FriZ 4/2007

Seit mehr als vierzig Jahren gibt es so genannte «Internationale Meinungstribunale». François Houtart erläutert das Konzept dieser politischen Alternative zur juristischen Bewältigung von Menschenrechtsverletzungen Im Gespräch mit Michael Fischer.

Meinungstribunale als Ergänzung des Völkerrechts

Was ist ein Alternatives Meinungstribunal und wie ist diese Art von Tribunalen entstanden?
François Houtart: Das erste Alternative Meinungstribunal wurde im 1966 im im Zusammenhang mit dem Vietnam-Krieg organisiert. Das Tribunal kam durch eine Initiative des englischen Philosophen Bertrand Russell und des französischen Philosophen Jean-Paul Sartre zustande. Sie luden international anerkannte Persönlichkeiten ihrer Zeit ein, um über die während des Vietnam-Kriegs begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein alternatives Urteil zu fällen. Es gab zwei Sitzungen des Tribunals: Zuerst in Stockholm und dann in Kopenhagen. Das Richter-Gremium setzte sich aus Juristen und aus Persönlichkeiten aus Philosophie und Literatur zusammen. Die Idee war nicht, ein Tribunal einzuberufen, das juristische Vollmachten besitzt und dessen Urteil strafrechtliche Konsequenzen nach sich zieht. Es ging vielmehr darum, ein moralisches Urteil über die von den USA in Vietnam begangenen Kriegsverbrechen zu fällen und die Öffentlichkeit darauf aufmerksam zu machen. Die Richter eines Meinungstribunals sind natürlich keineswegs politisch neutral. Sie sind jedoch als aufrichtige Persönlichkeiten anerkannt und vertreten keine partikularen Interessen.
Das Tribunal gegen die Kriegsverbrechen in Vietnam war der erste Schritt. Der italienische Jurist Lelio Basso, selbst Mitglied des Richter-Gremiums im Vietnam-Tribunal, versuchte danach aus dem Tribunal eine permanente Institution zu schaffen, das sogenannte «Permanente Tribunal der Völker». Das Tribunal orientiert sich an den juristischen Normen, welche auf einer Juristen-Konferenz in Algerien in der «Charta von Argel» festgehalten wurden. Mit der Charta sollte eine «Erklärung der Rechte der Völker» verabschiedet werden, welche im Gegensatz zu der Uno-Menschenrechtserklärung auch die kollektiven Rechte der Völker mit einbezieht. Diese Erklärung entstand während der letzten Phase der Entkolonialisierung und dem Beginn der Aneignung der Reichtümer des Südens durch die multinationalen Unternehmen. Mit dieser «Charta von Argel» sollte ausserdem eine alternative juristische Basis geschaffen werden. Denn bei der «Charta» handelt es sich nicht um eine universelle Erklärung wie bei der Uno-Menschenrechtserklärung, sondern um eine sehr wertvolle theoretische Arbeit, welche der Weiterentwicklung des Humanitären Völkerrechtes einen wichtigen Anstoss gab.
Auf dieser Basis organisierte sich das Permanente Tribunal der Völker: Das Tribunal besteht aus einem Gremium von rund 50 permanenten Richter. Bis heute wurden bereits 33 Sitzungen des Tribunals organisiert, die Letzte fand im März 2007 auf den Philippinen statt. Die Sitzungen des Tribunals werden durch die Anfrage von lokalen Organisationen einberufen.
Auf dem Tribunal werden Zeugen präsentiert und es wird eine Dokumentation über die vorgestellten Fälle erarbeitet. Das anwesende Richter-Gremium besteht jeweils aus fünf bis elf internationalen Persönlichkeiten. Es können jedoch nicht nur die permanenten Richter zum Tribunal eingeladen werden, sondern es ist jeweils auch möglich, neue Richter zu bestimmen. Die Angeschuldigten werden ebenfalls eingeladen, einen Repräsentanten zu ihrer Verteidiung ans Tribunal zu schicken. In der Regel wird das Angebot jedoch nicht angenommen. Nach der Anhörung der Zeugenaussagen fällt das Richter-Gremium schliesslich ein Urteil über die Verantwortlichen.

Welche Konsequenzen kann ein solches Alternatives Meinungstribunal haben?
François Houtart: Das hängt sehr stark davon ab, welche Bedeutung die Medien dem Tribunal beimessen. Es gab Tribunale, die eine grosse Aufmerksamkeit von Seiten der Medien erreichten. Auf der anderen Seite gab es aber auch Tribunale, an denen zwar der Präsident, Vize-Präsident und verschiedene Sekretäre der Regierung usw. anwesend waren, an deren Presse-Konferenz aber fast keine Journalisten teilnahmen. Es ist jeweils sehr schwierig vorauszusehen, welche Bedeutung die Medien einem Tribunal beimessen.
Darüber hinaus ist es auch wichtig, andere Instanzen mit dem Tribunal in Verbindung zu bringen. So werden die Schlussfolgerungen eines Tribunals nicht nur an die betreffenden Regierungen und nationalen Gerichte verschickt, sondern ebenso an unabhängige Menschenrechtsorganisationen auf nationaler und internationaler Ebene, an die Vereinten Nationen, an die EU, an die US-amerikanische Regierung usw. Damit soll auf diese Institutionen Druck ausgeübt werden.
Schliesslich möchten die Alternativen Meinungstribunale auch zur Erweiterung des Humanitären Völkerrechtes beitragen. Das Internationale Recht dient heute in erster Linie den grossen Transnationalen Unternehmen und wird durch die internationalen Finanzinstitutionen wie die Weltbank, der Internationale Währungsfonds, oder die Welthandelsorganisation dominiert. Die eigentlichen Rechte der Völker werden diesen Interessen untergeordnet. Aus diesem Grund setzen sich die Alternativen Meinungstribunale für die Schaffung eines anderen Internationalen Rechtes ein.
In einigen Fällen waren wir durchaus erfolgreich: Im Jahr 1984 haben wir beispielsweise ein Tribunal gegen die US-amerikanische Intervention in Nicaragua organisiert. Zuerst war die sandinistische Regierung nicht sehr begeistert über unsere Initiative, da sie bereits selbst beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag eine Beschwerde gegen die USA eingereicht hatte und unsere Initiative dort hätte falsch interpretiert werden können. Schliesslich konnten wir aber die sandinistische Regierung davon überzeugen, dass es wichtig ist, die internationale Öffentlichkeit auf die Problematik aufmerksam zu machen. Das Tribunal fand nur zwei Monate vor der Urteilsfällung des Internationalen Strafgerichtshofes statt. Als unser Tribunal zu Ende ging erhielten wir von Seiten des Internationalen Strafgerichtshofes eine offizielle Anfrage, ob wir Ihnen unsere Dokumentation zur Verfügung stellen würden. Das bedeutet, ein Alternatives Meinungstribunal kann durchaus Konsequenzen haben!

Welchen Einfluss kann ein Tribunal auf das politische Geschehen in einem Land ausüben?
François Houtart: Das hängt sehr stark von der aktuellen, politischen Situation im Land ab. Wenn ein Tribunal zum Beispiel vor den Wahlen stattfindet, kann es durchaus Einfluss auf das Wahlergebniss haben. Entscheidend ist dabei, dass eine möglichst weite Verbreitung der Ergebnisse des Tribunals angestrebt wird.

Welche Bedeutung haben die Alternativen Meinungstribunale heute, im Kontext der neoliberalen Globalisierung, für die sozialen Bewegungen, welche für eine gerechtere und menschlichere Welt kämpfen?
François Houtart: Ich denke die Alternativen Meinungstribunale spielen eine wichtige Rolle. Der Kampf auf internationaler Ebene ist sehr komplex. Er findet gleichzeitig auf wirtschaftlicher, politischer und sozialer Ebene statt. Darüberhinaus gibt es auch einen Kampf um die Werte und die Rechte der Völker. Und natürlich hat dieser Kampf auch eine ideologische und kulturelle Komponente. Es gibt heute eine Kultur des Marktes, welche versucht, eine Hegemonie über das Bewusstsein der Menschen auszuüben. In diesem Sinn kommt den Alternativen Meinungstribunalen eine wichtige Funktion zu, denn sie hinterfragen den Diskurs und die Werte, welche das kapitalistische System zu etablieren versucht.

François Houtart ist Direktor des Trikontinentalen Zentrums im belgischen Löwen (Leuven). Ausserdem ist er Vizepräsident des Weltweiten Forums der Alternativen und seit Anbeginn aktiver Teilnehmer des Weltsozialforums. Houtard gilt als einer der intellektuellen Köpfe hinter der Anti-Globalisierungsbewegung und hat unter anderem zusammen mit Samir Amin 2003 das Buch «Die Globalisierung des Widerstandes» verfasst.
Das Gespräch fand im Sommer 2007 in Kolumbien statt.


Nestlé-Tribunal

Ein Schweizer Beispiel für ein alter-natives Meinungstribunal fand im Herbst 2005 statt. Auf Einladung des Vereins MultiWatch nahmen damals mehr als 200 TeilnehmerInnen und VertreterInnen diverser Organisationen im Kornhausforum in Bern das Gebahren des Nahrungsmittelkonzerns Nestlé unter die Lupe. In einer öffentlichen Anhörung wurde dabei exemplarisch die Politik des Nestlé-Konzerns in Kolumbien behandelt. Es wurden konkrete Vorfälle und Anschuldigungen dargelegt und mit Zeugenaussagen und Beweismitteln belegt. Anwesend waren fünf kolumbianische Zeugen und Experten, weitere vier Zeugenaussagen wurden per Video präsentiert. Dem Rat, gebildet aus fünf bekannten Persönlichkeiten, wurden hunderte von Seiten Beweismaterial überreicht. Nestlé wurde an die Anhörung eingeladen, lehnte eine Teilnahme jedoch ab. Nebst dem vorgängigen Studium der Dokumente hatte der Rat die Aufgabe, die Zeugen anzuhören, sie zu befragen und die vorgestellten Fälle bezüglich Glaubwürdigkeit zu beurteilen. Grundlagen für die Stellungnahme waren neben ethisch-moralischen Kriterien u.a. die inter-nationale Menschenrechtskonvention der Uno, die Gewerkschaftsrechte des Internationalen Arbeitsamts sowie die deklarierten Unternehmensgrundsätze von Nestlé.

Weitere Infos gibt‘s im Internet bei der Arbeitsgruppe Schweiz – Kolumbien: www.kolumbien-aktuell.ch oder beim Verein MultiWatch: www.multiwatch.ch


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