FriZ 1/2007

Während Jahrzehnten war sie die «gute Seele» am Gartenhof: Irene Luder. Ende Februar 2007 ist sie gestorben. Von Ruedi Tobler

Irene Luder-Pellegrini

Nach einem kurzen Aufenthalt im Altersheim ist Irene Luder am 20. Februar 2007 im Alter von 82 Jahren gestorben. Dies markiert das definitive Ende einer Ära am «Gartenhof», dem letzten Wohnsitz von Leonhard Ragaz an der Gartenhofstrasse in Zürich. Aufgewachsen in einfachen Verhältnissen im faschistischen Italien, kam sie schon in jungen Jahren als Emigrantin aus dem Piemont in die Schweiz, zuerst nach Genf und später nach Zürich. Wie sie mit ihrem Mann, Paul Luder, in die Wohnung im ersten Stock an der Gartenhofstrasse 7 gekommen ist, weiss ich nicht. Seit ich das Haus kenne, lebte sie dort und war der gute Geist im Haus.
Was ich auch immer für ein Problem oder Anliegen hatte, sie war stets hilfsbereit und gern zu Diensten. Ob uns Kaffee oder Milch ausgegangen waren, ob wir eine Fernsehsendung sehen wollten oder ob ich wieder einmal jemanden zum Kinderhüten brauchte, selbstverständlich war Irene Luder zur Stelle und half. Und so lange es ihre Kräfte irgendwie erlaubten, hielt sie unsere Räume sauber, unauffällig und diskret. Und das alles war für sie so selbstverständlich, dass sie es kaum fassen konnte, wenn wir uns – ich muss im Nachhinein gestehen, selten genug – mit einem kleinen Geschenk bedanken wollten.

Dezidierte Ansichten

Es war ihr ein grosses Bedürfnis, uns ihre Unterstützung zu zeigen und darüber zu reden, aber gleichzeitig hatte sie Hemmungen, uns anzusprechen, aus lauter Angst, uns von unserer – in ihren Augen so wichtigen – Arbeit abzuhalten. Aber wenn sie einmal zu reden begonnen hatte, dann sprudelte es nur so aus ihr heraus – kein seichtes Gerede, im Gegenteil. Sie war auf dem Laufenden über das Weltgeschehen und hatte jeweils eine dezidierte Meinung dazu. Darüber hinaus habe ich von ihr viel erfahren über die Zeit des Faschismus in Italien, über frühere Entwicklungen im «Gartenhof» und vor allem über Christine Ragaz (1905 – 1983): Für die Tochter von Leonhard Ragaz, die nach dessen Tod den «Gartenhof» zusammen mit ihrem Bruder Jakob weiterführte, hegte Irene Luder eine unbegrenzte Bewunderung, die wesentlich darauf gründete, dass die Beziehung der beiden Frauen auf Gleichberechtigung basierte. Ein Umstand, der für Irene Luder als Angehörige der Unterschicht nicht der Normalfall war.
Irene Luder hat den «Gartenhof» beseelt. Die Räumung und Renovation ihrer Wohnung ist das sichtbare Zeichen dafür, dass diese Zeit nun vorüber ist. Und da praktisch zur gleichen Zeit die cfd-Frauenstelle geschlossen wurde, droht sich der «Gartenhof» von einem durchschnittlichen Zürcher Wohn- und Bürohaus nur noch durch sein Äusseres zu unterscheiden.

Ruedi Tobler ist Präsident des Schweizerischen Friedensrates

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