FriZ 4/2004

Kein Friede ohne Gerechtigkeit! Dies sind nicht nur beliebte und verbreitete Schlagworte vieler Nichtregierungsorganisationen, sondern ein exerziertes Konzept der Konfliktbewältigung in Nachkriegsgesellschaften. Gerechtigkeit wird in diesem Zusammenhang mit gerichtlicher - fast ausschliesslich strafrechtlicher - oder quasigerichtlicher Aufarbeitung, wie durch Wahrheitskommissionen, in Verbindung gebracht. Von Simon Meisenberg

Gerechtigkeit durch internationale Strafjustiz

Die internationalen Strafgerichte für das ehemalige Jugoslawien, Ruanda und Sierra Leone, ebenso die "internationalisierten" Strafgerichte der Vereinten Nationen im Kosovo und in Osttimor sind gerade auch dazu ins Leben gerufen worden, um zur Versöhnung und zum Frieden der Kriegsgesellschaften beizutragen. So bekundet der Sicherheitsrat in seiner Resolution 955 (1994) zur Gründung des Ruanda Strafgerichtshofes, "dass [...] die Verwirklichung dieses Zieles [...] zur nationalen Aussöhnung wie auch zur Wiederherstellung und Wahrung des Friedens beitragen würde." Ähnliche Erwartungen des Sicherheitsrates wurden in Resolution 1534 (2004) dem Jugoslawien-Tribunal zugesprochen: "[Die] wichtige Arbeit der beiden Gerichtshöfe als Beitrag zu dauerhaftem Frieden und Sicherheit und nationaler Aussöhnung [...]". Resolution 1315 (2000), die den Sondergerichtshof für Sierra Leone und das Mandat für einen von den Vereinten Nationen unterstützten Sondergerichtshof begründet, erkennt ebenso, dass ein Gerichtshof "unter den besonderen Umständen Sierra Leones ein glaubwürdiges System der Rechtspflege und der Rechenschaft für die sehr schweren Verbrechen, die dort verübt wurden, der Straflosigkeit ein Ende setzen und zum Prozess der nationalen Aussöhnung sowie zur Wiederherstellung und Wahrung des Friedens beitragen würde." Dieses Konzept bestärkt der Generalsekretär der Vereinten Nationen ebenso in seinem Bericht "The rule of law and transitional justice in conflict and post-conflict societies" vom 23. August 2004. Nichtregierungsorganisationen und die Vereinten Nationen sind sich offenbar bei Konfliktbewältigungsmassnahmen einig: No Peace without justice!

No peace without justice?

Amid Karzai, Präsident Afghanistans, teilt die oben genannte Position nicht. Die BBC liess er wissen, dass Frieden eine Notwendigkeit, Gerechtigkeit aber Luxus sei. Beachtet man die derzeitige politische Landschaft und die Macht der ehemaligen Warlords in Afghanistan, so zeugt diese Ansicht von einer vermeintlich realpolitischen Vernunft. Jedoch könnte diese Straffreiheit und die Abhängigkeit der Macht von dem Wohlwollen dieser Kriegsfürsten den nachhaltigen Frieden ebenso gefährden.

In Sierra Leone konnte das Kriegverbrechertribunal erst errichtet werden, nachdem das britische Militär und die Friedenstruppen der Vereinten Nationen den Frieden, und damit das Fundament der Tätigkeit des Sondergerichtshofes in Freetown, hergestellt hatten. 1999 war der Preis eines vermeintlichen Friedens in Sierra Leone, eine Generalamnestie für Kriegsverbrecher. Eine solche Generalamnestie verneint das Gerechtigkeitsbedürfnis der Opfer.

Das 1993 errichtete Jugoslawien Tribunal konnte den Völkermord von Srebrenica 1995 nicht verhindern. Die abschreckende Wirkung des Gerichts für weitere Kriegsverbrechen, welche sich der Sicherheitsrat erhofft hatte, wurde schlicht mit dem schlimmsten aller Verbrechen beantwortet. Frieden konnte das Jugoslawien Tribunal bis 1999 im ehemaligen Jugoslawien nicht wirklich stiften. Das konnten letztlich nur die Bomben der Nato und die serbische Bevölkerung durch ihre friedlichen Demonstrationen für einen Machtwechsel.

Diese Beispiele zeigen, dass internationale Strafgerichte nur dann ihr Mandat erfolgreich erfüllen können, wenn ein Mindestmass an Frieden hergestellt ist. Doch können solche Gerichte auch in einer Nachkriegsgesellschaft nachhaltigen Frieden, Versöhnung und Gerechtigkeit schaffen, wie von ihnen gefordert wird? No Peace without Justice?

No justice without peace

Hans Kelsens Schrift von 1949 "Frieden durch Recht" plädiert für ein auf Völkerrecht basierendes System, um Frieden zu schaffen. Der oben aufgezeigte Trend der Vereinten Nationen kann als Versuch einer Teilverwirklichung Kelsens verstanden werden: Frieden durch Völkerstrafrecht. Dies ist insoweit folgerichtig, als Völkerstraftäter durch ihre Handlungen nicht nur die Rechtsordnung, sondern auch die internationale Friedensordnung gefährden. Durch die Ahndung der Völkerstraftaten wird der Rechtsfrieden wiederhergestellt.

Viele geben sich jedoch mit diesem wichtigen und zentralen Beitrag nicht zufrieden und fordern von den internationalen Strafgerichten mehr als nur die Herstellung eines abstrakten Rechtsfriedens. Die Tribunale sollen auch innerhalb der Nachkriegsgesellschaften durch ihre Arbeit gesellschaftlichen Frieden und Versöhnung stiften. Eine nähere Betrachtung der Kritiken an den internationalen Gerichtshöfen verdeutlicht, dass es in Bezug zum Versöhnungsbeitrag der Tribunale massive Enttäuschungen gibt. Die Tribunale stehen hier in einem Dilemma zwischen Politik und internationalen Rechtstandards. Wie soll die Versöhnung durch das Ruanda Tribunal gestaltet werden, wenn die Opfer erfahren, dass ihre Peiniger bessere Ernährung und medizinische Versorgung erhalten als sie selber. Wie kann die Diskrepanz erklärt werden, dass den Hauptverantwortlichen eine "bevorzugte" Behandlung widerfährt, da diese vor interntonalen, die Handlanger dagegen vor nationalen Gerichten mit zweifelhaften Rechtstandards - wie z.B. den Gacaca-Gerichten in Ruanda - erscheinen. Die derzeitige Selektivität des Völkerstrafrechts führt zu einem Kriminalitäts-Darwinismus: das Überleben des Stärkeren. Führende Täter in Jugoslawien, Ruanda, Ost-Timor und Sierra Leone konnten der internationalen Strafjustiz entkommen, wie zum Beispiel Karadzic, Mladic, Gotovina, Kabuga und Taylor. Was geschieht mit ihnen nach der Beendigung der Mandate der Strafgerichtshöfe? Für andere gibt es durch die politische Halbherzigkeit der internationalen Gemeinschaft, der immensen Kosten der internationalen Strafgerichte oder durch politischen Einfluss schlicht keine Gerichtsbarkeit.

Auch die Opfer erfahren selten Gerechtigkeit beim "Erzählen" ihrer Geschichte als Zeugen vor den Gerichten. Das Prozessrecht beschränkt ihre Möglichkeit der Geschichtserzählung auf ein wenig sagendes "Ja" oder "Nein". Zudem trägt die Selektivität der Anklagen zu Enttäuschungen bei, da viele Opfer "ihren Täter" nicht auf der Anklagebank wiederfinden. Vermehrt wird durch diese Unzulänglichkeiten auf alternative Mechanismen der Vergangenheitsbewältigung, wie Wahrheitskommissionen, hingewiesen. Jedoch werden diese Instrumente der Vergangenheitsbewältigung alternativ und nicht ergänzend praktiziert. Eine Ausnahme bildet hier Sierra Leone, wo eine nationale Wahrheitskommission neben einem internationalen Strafgericht arbeitete.

Viele der Unzulänglichkeiten resultieren daraus, das die internationalen Strafgerichte oft die einzige Institution der Aufarbeitung des Konfliktes darstellen. Es gab viele offizielle Berichte von Organisationen und Staaten zu dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien und zu dem Völkermord in Ruanda, aber keine weiteren ergänzenden Institutionen, welche Zeugen öffentlich vernehmen und damit eine gewisse Amtlichkeit, Autorität und Unabhängigkeit zur Vergangenheitsbewältigung und Versöhnung ausstrahlen konnten. Daher richteten sich das alleinige Augenmerk und die Hoffnung vieler Opfer auf diese strafrechtlichen Institutionen. Internationale Strafgerichte können diese Vielzahl von Erwartungen nicht nur nicht erfüllen, es würde der Aufgabe des Strafverfahrens widersprechen, welches alleine über die individuelle Schuld des Angeklagten zu urteilen hat. Wie sollen Richter unabhängig und unparteiisch urteilen, wenn sie nebenbei auch noch zur Versöhnung der Konfliktparteien beitragen sollen? Ein Strafprozess ist alleine dazu da, die Tatsachen der jeweiligen strafrechtlichen Handlung aufzuzeigen, an der die individuelle Schuld gemessen wird, um den Rechtsbruch zu sühnen und damit den internationalen Rechtsfrieden wiederherzustellen.

Durch die hohe Täterzahl der Makroverbrechen werden internationale Strafgerichte immer nur eine kleine Anzahl von Tätern verfolgen können. Alle anderen Versuche würden aus ihnen ineffektive und arbeitsunfähige Institutionen machen. Daher können sie sich nur auf die Hauptverantwortlichen eines Konfliktes konzentrieren. Für die unteren Ebenen von Verantwortlichen müssen nationale Strafgerichte des betroffenen Staates, aber auch Drittstaaten nach dem Weltstrafrechtsprinzip tätig werden. Zur ausgewogenen und umfassenden Geschichtsaufklärung eines Konfliktes, bei der die Opfer zu Wort kommen, aber auch die kleinen Täter durch Geständnisse Straffreiheit erfahren können, sollten Wahrheitskommissionen eingesetzt werden, welche ergänzend zu den Strafgerichten bestehen. Erst eine enge Zusammenarbeit solcher verschiedenartiger Institutionen kann zu einer dauerhaften gesellschaftlichen Versöhnung beitragen. Zudem kann hierdurch auch die Lücke geschlossen werden welche durch die selektiven Anklagen entsteht, da auch die Befehlsempfänger ihre Beweggründe und Taten aufklären müssen, um Straffreiheit zu erlangen. Erst in Verbindung mit solchen Alternativen Mechanismen der Konfliktbewältigung können internationale Strafgerichte dauerhaft Frieden durch Gerechtigkeit herstellen.

Simon Meisenberg ist Jurist und arbeitet als. Er war...

Fussnoten

1 UN Doc. S/RES/955 (1994).

2 UN Doc. S/RES/1534 (2004).

3 UN Doc. S/RES/1315 (2000).

4 UN Doc. S/2004/616 (2004), etwa: "Die Rolle von Gesetz und Übergangsjustiz in Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften".

5 Hans Kelsen, Peace through Law, Chapel Hill, 1944.


Name & Begriffe

Hans Kelsen: Gilt als einer der bedeutendsten Juristen des 20. Jahrhunderts. Er erbrachte insbesondere im Staatsrecht, Völkerrecht sowie als Rechtstheoretiker herausragende Beiträge (1881-1973).

Gacaca-Gerichte: Gacaca ist eine Grasart, die sich in Ruandas Berglandschaft findet. Gacaca-Gerichte sind ursprünglich vorkoloniale Dorfgerichte in Ruanda. Sie zeichneten sich dadurch aus, dass Dorfälteste zerstrittene Parteien auf der Dorfwiese zu einem Treffen baten, um durch ihre Vermittlung eine Lösung des Konfliktes - meistens Genugtuungszahlungen - zu finden.

Ante Gotovina: Kroatischer General, der 2001 vom UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag wegen seiner Beteiligung in der Planung, Vorbereitung und Ausführung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt wurde (geb. 1955).

Félicien Kabuga: Besitzer von Radio des Mille Collines, einer der hauptverantwortlichen für den Völkermord 1994 in Ruanda.

Radovan Karadzic: Bosnisch-serbischer Politiker, zur Zeit vom Haager Tribunal und der bosnischen Regierung als Kriegsverbrecher gesucht (geb. 1945).

Ratko Mladic: Im bosnischen Bürgerkrieg von 1992-1995 Oberbefehlshaber der bosnisch-serbischen Truppen. Seit Kriegsende als Kriegsverbrecher gesucht, da ihm unter anderem die Befehlshaberschaft beim Massaker in Srebrenica angelastet wird (geb. 1942).

Charles Taylor: Bis zum 11. August 2003 Präsident von Liberia. Ihm droht eine Verurteilung durch den Sondergerichtshof für Sierra Leone.


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