FriZ 1/2007

Im Februar jährte sich der Geburtstag der Schweizer Friedensaktivistin und Reformpädagogin Elisabeth Rotten (1882-1964) zum 125. Mal. Eine Hommage von Elisabeth Stern

Friedensaktivistin und Reformpädagogin

Elisabeth Rotten wurde am 15. Februar 1882 als Auslandschweizerin in Berlin geboren. Sie verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Berlin. 1906 bestand sie als eine der ersten Frauen in Deutschland das Abitur. Sie studierte Philosophie, Germanistik und neuere Sprachen und promovierte 1913 als Pädagogin beim Philosophen und Sozialpädagogen Paul Natorp in Marburg. Dort kam sie zum ersten Mal mit den so genannten Reformpädagogen in Kontakt.1
Ein Jahr nach ihrem Studienabschluss und nach Beendigung eines Englandaufenthaltes als Lektorin in Cambridge brach der Erste Weltkrieg aus. Sie wollte eigentlich eine Stelle als Lehrerin in der Schweiz annehmen, doch der Ausbruch des Krieges führte sie nach Berlin zurück.
«Als ich als Auslandschweizerin mein Studium humanitärer Wissenschaften – Sprachen und Philosophie – soeben beendet hatte, erlebte ich in der Schweiz, wie durch die Nachricht von Mord und kriegerischer Rache in Sarajewo die Gemüter ahnungsloser Europäer aufgeschreckt wurden, und wir aus der Illusion, Kriege unter zivilisierten Völkern gehörten der Vergangenheit an und Heere seien ein Spielzeug für Könige, jäh in eine grausame Wirklichkeit erwachten. Ich hatte vorgehabt, mich für den Schuldienst zu melden. Aber nun konnte ich mich nicht entschliessen, mich vor Kinder hinzustellen und zu lehren, als ob die Welt in Ordnung wäre. Und weil ich von einstigen Mitstudentinnen, Künstlern und anderen wusste, die plötzlich zu feindlichen Ausländern geworden, in Deutschland in Schwierigkeiten sein mochten, eilte ich nach Berlin, um zu sehen, ob und wie man solchen Bedrängten als Neutrale in menschlicher Solidarität beistehen könne.»

Das Köfferchen allzeit bereit

Es gab vor allem Tausende von französischen und belgischen Kindern, die vom Ausbruch des ersten Weltkrieges in den Ferien in Deutschland überrascht worden waren. In einem zweijährigen Kampf erreichte Elisabeth Rotten schliesslich, dass sie in deutschen Militärzügen repatriiert wurden. «Die intime Verbindung mit angstverstörten belgischen und französischen Müttern liess in mir den Entschluss reifen, mein Leben dafür einzusetzen, dass dem einen grossen Volk der Kinder auf dem Erdenrund und ihren Müttern und Betreuern ein solches Schicksal künftig erspart werde.»2
Als sie von einem plötzlich in die Frontlinie geratenen Kinderheim hörte, das nicht mehr hatte evakuiert werden können, verlangte sie die sofortige Evakuation der Kinder. Ihre Forderung wurde mehrfach abgeschlagen, ihre Angaben in Zweifel gezogen und als falsch dargestellt. Als sie hartnäckig blieb, gab man ihr zu verstehen, da beisse sie hoffnungslos auf Granit. «Und ich beisse auf Granit!» – und sie biss sich tatsächlich durch. Ihre Friedfertigkeit war nichts Laues, ihre Gewaltlosigkeit nichts Schwächliches. Sie wurde beschattet, ihr Briefverkehr überwacht. Es gab eine Zeit, da wurde sie wöchentlich vorgeladen und verhört.
Es heisst, ihr Köfferchen mit dem Allernötigsten sei stets griffbereit gestanden.

Quäker und Liga für Menschenrechte

Ihr soziales Engagement brachte sie 1914 in Kontakt mit den englischen Quäkern, einer christlichen Gruppierung, die im 17. Jahrhundert entstanden war und sich um die Verwirklichung eines praktischen, sozialen Christentums bemühte. Insbesondere deren Vorstellungen von Friedensarbeit, Menschenwürde, Gleichberechtigung, Toleranz und Demokratie sprachen Elisabeth Rotten an. Nach dem Ersten Weltkrieg kamen die Quäker nach Deutschland, um mit der «Quäkerspeisung» Millionen von hungernden Kindern Nahrung und Freundschaft zu bringen. In dieser Kinderhilfe arbeitete Elisabeth Rotten bis 1923 mit den Quäkern zusammen.3
Elisabeth Rotten gehörte zusammen mit Albert Einstein (1879-1955), Ernst Reuter (1889-1953), dem Marburger Völkerrechtler und Pazifisten Walther Schücking und der Frauenrechtlerin Helene Stöcker (1869-1934) zu den frühen Mitgliedern der 1914 gegründeten Deutschen Liga für Menschenrechte. Weil sie im Besitz eines Schweizer Passes war, konnte Elisabeth Rotten im Frühjahr 1915 zum 1. lnternationalen Frauenkongress in Den Haag reisen, wo sie einen leidenschaftlichen pazifistischen Vortrag zum friedenspädagogischen Potential der Menschen hielt.
Als nach dem Ersten Weltkrieg im Berliner Opernhaus die erste grosse Kundgebung pazifistischer Organisationen erlaubt wurde, nahm sie allerdings eine sehr nüchterne Einschätzung der Lage vor. «Der Militarismus hat sich überschlagen, und dass die Matrosen und Soldaten ihm das äussere Ende gesetzt, ist ein Symbol dafür, dass das deutsche Volk in sich die Kraft gefunden, ihn siegreich von innen zu überwinden. Aber vergessen wir nicht: mit der äusseren Beseitigung des alten Systems, mit dem Bruch mit den bisherigen Machthabern ist es nicht getan. Wir stehen an der Schwelle von etwas ganz Neuen, das wir erst herbeiführen müssen.»
Einerseits war sie vom friedenspädagogischen Potential des Einzelnen überzeugt, andererseits war sie sich der immensen Arbeit bewusst, welche «eine innere sittliche Wandlung der Menschen» mit sich bringen würde. Für sie konnte ein dauerhafter Frieden nur auf diesem persönlichen Fundament tragfähig sein.
Im Laufe ihres Lebens verwandelte sich diese aufs Individuum fokussierte Haltung hin zu einer strukturellen Gesellschaftsveränderung.

Treffen mit Noel Baker und Jane Adams

Zwei Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges traf Elisabeth Rotten zum ersten Mal Philip Noel-Baker in London und konnte mit ihm die Lage der noch immer nicht aus Russland zurückgeschafften deutschen und österreichischen Gefangenen besprechen. Es handelte sich um die erste Hilfsaktion des vor kurzem gegründeten Völkerbundes. Insgesamt erfasste die Rückführungsaktion fast eine halbe Million Gefangene aus dreissig Ländern.
Die Verbindung von Erziehungs- und Friedensarbeit sah Elisabeth Rotten in vorbildlicher Weise von Jane Addams verwirklicht, der Gründerin der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit. Sie lernte sie 1919 in Berlin kennen. Diese Begegnung bedeutete für Elisabeth Rotten eine Horizonterweiterung, wurde sie doch dadurch mit der wichtigsten amerikanischen Exponentin der Weltfriedensbewegung bekannt. Nicht nur internationale Institutionen wurden hier geschaffen, sondern eine neue Denkweise und Lebensform kam mit diesen Frauen auf. Dazu gehörte auch Maria Montessori, die zu den ersten Frauen Italiens gehörte, die Medizin studieren konnte, und welche die weltweite Montessori-Pädagogik begründete. Diese Frauen teilten die Einsicht in die Funktionseinheit von psychisch deformierender Erziehungsweise, sozialer Gewalt und Gewaltanwendung in der Politik.

Erziehung zum selbständigen Denken

Eine Hauptaufgabe erschien Elisabeth Rotten die Erziehung zum selbständigen Denken: «Hier können Schule und Erziehung sehr wesentliche politische Vorarbeit leisten: durch Schärfung des selbständigen Urteils und durch Weckung und Wacherhaltung des Gewissens an konkreten Einzelerlebnissen und Herstellung einer Beziehung zwischen Individual- und Kollektivgewissen.» Hier zitiert sie gerne ein Beispiel aus der Praxis und zwar die Schulfarm Scharfenberg in Berlin-Tegel, in welcher die selbständige Urteilsbildung ganz besonders geschult wurde. Aus den Jahrgängen 1922 bis 1932, dem ersten Jahrzehnt dieser alternativen Schule, ist nachweislich kein einziger Nazi hervorgegangen. Ein Schüler wird zitiert: «Oh, das war sehr einfach. Sie haben uns gegen das Lügengift der Nazis immun gemacht.»4 Eines der Mittel zur Schulung des politischen Urteils war das Üben des kritischen Zeitunglesens durch die Grossen. Ein Schüler der Oberstufe hatte, täglich wechselnd, den Auftrag sämtliche Blätter zu lesen und abends zu referieren: nicht nur, wie verschieden die gleichen Ereignisse dargestellt wurden, sondern auch, warum die Deutung so unterschiedlich war, welche Hintergründe hier zum Verschweigen, dort zum Aufblähen gewisser Nachrichten führten. Dies schärfte nicht nur das Urteilsvermögen, es schuf auch ein lebendiges Bewusstsein der Beziehung zwischen Gewissensentscheidung und politischer Stellungnahme.5

Umzug in die Schweiz und Pestalozzidorf

1934 emigrierte Elisabeth Rotten in ihr Heimatland und liess sich in Saanen im Berner Oberland nieder. Hier setzte sie sich gemeinsam mit anderen Schweizer PädagogInnen für die Aufnahme von EmigrantInnen ein.
Nach 1946 wurde Elisabeth Rotten Mitbegründerin des Pestalozzi Kinderdorfes in Trogen. Sie begründete dieses Engagement u.a. mit der Notwendigkeit, den Blick auf das geschädigte einzelne Kind mit dem Blick «in die Weite auf das Ziel einer friedensfähigen Welt für alle» zu verbinden. Sie erkannte den Zusammenhang von autoritärer Gewalt in der Erziehung und politischer und sozialer Gewalt in der Gesellschaft, also den Zusammenhang von Erziehung und Friedensarbeit, wie er vom Gründer des Pestalozzi Kinderdorfes Trogen, dem Schweizer Philosophen Walter Robert Corti, portiert wurde.

Gegen das Gleichgewicht des Schreckens

Ende 1950 ging für sie ein besonderer Impuls von dem Werk «The Arms Race» des britischen Politikers Philip John Noel-Baker (1889-1982) aus, der 1959 den Friedensnobelpreis für seinen Kampf für die Abrüstung erhielt. Elisabeth Rotten übersetzte dieses Werk ins Deutsche, ebenso die Rede Noel-Bakers anlässlich der Verleihung des Nobelpreises.6 Für sie war das Streben nach weltweiter Abrüstung selbst dann älter, als die meisten Menschen wissen, wenn man vom religiös-ethischen und philosophischen Wunschbereich absieht: nämlich in der politischen Realität. Mit dem berühmten, aber meist für utopisch gehaltenen Zaren-Manifest von 1898 beginnend, hat es klaren Ausdruck in Präsident Wilsons Völkerbundplan gefunden, wie er ihn noch während des Ersten Weltkrieges, am 29. Januar 1917, dem Senat der USA vortrug: «Es kann kein Gedanke an Sicherheit und Gleichheit unter den Nationen aufkommen, wenn grosse überragende Rüstungen weiterhin hier und dort aufgebaut und unterhalten werden. Die Staatsmänner der Welt müssen auf Frieden sinnen, und die Völker müssen ihre Politik dem ebenso (...) anpassen, wie sie für den Krieg geplant und sich auf rücksichtlose Eroberungen und Nebenbuhlerschaft vorbereitet haben. Die Frage der Rüstungen, ob zu Land oder zu Wasser, ist die unmittelbar und praktisch bedeutsame Frage für das zukünftige Wohlergeben der Nationen und der Menschheit.»7
Elisabeth Rotten schrieb an gegen das «Gleichgewicht des Schreckens» und verlangte die Einstellung aller militärischer Forschung. Sie schätze die Versuchung «zur Erprobung» von Massenvernichtungswaffen für verantwortungslose Diktatoren als sehr gross ein: «Es ist Selbstbetrug zu glauben, kontrollierte Mordwaffen schützten vor dem Endkrieg, und die Einwilligung sie ‹im Notfall› doch einzusetzen, ist ethisch gleichbedeutend mit der faktischen Verwendung.»8
Am 2. Mai 1964 starb Elisabeth Rotten in einer Londoner Klinik. Sie wurde auf dem Friedhof in Saanen beerdigt. Auf ihrem Grab steht: «Sie war unterwegs für die, die noch unterwegs sind».

Elisabeth Stern studierte Psychologie und Ethnologie (Ph.D., University of California, San Diego/USA). Sie war Research Associate an der University of Zimbabwe in Harare. Heute leitet sie in der Stiftung Kinderdorf Pestalozzi
den Bereich «Interkulturelle Weiterbildung»

Literatur und Archiv

Bücher über Elisabeth Rotten:
Guido Schmidlin: «Walter Robert Corti – Der Gründer des Kinderdorfs Pestalozzi in Trogen», Speer Verlag, Zürich, 1996 (siehe speziell das Kapitel «Elisabeth Rotten», S. 210ff.)
der neue bund, Zeitschrift für Freiheit und Gemeinschaft, 1964, Heft Nr. 3, Sonderheft zum Tod von Elisabeth Rotten mit Artikeln von Willi Hirsch, Helene Stucki und
Elisabeth Rotten.
Dietmar Haubfleisch: Elisabeth Rotten (1882-1964) – ein Quellen- und Literaturverzeichnis, Marburg 1997 (http://archiv.ub.uni-marburg.de/sonst/1997/0010.html)
Die Schriften von Elisabeth Rotten sind breit verteilt. Leider gibt es kein Archiv, in welchem alle ihre Schriften zugänglich sind. Ein umfassendes Quellen- und Literaturverzeichnis hat Dietmar Haubfleisch von der Universität
Marburg 1997 zusammengestellt (http://archiv.ub.uni-marburg.de), mit Angabe der Archivalien. U.a. befinden sich im Archiv der Stiftung Kinderdorf Pestalozzi (gegen Voranmeldung zugänglich) sechs Ordner mit persönlicher Korrespondenz von Elisabeth Rotten.

Fussnoten

Fussnoten
1 Im Jubiläumsheft 150 (April/Mai 2007) der «vpod bildungspolitik» erscheint ein Artikel über das pädagogische Wirken von Elisabeth Rotten.
2 Zitiert in: Dietmar Haubfleisch: «Elisabeth Rotten, eine fast vergessene Reformpädagogin», http:/archiv.ub.uni-marburg.de/1996/0010.html
3 Quelle: Schmidlin Guido, 1996, Kapitel «Elisabeth Rotten»
4 Zitiert in: Helene Stucki, der neue bund, Nr. 3, 1964, S. 101
5 zitiert nach: Schmidlin Guido, 1996, S. 210 ff.
6 Philip Noel-Baker: «Wettlauf der Waffen. Konkrete Vorschläge für die Abrüstung», übers. aus dem Englischen von Elisabeth Rotten, München 1961 (Original: Philip Noel-Baker: «The Arms Race.
A programme for World Disarmament», London 1958).
7 Elisabeth Rotten: «Warum ja zur totalen Abrüstung?», in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Jg. 13 (1962), S. 68-74.
8 Elisabeth Rotten: «Warum ja zur totalen Abrüstung?», in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Jg. 13 (1962), S. 71


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