friZ 4/2009

Für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortliche Regierungen haben im vergangenen Jahr ihre Angriffe auf Gegner, Menschenrechtsaktivisten und deren Organisationen verstärkt. Das stellt Human Rights Watch in seinem World Report 2010 fest.

Menschenrechte: «2009 besonders starke Gegenreaktion»

Der gut 600-seitige Bericht ist die 20. Ausgabe des Human Rights Watch-Jahresberichts über die weltweite Menschenrechtslage. Er fasst die wichtigsten Entwicklungen in mehr als 90 Ländern und Regionen zusammen und ist das Ergebnis der umfangreichen Recherchen und Medienanalysen, die von Human Rights Watch im letzten Jahr geleistet wurden. In seiner Einführung erläutert Kenneth Roth, Executive Director von Human Rights Watch, dass zwar die Möglichkeiten der Menschenrechtsbewegung in den letzten Jahren gewachsen sind, effektiven Druck für den Schutz der Opfer auszuüben. Diese Entwicklung habe jedoch im Jahr 2009 eine besonders starke Gegenreaktion von Regierungen hervorgerufen, welche die Menschenrechte missachten. «Angriffe auf Menschenrechtsverteidiger können als fragwürdige Auszeichnung für die Menschenrechtsbewegung betrachtet werden. Das mildert jedoch nicht die Bedrohung, die von diesen Angriffen ausgeht», so Roth. «Mit verschiedenen Vorwänden greifen menschenrechtsverletzende Regierungen damit die wesentlichen Grundlagen der Menschenrechtsbewegung an.»

Wahlen allein schützen nicht vor Menschenrechtsverletzungen

Für Angriffe auf Menschenrechtsbeobachter sind nicht nur autoritäre Regierungen wie Burma und China verantwortlich. Auch in Ländern mit demokratisch gewählten Regierungen, die von bewaffneten Aufständischen bedroht werden, gab es einen starken Anstieg von Angriffen gegen Menschenrechtsbeobachter. Obwohl zum Beispiel der bewaffnete Konflikt in Tschetschenien an Intensität verloren hat, gab es eine verheerende Serie von Drohungen und Morden gegen Rechtsanwälte und Aktivisten, die sich gegen die fehlende Rechtssicherheit im Nordkaukasus eingesetzt haben.
Einige Regierungen gehen mit solcher Gewalt gegen Einzelpersonen und Organisationen vor, dass vor Ort keine Menschenrechtsbewegung existieren kann. Beispiele dafür sind Eritrea, Nordkorea und Turkmenistan.
In der Einführung zum HRW-Bericht wird zudem gezeigt, dass neben Russland und Sri Lanka auch in anderen Ländern, wie zum Beispiel Kenia, Burundi und Afghanistan, Menschenrechtsbeobachter ermordet wurden, um sie zum Schweigen zu bringen.
Human Rights Watch verweist auf den Sudan und China als Länder, die regelmässig Menschenrechtsgruppen auflösen, sowie auf den Iran und Usbekistan, wo Menschenrechtsaktivisten und andere Kritiker offen eingeschüchtert und willkürlich verhaftet werden. Auch in Kolumbien, Venezuela und Nicaragua werden Menschenrechtler bedroht und schikaniert. Und in der Demokratischen Republik Kongo und in Sri Lanka sind sie mit offener Gewalt konfrontiert. Einige Länder, wie Äthiopien und Ägypten, verwenden äusserst restriktive Gesetze, um die Arbeit von Nichtregierungsorganisationen zu behindern. Andere Staaten erteilen Berufsverbote für Rechtsanwälte (zum Beispiel China und der Iran), inszenieren Strafanzeigen (Usbekistan und Turkmenistan) oder nutzen Strafgesetze gegen Verleumdung (Russland und Aserbaidschan), um Kritiker zum Schweigen zu bringen.
In Israel haben lokale und internationale Menschenrechtsgruppen ein feindlicheres Klima als je zuvor erlebt, nachdem sie Menschenrechtsverletzungen der Hamas und Israels dokumentiert hatten, die während des Gazakriegs letztes Jahr sowie im Zusammenhang mit der andauernden israelischen Blockade des Gazastreifens verübt wurden.

Glaubwürdigkeit der USA steht auf dem Spiel

Roth zeigt, dass demokratische Regierungen den Schutz der Menschenrechte zu einem zentralen Bestandteil ihrer bilateralen Beziehungen machen müssen, um die Angriffe von Regierungen auf Menschenrechtsverteidiger zu beenden.
«Regierungen, welche die Menschenrechte achten, müssen sich auch öffentlich für ihren Schutz aussprechen und dies zu einem Grundpfeiler ihrer Diplomatie - und ihrer eigenen Politik - machen», erklärt Kenneth Roth. «Sie müssen von den Regierungen, die gegen die Menschenrechte verstossen, nachweisbare Veränderungen verlangen.»
Insbesondere die Obama-Regierung stehe vor der Herausforderung, die Glaubwürdigkeit der USA hinsichtlich der Einhaltung der Menschenrechte wiederherzustellen. Bisher hat es nur begrenzte Fortschritte gegeben: zwar eine deutliche Verbesserung der Rhetorik des Präsidenten, aber nur eine unvollständige Umsetzung dieser öffentlichen Stellungnahmen in die politische Praxis.
Die US-Regierung hat zwar das Ende der mit Gewalt verbundenen Verhörmethoden der CIA befohlen. Doch darüber hinaus soll sie nationale und internationale Anti-Folter-Gesetze einhalten, indem sie Ermittlungen und strafrechtliche Massnahmen gegenüber denjenigen einleitet, die Folter und andere Misshandlungen angeordnet, ermöglicht oder ausgeführt haben. Auch wurde die Frist für die Schliessung von Guantánamo verlängert. Doch viel wichtiger ist die Frage, wie die Haftanstalt geschlossen wird. Human Rights Watch und andere Organisationen haben die US-Regierung aufgefordert, inhaftierte Verdächtige entweder vor regulären Bundesgerichtshöfen anzuklagen oder sie sicher in ihre Heimatländer oder andere Gastländer zu bringen. Die Obama-Administration besteht darauf, die Militärkommissionen beizubehalten, die Angeklagten nur ungenügende Rechte einräumen. Sie hält weiterhin Verdächtige ohne Verurteilung und Verfahren für unbestimmte Zeit fest. Beide Verfahrensweisen drohen die für Guantánamo symptomatische Rechtlosigkeit fortzusetzen.

Angriffe auf das internationale Strafjustizsystem

Human Rights Watch beschreibt in der Einführung zum World Report 2010 auch, wie das sich entwickelnde internationale Strafjustizsystem, einschliesslich des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), im letzten Jahr zum Ziel von Angriffen wurde. Dies begann, nachdem der Strafgerichtshof im März einen Haftbefehl gegen den sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erlassen hatte, die von sudanesischen Streitkräften und alliierten Militäreinheiten gegenüber der Zivilbevölkerung in Darfur verübt wurden.
Nachdem das Gericht den Haftbefehl ausgestellt hatte, entschieden sich viele afrikanische Demokratien zunächst für den einfachen Weg, regionale Solidarität zu üben, anstatt einen prinzipientreuen Standpunkt zu vertreten und sich für das internationale Strafrecht einzusetzen.
Anstatt die eingeleiteten Massnahmen des Internationalen Strfagerichtshofes gegen Massenmorde und Vertreibungen, denen so viele Afrikaner in Darfur zum Opfer fielen, zu begrüssen, beschloss die Afrikanische Union die Umsetzung des Haftbefehls nicht zu unterstützen. Die verantwortlichen afrikanischen Staats- und Regierungschefs entschieden sich dafür, al-Bashir und nicht die Opfer der Misshandlungen in Darfur zu verteidigen.
Die Arbeit von Human Rights Watch im vergangenen Jahr umfasste eine Vielzahl von Menschenrechtsverletzungen in praktisch jedem Teil der Welt.
Der Aufsatz mit dem Titel «Abusing Patients» beschreibt die missbräuchliche Praxis im Gesundheitswesen verschiedener Länder, durch die Patienten Opfer von Folter oder Misshandlungen werden. Beschämend ist dabei auch das Versagen nationaler und internationaler Gesundheitsorganisationen, die Beteiligung von medizinischen Dienstleistern daran zu verhindern. Der Aufsatz beruht auf Human Rights Watch-Recherchen in Ägypten, Libyen, Jordanien, Irakisch-Kurdistan, China, Kambodscha, Indien und Nicaragua.
In vielen Ländern hat Human Rights Watch Menschenrechtsverletzungen gegenüber Frauen und Mädchen dokumentiert, insbesondere im Zusammenhang mit Schwangerschaft, Geburt und der Rolle von Frauen als Pflegerinnen. So führen vermeidbare Müttersterblichkeit und Behinderungen nach der Geburt auf Grund von nachlässigen Verfahren und Gesetzen im Gesundheitswesen jährlich zu mehr Toten und Verstümmelungen von Frauen als die Auswirkungen von bewaffneten Konflikten.

Im HRW-Fokus: Iran, China, Kuba, Zimbabwe, Burma...

Im Iran dokumentierte Human Rights Watch das gewaltsame Vorgehen der Regierung gegen friedliche Aktivisten nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen im Juni 2009. HRW berichtete über die Verhaftungen Tausender unbekannter und bekannter Personen. Zudem wurden detaillierte Berichte über staatliche Gewalt an friedlichen Demonstranten, willkürliche Verhaftungen von Menschenrechtsverteidigern sowie Misshandlung und Folter in Irans illegalen Haftanstalten geliefert.
Neben den fortlaufenden Berichten über das Vorgehen gegen Menschenrechtsaktivisten und deren Verhaftung in China dokumentierte Human Rights Wacht die Existenz von geheimen «schwarzen Gefängnissen», in denen die Behörden Personen festhalten, die sie auf offener Strasse in Peking und anderen grossen Städten entführt haben. Die meisten dieser Gefangenen hatten zuvor Petitionen gegenüber der Regierung eingereicht, in denen sie Wiedergutmachung verlangten für Missbräuche wie Behördenkorruption oder von der Polizei ausgeübte Folter.
In Kuba dokumentierte HRW, wie die Regierung von Raúl Castro an dem repressiven Regierungsapparat Fidel Castros festhält und, anstatt Menschenrechtsverletzungen aufzuarbeiten, Hunderte politische Gefangene in Haft behält und Dutzende weitere Dissidenten inhaftiert.
In Zimbabwe verfolgten und dokumentierten Researcher die Menschenrechtsverletzungen der ehemals allein regierenden Partei von Präsident Robert Mugabe gegenüber ihrem Regierungspartner und deren Anhängern. Human Rights Watch berichtete ebenfalls über das brutale Vorgehen von Armee- und Polizeieinheiten, die versuchten, den Zugang zu den Marange-Diamantenfeldern zu kontrollieren und den nicht lizenzierten Diamantenabbau und -handel unter ihre Kontrolle zu bringen.
Ein Bericht über Burma beschreibt, wie seit den friedlichen politischen Protesten im Jahr 2007 Dutzende prominente politische Aktivisten, buddhistische Mönche, Arbeitsrechtler, Journalisten und Künstler verhaftet und in unfairen Verfahren zu drakonischen Haftstrafen verurteilt wurden.

...Palästina/Israel, Libyen und Kongo

In Gaza und Israel dokumentierte Human Rights Watch Verstösse gegen das Kriegsrecht, die sowohl von Israel als auch der Hamas begangen wurden. Israels militärischer Angriff auf den Gaza-Streifen vor einem Jahr beinhaltete die unrechtmässige Verwendung von Weissem Phosphor, die Tötung von Zivilisten mittels von Drohnen abgefeuerter Raketen und das Erschiessen von Zivilisten, die zuvor weisse Fahnen geschwenkt hatten. Die Hamas und andere bewaffnete Palästinensergruppen schossen mit Raketen auf bewohnte Gebiete in Israel, und die Hamas tötete angebliche Kollaborateure und misshandelte während des Krieges politische Gegner.
In Libyen veröffentlichte Human Rights Watch im Rahmen einer Pressekonferenz in Tripolis einen regierungskritischen Bericht. Es handelte sich dabei um die erste freie Pressekonferenz in dem Land. Der Bericht beschreibt, dass zwar begrenzte Verbesserungen eingeleitet wurden, zum Beispiel hinsichtlich der freien Meinungsäusserung, dass aber repressive Gesetze weiterhin die Meinungs- und Versammlungsfreiheit einschränken und Menschenrechtsverletzungen durch die nationalen Sicherheitsbehörden an der Tagesordnung sind.
In der Demokratischen Republik Kongo dokumentierte Human Rights Watch die gezielte Tötung von mehr als 1400 Zivilisten sowie die Strategie regelmässiger grausamer Vergewaltigungen und anderer Menschenrechtsverletzungen, verübt von Regierungs- und Rebelleneinheiten während zwei aufeinander folgenden Operationen der kongolesischen Armee gegen ruandische Hutu-Milizen im Osten des Landes. Human Rights Watch berichtete ebenfalls über schwere Mängel der UN-Friedensmission im Kongo, durch die deren Fähigkeit, die Zivilbevölkerung zu schützen, nachhaltig einschränkt wurde.
In Guinea, das derzeit unter der Kontrolle einer durch einen Militärputsch errichteten Regierung steht, erstellte Human Rights Watch einen ausführlichen Bericht über Morde, sexuelle Misshandlungen und andere Menschenrechtsverletzungen, die vor allem von Mitgliedern der präsidialen Elitegarde während einer Demonstration der Opposition in der Hauptstadt verübt wurden. Alles deutet darauf hin, dass die Angriffe im Voraus geplant wurden und als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzuordnen sind.

Schweigen macht Komplizen

Trotz des gewachsenen Einflusses der Menschenrechtsbewegung bleiben Aktivisten verletzlich und sie benötigen die unbedingte Unterstützung durch Regierungen, welche die Menschenrechte achten.
«Regierungen, die sich selbst als Verteidiger der Menschenrechte ansehen, schweigen häufig, wenn von ihren Verbündeten die Menschenrechte verletzt werden, und verweisen dabei auf diplomatische oder wirtschaftliche Prioritäten», so HRW-Direktor Kenneth Roth. «Doch dieses Schweigen macht sie zu Komplizen, während verstärkter Druck auf die Täter die einzig angemessene Antwort auf Menschenrechtsverletzungen ist.»

Human Rights Watch (HRW) ist eine nichtstaatliche Organisation, die sich für die Wahrung der Menschenrechte einsetzt. Sie hat ihren Sitz in New York. Gegründet wurde HRW wurde 1978 unter der Bezeichnung Helsinki Watch, um die Einhaltung der Schlussakte von Helsinki durch die Sowjetunion zu dokumentieren und um sowjetische Menschenrechtsgruppen zu unterstützen. 1988 vereinigte sich Helsinki Watch mit anderen internationalen Organisationen, die vergleichbare Ziele verfolgten, zu Human Rights Watch.
Der Human Rights Watch World Report 2010 ist in vollständiger Fassung in englischer Sprache auf der Homepage von Human Rights Watch erhältlich: www.hrw.org/world-report-2010. Die Einführung von HRW-Direktor Kenneth Roth sowie das Kapitel zur Menschenrechtslage in der EU sind in deutscher Übersetzung erhältlich unter: www.hrw.org/de


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