friZ 4/2009

Während die politische Situation im Nordosten bestenfalls stagniert und die im Südwesten sich zunehmend auflädt, haben sich Chinas Beziehung zu seinen Nachbarländern im Nordwesten erstaunlich positiv entwickelt.

Wer würde heute im Nordwesten eine Mauer bauen?

Russland liefert, China zahlt

Der entscheidende Nachbar im Norden ist natürlich Russland. Früher gehörten die Grenzen zum kommunistischen Bruderstaat Sowjetunion während Jahrzehnten zu den bestgesicherten Chinas. Heute ist das Verhältnis der beiden grössten Staaten der Erde (China bevölkerungsmässig, Russland flächenmässig) so gut wie noch nie.
Während im Kalten Krieg bis zu 400000 sowjetische Soldaten in der (moskautreuen) Mongolei stationiert waren und es ab und an zu Grenzgefechten kam, liefert heute die russische Rüstungsindustrie Waffensysteme für Chinas Luftwaffe und Marine. Alle früheren Grenzstreitigkeiten sind beigelegt und die wirtschaftliche Zusammenarbeit wird immer grösser: China importiert hauptsächlich russische Rohstoffe und bezahlt dafür mit billigen Konsumgütern. Die Zusammenarbeit erstreckt sich aber auch auf die Wissenschaft, wie die Ähnlichkeit einiger Komponenten der chinesischen Raumfahrt mit der russischen zeigt. Langfristig profitiert China von dieser Konstellation eindeutig mehr, erhält es doch unverzichtbare Rohstoffe, während die billigen chinesischen Konsumgüter in Russland die einheimische Industrie konkurrenzieren.
Verbindend wirkt zwischen China und Russland natürlich auch das gemeinsame Misstrauen gegenüber der Nato-Präsenz in Zentralasien. Überhaupt macht es gegenwärtig den Eindruck, als ob im alten Grossmächte-Quartett die Partner getauscht würden: China spannt neu mit Russland zusammen, während Indien und die USA eine Allianz anstreben. Russland scheint auch die aktive Rolle seines neuen Partners im gemeinsamen «Hinterhof» Zentralasien zu akzeptieren.

SCO, die unbekannte Grösse

Für China ist Zentralasien, das Gebiet nördlich von Afghanistan bis zum Kaspischen Meer zum einen ein strategischer Puffer gegen Westen und zum anderen ein wichtiger Rohstofflieferant. Pekings wichtigste diplomatisch-ökonomische Initiative in Zentralasien ist die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit. Die SCO (Shanghai Cooperation Organization) wurde im Sommer 2001 ins Leben gerufen und umfasst China, Russland, Kasachstan, Usbekistan, Kirgisistan und Tadschikistan. Mit einem Viertel der Weltbevölkerung ist die SCO bereits heute die grösste Regionalorganisation der Erde! Dass ausserdem Indien, Pakistan, Iran und die Mongolei Beobachterstatus haben, sowie die ASEAN und GUS zu den offiziellen Dialogpartnern gehören, zeigt die Bedeutung dieses neuen Bündnis.
Analog zur Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa OSZE befasst sich die SCO vornehmlich mit sicherheitspolitischen Fragen in Zentralasien. Themen der bisherigen Gipfeltreffen waren dementsprechend der Abbau von Grenzspannungen oder ein regionales «Antiterrornetzwerk».
Die einzige ernst zunehmende Konkurrenz für China in Zentralasien - neben Russland - wäre ein Zusammenschluss aller Turkvölker zwischen Uigurien und der Türkei, der zurzeit aber in weiter Ferne liegt (s. Randspalte).

Innere und äussere Mongolei

Im Zuge der deutlichen Verbesserung der chinesisch-russischen Beziehungen hat sich auch das Verhältnis Chinas zur Mongolei entspannt. Die Mongolei, lange Zeit das europäischste Land Asiens, wird seit einiger Zeit von China, Korea und Japan heftig umworben. In der Folge geht der europäische Einfluss in der Mongolei immer mehr zurück, immer mehr MongolInnen lernen als Zweitsprache Chinesisch, Koreanisch oder Japanisch.
Dabei waren ursprünglich die Überfälle bewaffneter Nomadenvölker aus dem Gebiet der heutigen Mongolei der Grund für den Bau der Grossen Mauer im Norden Chinas. Während für das heutige China die «mongolische Gefahr» nur noch Symbolcharakter hat, sehen in der kleinen, nicht einmal drei Millionen EinwohnerInnen zählenden Mongolei viele das grosse China als echte Gefahr. Sie verweisen auf das Schicksal der so genannten «Inneren Mongolei». Diese, auch Südmongolei genannt, ist heute eine autonome Region Chinas, die bereits unter Mao Tse Tung weitgehend sinisiert wurde. Weit stärker als die offizielle chinesische Aussenpolitik ist in der Mongolei aber die chinesische Wirtschaftsmacht zu spüren. Immer mehr chinesisches Kapital strömt ins Land und kontrolliert einen wachsenden Teil der Volkswirtschaft. Peking ist die nächst gelegene Metropole - und für die mongolische Oberschicht im Gegenteil zu Seoul oder Tokio auch bezahlbar.

China und seine Nachbarn im Nordwesten

Mongolei: Die Überfälle von Nomadenvölkern aus dem Gebiet der heutigen Mongolei waren der Grund für die grosse Chinesischen Mauer, mit deren Bau im 3. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung begonnen wurde.
Russland: Das Verhältnis zwischen den beiden grössten Ländern der Erde - China bevölkerungs-, Russland flächenmässig - ist heute besser denn je.
Kasachstan: Kasachstan ist wegen seiner gewaltigen Öl- und Erdgasreserven für China das wichtigste Land in Zentralasien.
Kirgisistan: Der heutige GUS-Staat Kirgisistan war lange Zeit Teil des mongolischen Weltreichs, bis es im 18. Jahrhundert zunächst von China erobert wurde, das es wiederum Ende des 19. Jahrhunderts an Russland verlor.
Tadschikistan: Tadschikistan gehört zu den ärmsten Ländern der Welt, was es für chinesische Investitionen zur Förderung seiner Rohstoffe zugänglich macht.


Noch im Hintergrund: die Türkei

«Der in Zentralasien weit verbreitete Traum von der Errichtung eines alle Turkvölker umfassenden Grossreiches ist zwar gegenwärtig reine Utopie, birgt aber das populistische Potenzial für einen revolutionären Umbruch in sich. Gerade im chinesisch besetzten Ostturkestan (die Provinz Xinjiang ganz im Nordwesten Chinas; db.) wird Konstantinopel als die natürliche Hauptstadt aller Türken gesehen und der Türkei wird die natürliche Führungsrolle zugewiesen. Zwar unterstützt der türkische Staat diese pantürkische Bewegung nicht offen, private Kreise sind jedoch in ganz Zentralasien aktiv. Private Verbindungen von aus Sowjetisch- und Chinesisch-Zentralasien vertriebenen Exilfamilien bilden ein zusätzliches Netzwerk, das die Türkei heute zu einer wichtigen regionalen Grossmacht hat werden lassen. Die türkische Industrie steht in Zentralasien mit der chinesischen in direkter Konkurrenz.
Bisher verhindert die Europaorientierung der Türkei ein grösseres politisches Engagement. Sollte jedoch die EU der Türkei die Türe vor der Nase zuschlagen. So wird eine pantürkische Option die wahrscheinlichste Alternative sein. Ein pantürkisches Reich wäre, üppig mit Naturschätzen und einer durchaus akzeptablen industriellen Basis ausgestattet, eine ernst zu nehmende Regionalmacht, welche von China die herausgabe Ostturkestans fordern müsste. Völlig unrealistisch ist der Panturkismus nicht, da in allen Turkstaaten der GUS die eigene politische Kaste in einem Sumpf aus Korruption und Verbrechen versunken ist. Die Türkei wird allgemein als Vorbild, als Musterland akzeptiert.»
Aus: Martin Guan Djien Chan: «Der erwachte Drache» (S. 123)


Inhaltsübersicht nächster Artikel