FriZ 3/2004

"...damit das Kind seine Persönlichkeit umfänglich und harmonisch entwickeln kann, sollte es im Rahmen einer Familie, in einer Atmosphäre von Glücklichsein, Liebe und Verständnis aufwachsen."

Präambel der UNO-Konvention über Kinderrechte von 1989

Bei Kindersoldaten denkt man zuerst an Afrika, und tatsächlich ist ihre Zahl dort überproportional gross. Dafür gibt es mehrere Gründe, die letztlich alle auf die Unterentwicklung zurück gehen. Von Ruedi Küng

Afrikas Kindersoldaten - Opfer von Armut und Unterentwicklung

Die Szenerie am Strand von Goderich, ausserhalb der sierra-leonischen Hauptstadt Freetown, ist pittoresk: zwischen langen, schlanken Fischerbooten herrscht emsiges Treiben, Frauen feilschen um Fischpreise, Fischer reparieren ihre auf dem Sand ausgelegten Netze, oder hämmern an ihrem Schiff herum. Die Küstenlinie hier wäre eine ideale Tourismus-Destination, doch der Bürgerkrieg um die Kontrolle des Diamantenreichtums hat Sierra Leone ruiniert, nicht nur dessen Infrastruktur und Wirtschaft, auch dessen gesellschaftliche Strukturen: unzählige kriegsgeschädigte Kinder und Jugendliche treiben sich im Slumquartier Goderich herum. "Viele von ihnen haben im Krieg ihre Eltern verloren und haben niemanden mehr, der sich um sie kümmert. Sie hängen jetzt einfach hier herum." Das sagt Sameda Bintsi vom Children Welfare Committee, einer Gruppe von Erwachsenen, die mit Unterstützung von Handicap International den Kindern zu helfen versucht. "Von vielen Kindern aber wollen die Eltern nichts mehr wissen, weil sie Kindersoldaten waren", ergänzt Victor Mensah, der Berater des Komitees.

Nicht weit vom Strand entfernt befindet sich ein kleines Haus, eng eingepfercht zwischen anderen Hütten und Behausungen: hier können die heimatlosen Kinder tagsüber Aufnahme finden, um zu spielen, um eine Wunde behandeln zu lassen, oder auch einfach, um mit anderen zusammen zu sein. Psychologisch geschulte Betreuerinnen wie Amatu Kargbo klären die seelische Verfassung und den psychischen Zustand der Kinder ab und stellen fest, wer von ihnen eine therapeutische Behandlung nötig hat. Und die Erwachsenen des Children Welfare Komitees besprechen hier, wie sie zwischen den ehemaligen Kindersoldaten und ihren Eltern vermitteln können, damit die inzwischen zu Jugendlichen Herangewachsenen wieder in der Familie leben können.

"Die psychischen Probleme sind enorm"

Zehn Jahre hat der Bürgerkrieg in Sierra Leone gedauert und die Kriegsparteien - die Regierungsseite wie die Rebellen - führten ihn auf grausame Weise. Sie töteten 75000 Menschen, zwangen Zehntausende Kinder und Jugendliche zum Kriegsdienst und missbrauchten eine Viertelmillion Frauen und Mädchen sexuell. Mehreren Tausend Frauen, Kindern und Männer hackten die Rebellen Arme und Beine ab. Viele dieser Schreckenstaten wurden von Kindersoldaten verübt. "Die psychischen Probleme dieser jungen Menschen sind enorm", meint die Kinderbetreuerin Amatu Kargbo, "sie anzugehen ist ein schwieriger, langwieriger Prozess, der auf Vertrauen beruht."

Im Children Advocacy and Rehabilitation Centre in Port Loko, im Nordwesten Sierra Leones, werden 150 ehemalige Kindersoldaten betreut. Dabei steht nicht mehr der psychologische Beistand im Vordergrund, sondern eine praktische Berufsausbildung im Schnellverfahren, um ihnen die Rückkehr in die Gesellschaft zu ermöglichen. Annette Messimo ist heute 18 Jahre alt. Mit acht Jahren wurde ihr Dorf von den Rebellen überfallen, erzählt sie, die Familienangehörigen wurden getötet, sie ist verschleppt und vergewaltigt worden. Sie bekam ein Kind. Während langer Zeit blieb sie darauf bushwife, die "Frau" des Kommandanten der Rebelleneinheit. Und immer wieder sei ihr gedroht worden, man werde sie töten, wenn sie nicht mitmache. "Die Mädchen leiden mehr als die Knaben", ist die Leiterin des Zentrums Victoria Wellington überzeugt, "denn sie müssen nicht nur kämpfen und Grausamkeiten verüben, sie werden auch vergewaltigt und als bushwives missbraucht."

"Die Kinder sind wie junge Bäume"

Überall in Afrika erzählen ehemalige Kindersoldaten und ihre Betreuer die selben, schrecklichen Geschichten. Victor Amisi leitet in der Krisenprovinz Kivu im Osten der Demokratischen Republik Kongo eine Organisation für ehemalige Kindersoldaten: "Die Soldaten kommen ins Dorf und schüchtern die ganze Bevölkerung ein, sie plündern und vergewaltigen, und sie verschleppen Mädchen und Knaben. Viele Kinder gehen auch mit, um ihre eigenes Leben zu retten oder die Sicherheit ihrer Familie zu erwirken. Es ist unglaublich, zu welchen Gräueltaten die Kinder getrieben werden: ein Junge von 10, 11 Jahren vergewaltigt eine Frau von 60. Ein Kind wird gezwungen zu töten und menschliches Fleisch zu essen."

"Die Kinder sind noch so jung, man kann sie wie junge Bäume dazu bringen, in die gewünschte Richtung zu wachsen", meint Margaret Arach Orech, die bei einem Überfall der Lord's Resistance Army in Norduganda ein Bein verlor und sich heute für die Heilung und Wiedereingliederung von Kindersoldaten einsetzt. "Die Kinder werden auf brutale Weise entführt, und müssen all die schrecklichen Dinge tun. Das wollen sie nicht, doch sie müssen es tun, um zu überleben." Den Kindern werden auch Drogen verabreicht, um sie als willfährige Killermaschinen einsetzen zu können. Margaret Arach Orechs Ansicht, dass die Kindersoldaten nur Opfer seien, wird allerdings auch in Frage gestellt. So etwa verweist die UNICEF-Mitarbeiterin Lidia Borba in der angolanischen Hauptstadt Luanda auf die materielle und emotionelle Zerrüttung vieler Familien im langjährigen Bürgerkrieg. Viele Eltern könnten die Bedürfnisse der Kinder nicht mehr befriedigen, Schule, Nahrung, Kleider, und auch jene nach Zärtlichkeit und Liebe. Ihre Kinder suchten deshalb den Militärdienst, denn mit einer Waffe hätten sie Macht und könnten sich verschaffen, was sie wollten.

Wenig Fortschritte

"Angesichts der weit verbreiteten Armut und des sozialen Elends in Afrika ist es ein Kinderspiel, mit ein paar Dollars in kürzester Zeit eine Truppe von Kindersoldaten aufzustellen", weiss Thomas Luhaka aus eigener Erfahrung zu berichten. Er ist ein hohes Führungsmitglied der ehemaligen kongolesischen Rebellenbewegung MLC, die heute an der Übergangsregierung in Kinshasa beteiligt ist. An die Rekrutierung von Kindersoldaten will die MLC allerdings nicht erinnert werden, weshalb sie auch schon Journalisten, die darüber berichteten, "verhaftet" hat.

Dieses Verhalten zeigt aber auch, dass sich das schlechte Gewissen unter jenen, die Kinder als Soldaten missbrauchen, ausbreitet. Das mag eine Folge der internationalen Bemühungen sein, Kinder vor Militär- und Kriegsdienst zu schützen. Zwar setzt die UNO-Konvention über Kinderrechte von 1989 das Mindestalter für Soldaten und Soldatinnen mit 15 Jahren tief an - zu tief, wie viele in der Sache Engagierte meinen. Erst das freiwillige Zusatz-Protokoll von 2002 legte die Limite auf 18 Jahre, rund 70 Staaten haben es ratifiziert. Ebenfalls auf 18 Jahre hat die Afrikanische Charta der Rechte und der Wohlfahrt des Kindes von 1999 das Mindestalter gesetzt, ab dem Jugendliche zu Militärdienst und zur Teilnahme an Kriegshandlungen verpflichtet werden können. Von einer Trendumkehr aber kann leider nicht gesprochen werden, im Gegenteil: der Bericht "Child Soldier Use" von Januar 2004, in dem der Einsatz von Kindern in Konflikten in 17 Länder untersucht wird, kommt zum Schluss, dass "wenig Fortschritt verzeichnet werden kann, dem Einsatz von Kindersoldaten ein Ende zu machen, und dass einige Gesetzesbrecher die Rekrutierung von Kindern sogar gesteigert haben." Letzteres trifft vor allem für Afrika zu, wo ein drastischer Anstieg an Kindersoldaten verzeichnet wurde.

Ruedi Küng ist Afrikakorrespondent für Schweizer Radio DRS.


Kindersoldaten in Afrika

Weltweit wird die Zahl der im Kampfeinsatz stehenden Kindersoldaten auf 300000 geschätzt, unter ihnen 7 Jahre Junge, 120000 davon sind afrikanische Kinder, das sind 40 %, während der Anteil Afrikas an der Weltbevölkerung 14% beträgt. Dafür gibt es mehrere Gründe, die letztlich auf Armut und Unterentwicklung zurück zu führen sind:


Inhaltsübersicht nächster Artikel