FriZ - Thema aus Nr. 1/2007

Dies ist wohl kaum der erste Beitrag zum Problem der schweizerischen Neutralität. Warum also schon wieder über Neutralität reden – oder schreiben? Ist denn nicht schon alles gesagt? Von Georg Kreis

Neutralität ist immer auch Interessenwahrung

Die liebe Neutralität ist ein leidiges Dauerthema. Und sie hat als Dauerthema wegen unserer Aussenministerin in doppelter Weise neue Belebung erfahren. Doppelt: auf eine sehr gesuchte und auf eine unfreiwillige Art. Die sehr gesuchte Art bestand und besteht darin, dass Bundesrätin Micheline Calmy-Rey ihre auf Sichtbarkeit angelegte Aussenpolitik mit dem Label der «aktiven Neutralität» versieht und damit nicht nur den Handlungsspielraum erweitern will, sondern das stärkere Engagement geradezu als eine mit der Neutralität verknüpfte Verpflichtung präsentiert.1
Die weniger freiwillige Aktualisierung der Neutralitätsdebatte ergibt sich aus der Entrüstung, mit der national-konservative Kräfte des Landes im Juli 2006 auf Erklärungen des EDA zum Liba-nonkrieg reagiert haben. Die Folgen: Das EDA muss oder darf einen weiteren Bericht über die «wesentlichen Elemente der Neutralität» im Konzept der Aussenpolitik vorlegen. Dies als Fortschreibung des Neutralitätsberichts, den die Kommission Krafft 1991 erarbeitet hat und der als Annex zum bekannten aussenpolitischen Bericht von 1993 nochmals publiziert worden ist. Das EDA wird gleich zwei zusätzliche Texte mitliefern, einen über die Rolle der Schweiz als Depositarstaat der Genfer Konventionen, einen anderen über das Kriegsvölkerrecht in asymmetrischen Kriegen. Vorgesehen für den Januar 2007, der bekanntlich schon eine Weile vorbei ist. Dafür hat eine Partei, deren Stärke die Schwäche der anderen ist, schon am 16. Januar 2007 medienstark den Tarif gegen den aktuellen Kurs der angeblichen «Verwässerung» und «Preisgabe» durchgegeben.2 Derweil warten wir auf den Bericht aus Bern.

Schweizerische Neutralität – geschichtlich

Wenn man die Neutralität von der historischen Seite angeht, kann man das auf zwei grundsätzlich unterschiedliche Arten tun: Entweder betont man die Jahrhunderte lange Tradition und mit der historischen Tiefe die hohe Verbindlichkeit dieser Maxime. Oder man betont den im Laufe der Jahrhunderte beobachtbaren Wandel, um damit die Relativität und Auslegungsbedürftigkeit der Maxime zu unterstreichen.
Was die Tiefenperspektive betrifft, weisen die Fachleute der Neutralitätsgeschichte gerne und zu Recht darauf hin, dass die Neutralität erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die Schweiz von rivalisierenden Nationalstaaten umgeben war, eine erhöhte Bedeutung als aussenpolitische Leitidee erlangt hat. Anhänger des fundamentalistischen Neutralitätsverständnisses leiten dagegen die Maxime gerne von Marigna-no 1515 ableiten.3 Kollege Thomas Maissen stellt fest, dass wahrscheinlich über 170 Jahre später, 1692, ein Schwyzer Tagsatzungsschreiber erstmals Marignano als Ausgangspunkt der Neutralitätstradition bezeichnet habe, dies in einer Zeit, da ein rhetorisches Argument, das zwar bei Bedarf bereits zur Verfügung stand, zu einer konsequenter beachteten Staatsmaxime wurde.4
Zur historisierenden Argumentation gehört, dass sich die Neutralität bewährt habe und darum auch künftig weitergeführt werden müsse – wie bisher. Die Neutralität hat sich insofern zweifellos bewährt, als die Äquidistanz zu den in unmittelbarer Nachbarschaft ausgetragenen Konflikten die Schweiz davor bewahrt hat, in diese hineingezogen zu werden. Und dazu brauchte es die Bereitschaft, seine Sonderstellung auch militärisch zu sichern, das heisst die «bewaffnete Neutralität». Allein: In der bipolaren Struktur des Kalten Krieges waren die Voraussetzungen für ein Konzept der autonomen Landesverteidigung nicht mehr gegeben – und wurde aus ideologischen Gründen dennoch heftig weiterpropagiert und praktiziert. Die Neutralität bildete in dieser Phase der Geschichte einen willkommenen Referenzpunkt, aus dem man die Pflicht zur Hochrüstung und auch zum Alleingang ableiten konnte.

Schweizerische Neutralität – militärisch

Aus den genannten Gründen, das heisst wegen der Möglichkeit, die hohen Verteidigungsausgaben und den nationalen Alleingang zu rechtfertigen, hatte die Schweiz bis in die frühen 1990er Jahre im Armeemilieu die entschiedensten Neutralitäsverteidiger. Es war deshalb für mich ein erhellendes Erlebnis, als ich 1997 meinte, mit meiner kritischen Neutralitätsanalyse vor der Offiziersgesellschaft beider Basel ein «Daniel in der Löwengrube» zu sein und plötzlich bemerkte, dass der als Korreferent geladene und vom feldgrünen Auditorium wärmstens unterstützte Generalstabschef Arthur Liener mich in der Kritik der Neutralitätsdoktrin überbot.5
Inzwischen haben sich die Vordenker der Armee als die eifrigsten Befürworter des Paradigmenwechsels vom Alleingangs- zum Kooperationsmodell erwiesen und mit der Revision des Militärgesetzes 2001 den Segen der Volksmehrheit und die nötige Rechtsgrundlage dafür bekommen. Sie hat sich damit innenpolitisch vielleicht neue Freunde, sicher aber neue Feinde geschaffen, dies in einem Masse, dass eine Bundesratspartei, die den Verteidigungsminister stellt, die Absetzung des angeblich «landesverräterischen» Generalstabschefs (Keckeis) fordert. Dass sich die Armee mit ihrer neuerlichen Kooperationsfreudigkeit auf der Linken nicht in dem Masse neue innenpolitische Freunde geschaffen hat, als sie auf der Rechten neue Feinde bekommen hat, dürfte für friZ-LeserInnen keine Überraschung sein.

Schweizerische Neutralität – rechtlich

Auch wenn ich dazu nicht Expertenstatus beanspruchen kann, möchte ich mich nicht nur zur geschichtlichen, sondern auch zur rechtlichen Dimension der Frage äussern. Bekanntlich werden wir immer wieder aufgefordert, zwischen Neutralitätsrecht und Neutralitätspolitik zu unterscheiden; zwischen dem kleineren Verbindlichkeitskern und dem grösseren Manövrierfeld. Die historische Analyse beschränkt sich nicht auf die Neutralitätspolitik, sondern befasst sich – unter dem Gesichtspunkt des Wandels – auch mit dem jeweils vorherrschenden Verständnis des Neutralitätsrechts.
Der Wandel, ein Hauptgegenstand historischer Betrachtung, betrifft einerseits gewiss die Praxis, aber auch den Bedarf und die Wertvorstellungen in einer sich ebenfalls wandelnden Welt. Diesen Wandel kann man beispielsweise an der wachsenden Wichtigkeit des Konzepts der asymmetrischen Konflikte erkennen. Solche dürfte es zwar schon immer gegeben haben, doch erst in jüngerer Zeit sehen die Staatengemeinschaft und die internationalen Organisationen auch hier einen Klärungs- und Regelungsbedarf.
Wie gerade mit normativen-rechtlichen Argumentationen operiert wird, kann man an den unterschiedlichen Bezugnahmen auf die Tatsache ablesen, dass die Schweiz Sitz des IKRK und der verschiedenen Rotkreuz-Konventionen ist. Noch in den 1980er Jahren glaubten politische Kräfte, die aus welchen Gründen auch immer gegen den Uno-Beitritt waren, die These vertreten zu können, dass die Schweiz aus Rücksicht auf das IKRK nicht der Uno beitreten könne. Dann setzte sich die Auffassung durch, dass die Schweiz in ihren Entscheiden dadurch nicht beeinträchtigt sei. Jetzt bekommt man von der aktuellen Aussenministerin die These vorgesetzt, dass man als Depositarstaatstaat geradezu verpflichtet sei, sich zum Anwalt des humanitären Völkerrechts zu machen. Daniel Thürer, Zürcher Völkerrechtler und IKRK-Mitglied, hat dagegen zu Recht erklärt, dass für die Schweiz keine spezielle Verpflichtung dieser Art bestehe.6
Weniger rechtlich als vielmehr politisch, aber materiell doch mit der IKRK-Position verbunden, war die Überlegung, dass Neutralität auch in anderer Hinsicht eine wichtige Voraussetzung sei:
1. wegen der Guten Dienste (in Form von Übernahmen diplomatischer Vertretungen für Dritte),
2. wegen der Vermittlungsbemühungen (kürzlich auch im Nahostkonflikt) und
3. wegen der Gastgeberschaft für internationale Treffen (z.B. mit dem irakischen Vizepräsident und Aussenminister Tarek Azis).
Bei näherem Zusehen erweist sich das aber als Mythos, der die aus anderen Gründen erwünschte Neutralität zusätzlich legitimieren soll. Nichtneutrale oder weniger neutrale Akteure (z.B. Norwegen) sind in diesen Branchen mindestens so gefragt und erfolgreich.
Zu den rechtlichen, aber mindestens so sehr historischen wie politischen Erwägungen gehört die stets in Erinnerung zu rufende Feststellung, dass die Neutralität keine Verfassungsnorm ist. Die Verfassungsväter von 1848 waren so weise, von einer verfassungsrechtlichen Festschreibung der Neutralität abzusehen. Die Neutralität sei zwar eine «dermalen angemessen erscheinende Massregel», man könne aber nicht wissen, ob sie «einmal im Interesse der eigenen Selbständigkeit verlassen werden müsse».7 Man begnügte sich damit, in den Zuständigkeitsregelungen zwischen Exekutive und Legislative festzuhalten, dass beide Gewalten für Neutralitätsfragen zuständig seien. Daran hat auch die neue und stets etwas unterschätzte Verfassung von 1999 nichts geändert. Da ist, sogar deutlicher als zuvor, festgehalten, dass die Schweiz «Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt» stärken wolle (Präambel), dass sie sich für «eine friedliche und gerechte internationale Ordnung» einsetze (Art. 2) und «zur Linderung von Not und Armut in der Welt, zur Achtung der Menschenrechte (...) und zu einem friedlichen Zusammenleben der Völker» beitrage (Art.54). Nur in den Artikeln 173 und 185 wird auch die Neutralität erwähnt, einmal sogar bloss unter «weiteren Aufgaben» subsumiert.
Die Partei, die sich heute als Gralshüterin der Neutralität aufspielt, droht immer wieder mal, mit einer Verfassungsinitiative die Neutralität verbindlicher in unserem Grundgesetz verankern zu wollen. Es müsste diese Gruppe eigentlich stören, dass sie damit ein Projekt reaktiviert, mit dem nazifreundlich agierende Kräfte (der 1921 gegründete Volksbund für die Unabhängigkeit der Schweiz als Vorgänger der heutigen Auns) schon 1938 Bundesrat Motta drängten, von der so genannten differentiellen zur integralen oder absoluten Neutralität zurückzukehren.8
Damals erschien dies angezeigt, weil der Völkerbund wegen der Austritte insbesondere von Deutschland und Italien den universalen Charakter vollends eingebüsst hatte. Ein historisches Datum in der Geschichte der schweizerischen Neutralität bildet die 1990 vor dem
2. Golfkrieg wiederum in der anderen Richtung vollzogene «Rückkehr» von der absoluten jetzt wieder zur differentiellen Neutralität.9 Das heisst: Die Schweiz erklärte sich bereit, Wirtschaftssank-tionen mitzutragen, wenn die sanktionierende Behörde als einige Staatengemeinschaft geschlossen gegen einen einzelnen Rechtsbrecher vorgeht. Dies bedeutete, dass man sich den Wirtschaftssanktionen anschloss und sogar militärische Durchzugsrechte in der Luft wie am Boden gewährte.

Schweizerische Neutralität – psychologisch

Wir wissen, dass die Neutralität als Landesmarke den Schweizern ans Herz gewachsen ist, dass sie sie als Teil ihres Seins verstehen, als Element ihrer Identität. Jedenfalls gehört sie zum festen Inventar der Selbstdefinition und wird durch Umfragen in ihrer Bedeutung stets bekräftigt. Die jüngste Bestätigung finden wir in einer Schnellbefragung von Kandidaten für den diplomatischen Dienst nach den «Dingen», für die die Schweiz stehe: Da wurde an zweiter Stelle nach «Sicherheit und Frieden» die «Neutralität» genannt vor «Ordnungsbewusstsein und Präzision» und vier weiteren Kategorien.10 Obwohl man auch da sagen könnte, dass die Neutralität nur ein Mittel sei – eben zur Umschreibung des eigenen Seins –, besteht in dieser Welt die starke Tendenz zur Umdrehung der Verhältnisse: Die Neutralität wird zum Selbstzweck und die Schweiz wird zum Land stilisiert, dessen heilige Aufgabe und Pflicht es sei, dafür zu sorgen, dass an einem Ort auf dem Globus ideale Neutralität herrscht. Das ist eine Überhöhung der eigenen Existenz durch die Unterwerfung unter ein hohes Prinzip.
Die «Auseinandersetzungen» mit der Neutralität haben oft etwas Irreelles, Selbstreferenzielles, Weltfremdes.11 Theoretische Debatten könnten zwar auch etwas Gutes haben, wenn sie Orientierung ermöglichen. Wesentlicher ist aber, darauf zu schauen, was konkret geschieht und ob es gut ist, dass es geschieht: im Bereich des Kriegsmaterialexports, der Exportrisikogaran-tien (z.B. für den Ilisu-Staudamm in der Türkei), im Bereich der Entwicklungshilfe, in der Nutzung des Uno-Forums und anderem mehr.

Schweizerische Neutralität – wirtschaftlich

Das theoretische Reden über Neutralität trägt aber in den meisten Fällen den tatsächlichen Verstrickungen vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht mit dem «Rest der Welt» keine Rechnung und blendet diese gegen aussen wie gegen innen aus. Es gibt ja die Neutralität der Wirtschaftsakteure, die mit allen Seiten gute Geschäftsbeziehungen unterhalten wollen. Und es gibt den Effekt, dass derjenige, der sich politisch nicht engagiert, zum Konfliktprofiteur wird. Darum orientiert sich die Schweiz theoretisch am Prinzip des «courant normal», das sich an normalen Geschäftsjahren orientiert und keine ausserordentlichen Profite zulassen will. In diesen Problemlagen operiert die offizielle Argumentation seltener mit der Denkfigur der «Neutralität», sondern zieht es vor, diejenige der «Universalität» einzusetzen. Im Kontext etwa der Südafrikapolitik lautete in den 1980er Jahren die dazu vom Vorort (heute «économiesuisse») vertretenen Doktrin: «Es muss jeder Firma unbenommen sein, Möglichkeiten zu nutzen oder nicht zu nutzen, Geschäfte abzuschliessen oder nicht abzuschliessen. (...) Die schweizerische Aussenwirtschaftspolitik muss sich bemühen, die Handelskanäle nach allen Seiten offenzuhalten und Diskriminierungen nach Möglichkeit zu verhindern.»12

Schweizerische Neutralität – moralisch

Mit der Aufwertung der Menschenrechte zu einer relevanten Kategorie der Aussenpolitik ergab sich die Frage, wie diese sich zur Maxime der Neutralität verhalte, d.h. ob das menschenrechtliche Engagement durch neutralitätspolitische Rücksichten eingeschränkt werde könne. Wie sich das Aussenhandelsengagement durch die menschenrechtlichen Fragen nicht beeinträchtigen lässt, sollte sich das menschenrechtliche Engagement nicht durch Neutralitätsrücksichten beeinträchtigen lassen. Die Frage, ob man sich über die Beziehungspflege zum Komplizen von Regimen macht, die systematische Menschenrechtsverletzungen begehen, ist eine Frage, die trotz der Neigung zu einer ausufernden Neutralitätsberücksichtigung auf einer anderen Ebene anzusiedeln ist.
Bestimmte Formen der polizeilichen Zusammenarbeit sind vor allem wegen der Menschenrechtsfrage bedenklich, sie zeigen aber, dass in diesem Bereich bemerkenswerterweise das ansonsten sich doch stets schnell meldende «Neutralitätsgewissen» überhaupt nicht spielt. So hat Bundesrat Blocher, ein wichtiger Exponent der Gruppe, welche die Neutralität in der Aussenpolitik stärker berücksichtigt sehen möchte, kein Problem mit unkontrollierten CIA-Flügen durch den schweizerischen Luftraum13 und mit Zulieferdiensten für Guantanamo.14 Das im September 2002 ohne parlamentarische Konsultation mit den USA abgeschlossene Ermitt-lungshilfeabkommen, formal lediglich ein «Operativ Working Agreement», stammt allerdings aus der Ära Metzler und tauchte nie auf dem ansonsten sensiblen Radar der neutralitätspoli-tischen Debatten auf.15 In diesen Varianten von Aussenbeziehungen erscheint die Neutralitätsmaxime völlig irrelevant zu sein. Trotz der Willfährigkeit gegenüber dem Guantanamokomplex können die national-konservativen Wortführer die Neutralität als Schutzschild auch gegen den Terrorismus anpreisen.

Schweizerische Neutralität – politisch

Es ist ein Charakteristikum der Neutralitätsdebatte, dass die Wortmeldungen der Neutralitätsanwälte dem nicht Rechnung tragen, was zum Thema früher auch schon gesagt worden ist. Die Frage, ob die Schweiz eine aktive Neutralität betreiben kann, wie Aussenministerin Calmy-Rey dies tun will, ist zum Beispiel in der Ära Aubert, schon oft und häufig diskutiert worden. Schon 1967 erklärte ein bundesrätlicher Bericht, die schweizerische Aussenpolitik müsse «eine aktive sein, frei von Immobilismus und Passivität» – was mehrheitlich bestätigende Wortmeldungen ehrenwertester Meinungsfüh-rer zur Folge hatte.16
Wer die Neutralität vor der «Abschaffung» bewahren wollte, legitimierte ihre Beibehaltung mit dem Motto, als aktiv gestaltete Maxime könne sie weiterhin durchaus Berechtigung haben. Die SVP forderte ganz in diesem Sinne noch im Jahre 2000 in einem Positionspapier unter dem Fett-Titel «Aktive Neutralitätspolitik» ein «aktives Bewirtschaften» der Neutralität. Heute ist jedoch den Rechtsnationalen auch dies zuviel, sie rufen nach «passiver Neutralität», wie für diese die beste Aussenpolitik keine Aussenpolitik wäre.
Andere Bezeichnungen statt «aktiv» oder «passiv» sind «anwesend» oder «abwesend», «kooperativ» oder «isolationistisch». Damit ist aber nicht alles gesagt. Denn auch die aktive, anwesende und kooperative Politik kann man in unterschiedlicher Weise praktizieren. Es mag auch ein Schlangenfänger-Argument sein, dass man nicht wegen der «anderen», sondern wegen sich selbst «dabei» sein müsse und so auch die Neutralität besser erklären könne. Bei der Begründung der Uno-Mitgliedschaft 2002 hat es jedenfalls gewirkt.
Von der Aussenpolitik heisst es, dass sie Interessenpolitik zu sein habe. Gemeint ist damit das nationale Interesse. Eine Unterkategorie dieses Interesses darf es durchaus sein, der Welt die eigene Haltung und damit auch die Neutralitätspolitik verständlich zu machen. Die Interessenwahrung darf aber nicht in egoistisch-egozentrischer Weise verstanden werden, sondern muss die legitimen Interessen der anderen einbeziehen.

Georg Kreis arbeitet als Historiker an der Universität Basel und ist Direktor des interdisziplinären Europainstituts. Im politischen Ehrenamt ist er Präsident der Eidgenössisschen Kommission gegen Rassismus. Dieser Text bildete
die Grundlage für ein Referat, das der Autor am 24. März 2007 anlässlich der Jahrestagung des Romero-Hauses zum «Brennpunkt Neutralität» hielt (siehe auch: http://www.bethlehem-mission.ch/de/news/)

Literatur

Die Schweizer Neutralität
Zum Thema Neutralität hat Georg Kreis vor kurzem zusammen mit mehreren Co-Autoren ein neues Buch herausgegeben: «Die Schweizer Neutralität. Beibehalten, umgestalten oder abschaffen?»
Das Buch enthält neun Beiträge von René Rhinow, Thomas Maissen, Paul Widmer, Laurent Goetschel, Samantha Besson, Alois Riklin, Rolf C. Ribi, Daniel Thürer und Georg Kreis. Sie alle versuchen eine Antwort auf die Frage zu geben: Welche Rolle spielt die Neutralität zu Beginn des 21. Jahrhunderts für die Schweizer Aussenpolitik? Das Vorwort hat Bundespräsidentin Michelin Calmy-Rey beigesteuert. Darin schreibt sie unter anderem: «Ich verstehe unsere Neutralität als Absage an Krieg und Gewalt und als ein aktives Bekenntnis für Frieden und den Wohlstand in der Schweiz und in der Welt.»
Georg Kreis (Hg.): Die Schweizer Neutralität. Beibehalten, umgestalten oder doch abschaffen? 2007, Werdverlag, Zürich (ISBN 978-3-85932-540-1). 159 Seiten, SFr. 34.90

Fussnoten

1 Grundsatzrede vom 13. Januar 2005 an der Universität Zürich und 1. August-Rede 2006. Erstere nochmals nachzulesen als Vor-wort zu: «Die Schweizer Neutralität» (s. Hinweis auf Seite 13 dieser Ausgabe).
2 Presse vom 17. Januar 2007. NZZ: «SVP fordert Rückkehr zur passiven Neutralität», Basler Zeitung: «SVP droht mit Neutralitäts-Initiative»
3 Andreas Suter: «Neutralität. Prinzip, Praxis und Geschichtsbewusstsein», in: Manfred Hettling u.a. (Hg.), Eine kleine Geschichte der Schweiz. Der Bundesstaat und seine Traditionen. Frankfurt a.M. 1998. S. 133–188.
4 Thomas Maissen: «Wie die Eidgenossen ihre Neutralität entdeckten. Frühneuzeitliche Anpassungen an eine veränderte Staatenwelt», in: Die Schweizer Neutralität. Zürich 2007. S.51–65
5 Veranstaltung im Landratssaal Liestal, Berichterstattung der Basellandschaftlichen Zeitung vom 27. November 1997 unter dem Titel «Frieden muss man produzieren. Die Schweiz als Teil einer europäischen Sicherheitspolitik».
6 Verweis in NZZ vom 8. Dez. 2006
7 Wieder zitiert z.B. von René Rhinow: «Neutralität als Deckmantel für eine aktive oder restriktive Aussenpolitik? Anmerkungen zu einer Phantomdiskussion», in:
Die Schweizer Neutralität. Zürich 2007. S. 19–34.
8 Gerhart Waeger: «Die Sündenböcke der Schweiz. Die Zweihundert im Urteil der geschichtlichen Dokumente, 1940–1946», Olten 1971.
9 Verordnung des Bundesrats vom 7. August und Pressemitteilung vom 15. August 1990.
10 Daniel Thürer: «Aktive Neutralität? Ein Beobachter und seine (naiven) Fragen», in: Die Schweizer Neutralität. Zürich 2007. S. 137–149.
11 Zum rituellen Charakter der Neutralitätsdebatten vgl. Georg Kreis: «Kleine Neutralitätsgeschichte der Gegenwart. Ein Inventar zum neutralitätspolitischen Diskurs in der Schweiz
seit 1943», Bern 2004.
12 Vorort des SHIV AfZ, Vorort-Ar., 372.4 (Schweiz-Südafrika, Erklärung von kirchlichen Kreisen, 1986). Vgl. Kap. 5 in Georg Kreis, Die Schweiz und Südafrika 1948–1994. Schlussbericht des im Auftrag des Bundesrats durchgeführten NFP 42+. Bern 2005.
13 Der Bundesrat erneuerte im Dezember 2006 die Jahresbewilligung für US-Flugzeuge mit der vertrauensseligen Bemerkung, man erwarte, dass diese Flüge nicht gegen internationales Recht verstossen würden. Vgl. auch Anfrage von Nationalrat Jo Lang (Tages-Anzeiger vom 16. Februar 2007).
14 Berichte des Tages-Anzeigers vom 30. Januar und 1. Februar 2007.
15 Dazu allerdings dann die Motion von Nationalrat Boris Banga (SP/SO) von 2004.
16 Zum Beispiel Markus M. Ronner: «Aktive Neutralität», Bern 1967.


Inhaltsübersicht nächster Artikel