dominanz würde zementiert und damit in den katholischen Kantonen genau das erreicht, was die Juso verunmöglichen wollen, dass die katholische Kirchenhierarchie über politische Macht und Gestaltungsmöglichkeiten verfügt. Alle Minderheiten hätten sich dem zu fügen. Dass die Juso an diesem Postulat unverrückbar festhalten, scheint mir Ausdruck von «religiösem Analphabetismus» zu sein: Sie haben schlicht die regionale religionspolitische Bedeutung ihres Postulats nicht wahrgenommen.

Keine religiöse Geschlechterdiskriminierung?

Untauglich ist der Versuch, mit Berufung auf die Menschenrechte die Frauendiskriminierung in religiösen Gemeinschaften formell unterbinden zu wollen. Da geht die Religionsfreiheit, wie sie auf globaler Ebene in erster Linie durch den Zivilrechtspakt garantiert ist, eindeutig vor.14 Sonst würde die Glaubensfreiheit materiell stark ausgehöhlt, würde eine (menschenrechtliche) Religionspolizei durch die Hintertür eingeführt. Dementsprechend enthält die Uno-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (SR 0.108) keinen Artikel gegen die Diskriminierung der Frau in Religionsgemeinschaften. Das heisst aber selbstverständlich nicht, dass jegliche Frauendiskriminierung aus religiösen Gründen zu akzeptieren wäre.

Keine religiösen Privatschulen und Symbole?

Ebenso unhaltbar aus menschenrechtlicher Perspektive ist das von den Juso geforderte grundsätzliche Verbot von «religiösen Privatschulen auf Kantons- und Volksschulebene». Denn Artikel 13, Abs. 3 des Sozialrechtspakts (SR 0103.1) hält ausdrücklich fest: «Die Vertragsstaaten verpflichten sich, die Freiheit der Eltern und gegebenenfalls des Vormunds oder Pflegers zu achten, für ihre Kinder andere als öffentliche Schulen zu wählen, die den vom Staat gegebenenfalls festgesetzten oder gebilligten bildungspolitischen Mindestnormen entsprechen, sowie die religiöse und sittliche Erziehung ihrer Kinder in Übereinstimmung mit ihren eigenen Überzeugungen sicherzustellen.»
Zumindest fragwürdig ist das absolute Verbot des Tragens von «sichtbaren religiösen Symbole» bei der Ausübung der beruflichen Tätigkeit für «Staatsangestellte, Mitglieder von gewählten Behörden und Angestellte von staatlich lizenzierten Monopolträgern». Wie kann diese Einschränkung der Glaubensfreiheit für Personen legitimiert werden, die bei ihrer Arbeit keine Kontakte mit der Öffentlichkeit haben?

Religion gefährlicher als Killergames?

Auffällig ist, wie stark das Papier zu einer Verbotspolitik gegenüber religiösen Gemeinschaften und Manifestationen tendiert: Keine Vereidigung unter Berufung auf Gott, keine Frauendiskriminierungen in Religionsgemeinschaften, keine Dispense aus religiösen Gründen, keine schulischen Räumlichkeiten für Religionsunterricht, Verbot von religiösen Privatschulen, kein Tragen von sichtbaren religiösen Symbolen durch öffentliche Angestellte, keine religiösen Symbole in öffentlichen Gebäuden, Verbot von «Glaubensgemeinschaften, die aktiv und aggressiv versuchen die demokratische Ordnung zu untergraben». Zugleich soll aber Artikel 261, «Störung der Glaubens- und Kultusfreiheit» ersatzlos aus dem Strafgesetzbuch, gestrichen werden.15
Abgesehen davon, dass einige Verbote wie dargelegt menschenrechtswidrig sind, steht diese Haltung in diametralem Gegensatz zur Haltung der Juso zu den so genannten Killergames. Da haben sie sich vehement und innerhalb der SP Schweiz erfolgreich gegen ein Verbot gewehrt, mit dem Anspruch: «Die Jugendlichen haben das Recht auf eine selbstbestimmte Jugendkultur.» Das gilt offensichtlich gegenüber Religionen und Glaubensgemeinschaften nicht in der gleichen Art. Sind letztere wirklich so viel schädlicher als die teils unsäglichen Kommerzprodukte der Game-Industrie?

Laizismus als Universalantwort?

Die erwähnte Replik von Luca Cirigliano auf die Kritik von Willy Spieler in den «Neuen Wegen» trägt den Titel «Der Laizismus als staatspolitischer Leitgedanke» und sie kommt zum Schluss: «Wir leben in konfessionell unruhigen Zeiten, wie das unglückliche Ja zum Minarettverbot gezeigt hat. Laizismus bietet sich, als wäre es ein kybernetischer Thermostat immer dann an, wenn die Gesellschaft zu überkochen droht. Es wäre nun an der Zeit, dieses Notventil anzuschalten.»
Ist der Laizismus wirklich die Antwort auf die religionspolitischen Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft? Darin steckt meines Erachtens die grösste Unzulänglichkeit des Juso-Papiers. Denn die im französischen Sprach- und Kulturbereich heimische «laïcité» stammt aus einer Zeit als sich die «République» aus der Übermacht der katholischen Kirche befreien musste und damit auch Erfolg hatte. Zwar ist im Deutschen Laizität ein Fremdwort geblieben, und weder der Begriff noch die darin enthaltene Gedankenwelt sind im deutschsprachigen Sprach- und Kulturraum wirklich heimisch geworden.16 Aber das Prinzip der Trennung von Kirche und Staat hat auch auf die Entwicklung in der Schweiz prägenden Einfluss gehabt, die Religionsfreiheit hat sich auch hierzulande durchgesetzt. Und es gibt keine Glaubensgemeinschaft, die den Anspruch auf die geistige Führerschaft über das Staatswesen erhebt bzw. eine Chance hätte, diese erringen zu können.

Ungewollte Förderung von Fundamentalismus verhindern

Das Problem in unserer Migrationsgesellschaft liegt doch darin, dass die «alt-eingesessenen» Glaubensgemeinschaften massiv an Bedeutung und Gestaltungskraft verloren haben - und teilweise auch an Glaubwürdigkeit - und sich nicht zuletzt deswegen «religiöser Analphabetismus» ausbreitet. Währenddem sind eingewanderte Angehörige von «neuen» Glaubensgemeinschaften und teilweise auch diese selber (zumindest teilweise) «entwurzelt» und können nicht zuletzt darum auch ihren Angehörigen nicht unbedingt die nötige Orientierungshilfe bieten, auf die diese aber dringend angewiesen wären. Und weil religiöse und kulturelle Bräuche in aller Regel miteinander vermengt sind, führt das in einem anderen kulturellen Umfeld zu zusätzlicher Verunsicherung, die leicht zu einer Verabsolutierung von Geboten führen können, die im Herkunftsland nur relative Bedeutung hatten. So wird oft ungewollt Fundamentalismus gefördert, der durch Einheimische geistlich heimat- und orientierungslos gewordene noch verstärkt wird, die als Konvertiten in der «starken» neuen Religion wieder festen Halt gefunden haben. In dieser Situation ist der Laizismus nicht wirklich hilfreich, kann die Stellung der Glaubensgemeinschaften nicht einfach ins Private abgeschoben werden. Umgekehrt kann aber auch nicht jedwede Glaubensgemeinschaft öffentliche Anerkennung und allenfalls gar Förderung erhalten. Staat, Gesellschaft und Politik müssen sich aktiv um die Gestaltung der Religionslandschaft kümmern und dafür sowohl Ziele als Kriterien entwickeln, die die menschenrechtlichen Anforderungen erfüllen sollten.
In der Studie «Bildung für die Einwanderungsgesellschaft» werden Bildungspolitik und Bildungspraxis in Einwanderungsgesellschaften - konkret die Beispiele England, Kanada und Frankreich - miteinander verglichen. Die AutorInnen kommen zum Schluss, dass weder das Modell des «konsequenten Multikulturalismus» noch jenes des «republikanischen Universalismus» den Herausforderungen der Einwanderungsgesellschaft gerecht werden:
«Deshalb haben wir eine eigenständige theoretisch-konzeptionelle Orientierung konturiert, für die die Überwindung struktureller, institutioneller und interaktioneller Diskriminierungen von MigrantInnen und Minderheiten bildungspolitisch und bildungspraktisch von zentraler Bedeutung sind. Wir haben zu zeigen versucht, dass diese Antidiskriminierungsperspektive die Dilemmata des Multikulturalismus und des republikanischen Universalismus zu vermeiden in der Lage ist.»17
Diese Studie bezieht sich zwar auf das Bildungswesen, aber mir scheint, sie könnte auch hilfreich sein bei der Neugestaltung der «Religionslandschaft» in der Schweiz.

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