FriZ - Kolumne aus Nr. 4/2004

Abschied

Er hatte sich nicht verabschiedet. Möglich, dass er sich aus verschiedensten und widersprüchlichsten Gründen weder verabschieden konnte, noch verabschieden wollte. Als er starb, verabschiedete sich aber die halbe Welt von Ihm. Der letzte Akt in der Geschichte mit dem Namen Arafat ist rätselhaft, enthält ebenso Bedenkliches wie Bedenkenswertes, enthielte vielleicht Hinweise auf Weiteres, Anderes, wäre ein Schein oder Anschein von Hoffnung, - wäre, wenn...

Die Geschichte mit dem Namen Arafat ist nicht irgendeine Geschichte, sie gehört über die Jahrhundertwende, vielleicht über eine Zeitenwende hinweg zur "Weltgeschichte". Das zeigten die offiziell nach Kairo Angereisten aus aller Welt ebenso unmissverständlich wie überraschend, wenn man das lange, erfolglose, möglicherweise tragische Ende dieser Geschichte bedenkt. Auf eine auch jetzt nicht enden wollende Tragödie weist allerdings, dass die, deren Symbolfigur er war, nicht in Kairo waren, und dass die nach Kairo angereiste Welt am Ort, an dem er dann beerdigt wurde, weder anwesend sein konnte noch vielleicht wollte.

Und doch! Vor Zeiten hatte einer in Königsberg, das nach vielen Kriegen nicht mehr so heisst, eine Idee gehabt - und sie gedacht: die Idee vom ewigen Frieden. Wenn man den alten Text wieder mal liest, versteht man, dass die Idee nicht falsch geworden ist, weil wir noch Ewigkeiten scheinen warten zu müssen, bis sie sich endlich verwirklicht. Kant hatte auch das gewusst, kritisch gewusst, und genau deshalb die Idee gedacht als menschenmögliche. Vielleicht war in Kairo oder in Jerusalem oder schliesslich dort, wo er nicht beerdigt hatte sein wollen, bei all den Abschieden, den verunmöglichten und den doch ermöglichten die Idee des Alten von Königsberg nicht einfach abwesend. Nur auf das Menschenmögliche zu hoffen ist das Wirkliche an der Idee. Mindestens sagen viele, die meisten, nahezu alle, die merken, dass wohl niemand je siegen wird, sie seien des Krieges müde. So hören anscheinend die meisten Kriege irgendwie auf - noch nicht in einem Frieden.

Nun scheinen wir uns ja in der Zwischenzeit von allem, was "noch nicht ist", prinzipiell verabschiedet zu haben, realistisch wissend und erfahren habend, wohin uns "Utopien" führten. Ein Minister in Jerusalem gab medienöffentlich kund, er hasse Arafat, im Präsenz sagte er das, obwohl der Feind von allein gestorben ist, nicht mal ermordet werden musste; und auf der anderen Seite werden andere gleich gegenwärtig weiter hassen. Auch das ist offensichtlich immer weiter menschenmöglich.

C'est ça! Was aber bleibt? Diese Frage hat Hölderlin kurz nach Kant nicht nur gestellt, sondern in massloser Kühnheit beantwortet: die Dichter würden das, was bleibt, erst "stiften". Wir dichten alle immer wieder, jede und jeder, wenn wir uns für einen kühnen Moment verabschieden von dem ewig blöden Spruch, so sei es halt. Mir scheint es menschenmöglich, dass die "Welt", als sie nach Kairo fuhr, auch ein wenig dichtete.

Manfred Züfle ist Schriftsteller, Publizist und Intellektueller. Er war Präsident und Sekretär der ehemaligen Gruppe Olten und schrieb während eines Jahres die Kolumne in der friZ. Vielen Dank!


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