friZ 2/2008

Zum Boykott der Sommerolympiade in Peking kommt es nicht. Daran ändert auch eine Petition der schweizerischen Tibet-Organisationen nichts, die mit 60000 Unterschriften von Bundespräsident Couchepin einen Verzicht auf die Reise zur Eröffnungsfeier fordert. Zwar geht die brutale militärische Unterdrückung in Tibet weiter, aber die grossen Schlagzeilen in den Medien macht sie nicht mehr. Von Ruedi Tobler

Die Olympischen Spiele in Peking boykottieren?

Wie das abgelaufen ist, ist geradezu ein Lehrstück über das Funktionieren der Medienöffentlichkeit. Der Taifun, der Tod und Zerstörung in einem bis heute nicht näher bekannten Ausmass über Burma brachte, fegte auch das Thema Tibet und Olympia aus den Schlagzeilen. Nun, die Menschenverachtung des burmesischen Militärregimes übertrifft jene der chinesischen Machthaber bei Weitem. Aber die burmesischen Militärs können ihre Gewaltherrschaft nur aufrecht erhalten, weil China sie darin unterstützt. Also hätte die Entwicklung in Burma durchaus ein Grund zur Verstärkung der Olympiaboykott-Bewegung sein können, was aber nicht eingetreten ist. Und endgültig zu Hilfe gekommen ist dem chinesischen Regime das schwere Erdbeben in der Provinz Sichuan. Mit der offenbar schnellen und professionellen Hilfe, einer für China geradezu beispielhaft offenen Informationspolitik und der Bereitschaft, internationale Unterstützung zu akzeptieren, konnte sie ihr ramponiertes Image in der medialen Öffentlichkeit nachhaltig aufbessern, so dass nun Boykottforderungen als undankbar bis unanständig erschienen.

Dabei hat sich an den Gründen für einen Olympiaboykott nichts geändert. Und die Diskussionen darüber gibt es schon, seit der olympische Kongress 2001 die Spiele nach Peking vergeben hat. Aber bis zur militärischen Niederschlagung der Unruhen und Proteste in Tibet waren sie kaum mehr als Gedankenspiele.

Nicht die erste Boykottdiskussion

Neu wäre der Boykott einer Sommerolympiade (durch Staaten oder Olympiadedelegationen) nicht, aber es wäre der erste seit dem Ende des Kalten Krieges. Interessanterweise haben die offenbar politisch weniger bedeutsamen Winterolympiaden nie zu ähnlichen Auseinandersetzungen geführt (einzig 1936 in Garmisch-Partenkirchen nahmen Österreich und die Schweiz nicht an den Herren-Skirennen teil, weil Skilehrer als «Profis» nicht zugelassen waren).

Boykottdiskussionen gab es seit Beginn der olympischen Spiele der Neuzeit. Nationalistische deutsche Kreise versuchten 1896 die Teilnahme ihres Landes an einer internationalen Sportveranstaltung zu verhindern, die erst noch von einem Franzosen «erfunden» worden war, konnten sich aber nicht durchsetzen. 1928 in Amsterdam wurden erstmals Leichtathletik-Frauenwettbewerbe durchgeführt: Die britischen Sportlerinnen reagierten mit einem Boykott, weil statt der ursprünglich zugesagten zehn Frauenwettbewerbe nur deren fünf durchgeführt wurden. 1936 gab es in den USA heftige Auseinandersetzungen um die Teilnahme an der Olympiade in Berlin, die mit einem Teilnahmebeschluss endeten. Dem nachmaligen IOC-Präsident Avery Brundage werden Manipulationen nachgesagt, dank denen er ein äusserst knappes Ja der Leichtathletik-Union erreichte. Einzelne Athleten blieben jedoch zuhause. Der Boykottidee auch nicht zum Durchbruch verhelfen konnte ein Ende 1935 in Paris gegründetes «Comité international pour le respect de l'esprit olympique» mit Mitgliedern aus verschiedenen europäischen Ländern. Und die von der spanischen Volksfrontregierung geplante «Volksolympiade» in Barcelona vor den Spielen in Berlin fiel dem Spanischen Bürgerkrieg zum Opfer.

Schweiz als Olympiaboykott-Pionierin

Den politischen Olympiaboykott in der Praxis mit eingeführt hat übrigens die Schweiz. 1956 war ein weltpolitisch und militärisch sehr bewegtes Jahr. Spannungen zwischen Ägypten und Israel und die Verstaatlichung des Suezkanals durch Ägypten eskalierten zur Suezkrise und Ende Oktober zum militärischen Angriff von Grossbritannien, Frankreich und Israel auf Ägypten. Anfang November 1956 schlug das sowjetische Militär den ungarischen Volksaufstand blutig nieder. Eine weitere Eskalation verhinderte der UNO-Sicherheitsrat, der Grossbritannien und Frankreich zum Rückzug aus Ägypten zwang.

Ägypten*, Irak, Kambodscha und Libanon wegen der Suezkrise sowie die Niederlande*, Spanien* und die Schweiz* wegen der militärischen Niederschlagung des Volksaufstands in Ungarn nahmen nicht an der Sommerolympiade in Melbourne im November/Dezember 1956 teil. Zudem boykottierte die Volksrepublik China die Spiele, weil Taiwan die Teilnahme unter dem Namen Formosa bewilligt worden war.1

1968 und 1972: Panzer, Fäuste und Massaker

Dieser Boykott sollte für längere Zeit einzigartig bleiben. Nicht einmal 1968, als im August russische Panzer den Prager Frühling niederwalzten und im Oktober der mexikanische Präsident Diaz (10 Tage vor Eröffnung der Olympiade) eine Studierendendemonstration durch Militärpanzer und Geheimpolizei im Blut ertränken liess2, kam es zu einer Boykottbewegung. Dafür gab es einen spektakulären «Zwischenfall» bei der Siegerehrung nach dem 200-m-Lauf. Als die US-Nationalhymne ertönte senkten zwei Afro-Amerikaner den Kopf und streckten eine Faust mit schwarzem Handschuh in die Höhe, Tommie Smith (Gold) die rechte als Symbol der Black Panther Bewegung, John Carlos (Bronze) die linke als Zeichen der Einheit der Schwarzen in den USA. Beide wurden vom olympischen Komitee der USA umgehend aus der Mannschaft ausgeschlossen.

1972 wurde die Sommerolympiade in München überschattet von einem terroristischen Überfall des «Schwarzen September» am 5. September, der 17 Tote forderte; die elf israelischen Delegationsmitglieder David Mark Berger, Zeev Friedman, Joseph Gottfreund, Eliezer Halfin, Joseph Romano, Amitzur Shapira, Kehat Shorr, Mark Slavin, André Spitzer, Jakov Springer und Moshe Weinberg, Polizeiobermeister Anton Fliegerbauer und fünf der acht palästinensischen Fedayin. Trotz der unglaublichen Bluttat wurden die olympischen Spiele, die während der Geiselnahme zunächst weiter gingen, nach einem Trauertag weitergeführt. Einige AthletInnen reisten jedoch ab, darunter auch die ägyptische Delegation.

1976-1984: Boykotte Nummer 2 bis 4

Zwanzig Jahre nach jenem von Melbourne erfolgte der zweite Boykott einer Sommerolympiade. Fast alle afrikanischen Staaten sowie Irak und Guyana blieben den Spielen in Montreal fern, aus Protest gegen die Teilnahme der Rugby-Nationalmannschaft Neuseelands. Diese hatte im Vorfeld eine Turnierreise durch Südafrika unternommen, obwohl der Apartheid-Staat wegen seiner Rassengesetze schon vor der Sommerolympiade 1964 aus der «olympischen Bewegung» ausgeschlossen worden war. Keine chinesische Mannschaft war beteiligt wegen dem Streit darum, wer die legitime Vertretung Chinas sei.3

Die Sommerolympiade von 1980 in Moskau dürfte als die Boykott-Olympiade in die Geschichte eingehen. Nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan Ende 1979 forderte US-Präsident Carter eine Verlegung der Olympiade oder ihren Ausfall. Die islamischen Länder schlossen sich dem Boykottaufruf sofort an, hingegen blieb er in etlichen westlichen Ländern umstritten. Insgesamt 62 Staaten boykottierten die Spiele in Moskau, darunter die Volksrepublik China, und fünfzehn weitere, vorwiegend westeuropäische Länder nahmen zwar teil, aber unter der Olympia- und nicht unter ihrer Nationalflagge; dazu gehörte auch die Schweiz.

Die «Revanche» erfolgte vier Jahre später bei der Sommerolympiade von Los Angeles. Die «Ostblockländer»4 boykottierten nicht nur diese Spiele, sondern organisierten mit den «Spielen der Freundschaft» in Prag eine Art Gegenolympiade. Hingegen nahm die Volksrepublik China 1984 erstmals an einer Sommerolympiade teil.

1988: Letzte Blüte des Kalten Krieges

Mit dem zu Ende gehenden Kalten Krieg wurde auch der gegenseitige Olympiaboykott begraben (und mit Aufhebung der «Amateur-Regelung» die letzte Schranke gegen die Kommerzialisierung beseitigt). Dennoch kam es zu einem Boykott der Sommerolympiade von 1988 in Seoul durch Nordkorea, dem die Mitorganisation der Spiele verweigert worden war. Aus Solidarität beteiligten sich Kuba, Nicaragua und Äthiopien am Boykott.

Hingegen waren die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Südkorea kein Thema, das zu Boykottdiskussionen führte. So wurden die Spiele am 30. September 1981 an Südkorea vergeben, weniger als anderthalb Jahre nach dem Gwangju-Massaker von Ende Mai 1980.5

Eine Boykottbewegung gegen die Sommerolympiade in Seoul entwickelte sich nicht, viele «Drittweltorganisationen» versuchten wenigstens mit Informationsmaterial und Unterlagen für den Schulunterricht auf die Zustände in Südkorea aufmerksam zu machen. Der offizielle Olympiasong «Hand in Hand» passte wie eine Faust aufs Auge zu den sozialen Verhältnissen in Südkorea, taucht aber heute noch hie und da in Schlagersendungen auf.

Mit dem Ende des Kalten Krieges waren auch die Boykottdiskussionen vorbei. Weder die Spiele von Barcelona 1992, Atlanta 19966, Sydney 2000 noch Athen 2004 gaben zu solchen Diskussionen Anlass. Erst die Wahl von Peking für dieses Jahr liess die Boykottdiskussion wieder aufleben.

Boykottdiskussion greift zu kurz

Lohnt es sich überhaupt noch, auf dieses Thema einzugehen, nachdem die Chancen auf einen tatsächlichen Boykott praktisch nicht mehr bestehen? Mir scheint das umso nötiger, als die Boykottdiskussion bereits bei der nächsten Olympiade, 2012 in London, wieder aufleben könnte. Werden sich die islamischen Staaten daran beteiligen, wenn immer noch britische Truppen Krieg in Afghanistan und Irak führen sollten?

Allerdings greift eine Boykottdiskussion zu kurz. 112 Jahre nach den ersten olympischen Spielen der Neuzeit 1896 in Athen und nach 25 durchgeführten Sommerolympiaden ist es mehr als überfällig, eine Bilanz zu ziehen. Und die fällt vernichtend aus. Das Scheitern ist bereits in den widersprüchlichen Ideen von Pierre de Coubertin angelegt - mit sich selber im Widerstreit zwischen Engagement als Pädagoge (insbesondere für einen angemessenen Platz für den Sportunterricht) und strammem französischem Patriotismus.

Sein Ideal war der «männliche Einzelkämpfer», der «ungehemmte Freiheit» brauche; Sport könne nicht «zaghaft» oder «massvoll» betrieben werden, er sprach gar von «Freiheit des Austobens», in der die anziehende Kraft des Sports und seine Daseinsberechtigung stecke. Daraus leitet sich das Motto «citius, altius, fortius» ab (im Deutschen: schneller, höher, weiter). Zugleich sollte aber das Streben nach sportlicher Höchstleistung mit dem Bemühen um menschlich-moralische Vollkommenheit einher gehen. Für de Coubertin sollten die olympischen Spiele auch eine Art religiöses Ereignis sein. Er schrieb dem «geweihten, gereinigten» Athleten eine Art Priestertum zu, der im «heiligen Bezirk von Olympia» die «Messe der Muskelreligion» hält. Letztere ist zwar tatsächlich Realität geworden, aber die «menschlich-moralische Vollkommenheit» ist wohl bereits am Start hängen geblieben.

Die Frauen wollte der Aristokrat de Coubertin auf die Rolle beschränken, die sie schon bei den antiken Wettkämpfen hatten: die Sieger zu bekränzen. Damit hätte er vielleicht in der Schweiz noch Erfolg haben können, international stand er damit auf verlorenem Posten und bereits 1900 in Paris gab es die ersten Frauenwettkämpfe.7

Olympische Widersprüche bleiben

Ein unauflösbarer Widerspruch bleiben das Ziel der immer besseren Leistung - eine klare und auch deklarierte Eliteausrichtung - und ein anderer ebenfalls sehr hoch gehaltener Grundsatz, nämlich «Teilnehmen ist wichtiger als Siegen». Ebenso widersprüchlich sind der Wunsch de Coubertins, dass die Zuschauer nur den sportlichen Leistungen applaudieren sollen, «völlig losgelöst von nationalen Präferenzen», und die zunehmende Bedeutung von nationalen Symbolen (Flaggen und Hymnen) während der olympischen Spiele.

Pazifist war de Coubertin nicht. 1916 bis 1919 übergab er das Präsidium des IOC kommissarisch einem Vertrauten, um der französischen Armee im Ersten Weltkrieg als Offizier dienen zu können. Dennoch sollten die olympischen Spiele nach seiner Vorstellung der Völkerverständigung und dem Frieden dienen. Es wäre absurd, dem IOC in dieser Hinsicht Versagen vorzuwerfen, weil es nicht in der Lage war, die beiden Weltkriege zu verhindern. Da haben wenn schon andere Institutionen und Organisationen versagt, die sich dies ausdrücklich zum Ziel gesetzt hatten. Es ist im Gegenteil erstaunlich und durchaus ein Zeichen für die Stärke der olympischen Idee, dass das IOC (und die olympischen Spiele) die beiden Weltkriege überlebt hat, insbesondere nachdem es sich mit der Olympiade von 1936 in Berlin gründlich diskreditiert hatte. Viel mehr Positives finde ich in der Bilanz jedoch nicht (s. Randspalte).

Insgesamt muss gesagt werden, dass sich das IOC durchaus als anpassungsfähig gezeigt hat und zeigt, allerdings zumeist in die falsche, aber vielleicht einzig mögliche Richtung. Auch wenn die Uno-Generalversammlung in einer Resolution vom 31. Oktober 2007 die «Schaffung einer friedlichen und besseren Welt mit Hilfe des Sports und des olympischen Ideals» beschwört, in der Praxis sind diese Ideale längst verloren gegangen, im politischen Opportunismus und Kommerz (begleitet von Korruption) ertränkt. Darum gibt es nur eine wirklich zukunftsweisende Lösung. Die olympischen Spiele in ihrer heutigen Form gehören abgeschafft, das unglaubwürdig gewordene IOC soll sich auflösen und den Platz frei machen für einen Neuanfang.
Denn es ist kaum zu bestreiten, dass Sport einen substanziellen Beitrag zu Völkerverständigung und Frieden beitragen kann. Das hat auch, zumindest teilweise, die Arbeit von Alt-Bundesrat Ogi als Uno-Sonderbeauftragter für Sport gezeigt. Aber bei Sport als Beitrag zu Frieden und Völkerverständigung geht es nicht um «citius, altius, fortius», nicht um «jung und schön» - also nicht um die «Messe der Muskelreligion». Da ginge es beispielsweise um Spiele, an denen sich «Behinderte» und «Nichtbehinderte» gleichermassen und gleichberechtigt beteiligen können, bei denen das Geschlecht keine Rolle spielt.

Ruedi Tobler ist Präsident des Schweizerischen Friedensrates

Fussnoten

* An den Reitwettbewerben, die im Juni 1956 in Stockholm stattfanden, hatten diese Länder noch teilgenommen.
1 Taiwan nahm noch bis 1971 den Sitz von China im UNO-Sicherheitsrat ein!
2 Die Zahl der Menschen, die am 12. Oktober 1968 beim Massaker von Tlatelolco ums Leben kamen, ist bis heute nicht geklärt, sie liegt aber deutlich über 300.
3 1976 hatte das IOC die Volksrepublik als alleinige Vertretung anerkannt.
4 Mit Ausnahme von Jugoslawien und Rumänien.
5 Nach einer offiziellen Untersuchung in den 90er-Jahren forderte das Gwangju-Massaker 207 Tote und etwa Tausend Schwerverletzte. Opferorganisationen gehen dagegen von mindestens Tausend Toten und 15000 Verletzten aus. Seit 2002 gibt es in Gwangju eine offizielle Gedenkstätte. In den 80er-Jahren war Südkorea das klassische «Billiglohnland» mit «Freiexportzonen», in denen die multinationalen Firmen von Zöllen befreit waren und zugleich praktisch keine Arbeitsrechte galten. Die durchschnittlichen Wochenarbeitszeiten lagen deutlich über 50 Stunden. 1987/88 kam es zu einer breiten Streikbewegung und der Gründung vieler Gewerkschaften. Die staatliche Repression liess nicht auf sich warten, viele Betriebe wurden auf die Liste der für die Verteidigung wichtige Industrie gesetzt, womit den ArbeiterInnen das Streikrecht entzogen war. Viele Firmen engagierten «Kusadae», d.h. Schlägertruppen, um die GewerkschaftsaktivistInnen einzuschüchtern und an gewerkschaftlicher Aufbauarbeit zu hindern; viele wurden spitalreif geschlagen. Die Polizei tat dies als interne Angelegenheit der Betriebe ab, schritt aber massiv gegen Gewerkschaftsaktionen in der Öffentlichkeit ein
6 Die olympischen Spiele 1996 in Atlanta wurden von einem Bombenattentat im Olympiapark mit zwei Toten und über hundert Verletzten überschattet.
7 Nicht eingegangen wird in diesem Text darauf, dass nicht alle Menschen eindeutig einem Geschlecht zugewiesen werden können, was in der Praxis zur Problemen wegen der Startberechtigung führte


Olympische Bilanz

Ganz und gar gescheitert ist die Idee der «unpolitischen» Spiele. Das lag schon in ihrer Grundanlage, die von der «zivilisierten Welt» ausging und den Kolonialismus ausblendete – und sich damit zu deren Komplizin machte. Zu Kontroversen hat das allerdings kaum je geführt. Offen zu Tage getreten ist die Fragwürdigkeit bei den olympischen Spielen von 1936 in Berlin. Zwar musste Nazideutschland einige formale Kompromisse eingehen, um die Spiele durchführen zu können. Aber es hat dafür eine absolut einmalige Gelegenheit erhalten, sich international propagandistisch darzustellen. Die Idee des «olympischen Fackellaufs» wurde übrigens im Propagandastab Adolf Hitlers entwickelt und vom IOC bereitwillig übernommen, bis heute. Eine Aufarbeitung seines Versagens durch das IOC hat es nicht gegeben, und so hat es auch keine Massnahmen ergriffen, um eine Wiederholung einer derartigen Pervertierung der olympischen Idee zu verhindern. Dem «unpolitischen Charakter» den Boden entzogen hat ebenfalls der Stellenwert, den nationale Symbole im Rahmen der olympischen Spiele erlangt haben. Und immer wieder ist Athletinnen und Athleten, die zur absoluten «Weltspitze» gehören, die Teilnahme verunmöglicht, weil sie die «falsche» Nationalität haben, bzw. mehr als die erlaubte Quote die gleiche Staatsangehörigkeit besitzen. Da wird Nationalismus höher gewertet als das Sportliche. Der Spitzensport, insbesondere in den «olympischen Disziplinen», hat seine Vorbildfunktion längst verloren. Er ist kein Beispiel mehr für eine gesunde Lebensweise, für körperliche Ertüchtigung, sondern steht unter dem berechtigten Generalverdacht des Dopings. Die «Muskelreligion» hat sich als gefährlicher Götzendienst entpuppt, das Motto «citius, altius, fortius» kommt heute einer Aufforderung zum Doping gleich. Die «Messe der Muskelreligion» hat den «heiligen Bezirk von Olympia» aber nicht nur mit Mitteln entweiht, die de Coubertin vielleicht noch mit der «ungehemmten Freiheit des Austobens» zu entschuldigen versucht hätte, sondern ihn auch dem schnöden Mammon geopfert. Dabei ist es nicht die Zulassung von Profisportlern (auf dem Altar des «Amateurismus» wurden zuvor einige «Sündenböcke» geopfert), die zur «Entweihung» geführt hat, sondern der Kommerz, dem sich das IOC wie die andern grossen Sportverbände verschrieben hat. Wettkämpfe müssen zunehmend zu «guten Fernsehzeiten» abgehalten werden, unabhängig davon, ob ihr sportlicher Wert dadurch beeinträchtigt wird. Insgesamt sind die olympischen Spiele zum Symbol für die Wegwerfgesellschaft geworden. Nicht nur weil so viele Titel und Medaillen vergeben werden, dass kaum jemand sich ihrer zu erinnern vermag. Sondern vor allem, weil für einen Anlass von einigen wenigen Tagen Milliarden investiert, Anlagen aufgebaut werden, die danach nutzlos herumstehen oder wieder abgebaut werden müssen. Oft werden ganze Quartiere abgerissen und die ansässige Bevölkerung verdrängt, weil sie dem «völkerverbindenden Fest» in die Quere kommt. Olympische Spiele geraten zunehmend in einen diametralen Gegensatz zu einer nachhaltigen Entwicklung. Aber hat das IOC nicht wenigstens im Bereich des Behindertensports die Zeichnen der Zeit erkannt und organisiert jeweils im Anschluss an die olympischen die paralympischen Spiele auf den gleichen Anlagen? Es ist nicht das IOC, das diese Idee hatte, sondern Behindertensportverbände haben sich selber organisiert im «International Paralympic Committee» (IPC) und erst 2001 haben sie eine Vereinbarung mit dem IOC erreicht, dass die paralympischen Spiele jeweils kurz nach den olympischen auf den gleichen Anlagen durchgeführt werden sollen. Diese Zweiteilung zeigt geradezu idealtypisch, dass die «richtige» Olympiade für die gesunden jungen und schönen Männer und Frauen – orientiert am klassischen griechischen Schönheitsideal - bestimmt und ihnen exklusiv vorbehalten ist, während die Behinderten im Nachgang nehmen können, was übrig bleibt – also Teilung und Trennung statt Verbindung und Gemeinsamkeit.

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