FriZ 1/2004

Der Kampf gegen Personenminen war in den vergangenen Jahren sehr erfolgreich. Anders sieht es bei der so genannten Streumunition aus: Noch immer werden diese Waffen, die sich nach ihrem Abschuss in unzählige Kleinstgeschosse auflösen, in rauhen Mengen eingesetzt. Von Tobias Gasser

Ein verdrängtes Kapitel: Streumunition

Wer ist ihnen nicht auch schon begegnet, den gelben Warnschildern? Auf einem schönen Wanderweg warnen sie uns vor Blindgängern. Im Jahr 2001 mussten Munitionsspezialisten der Schweizer Armee durchschnittlich jeden Tag einen Blindgänger sprengen. Rund 1000 mal wurde die Blindgängerzentrale in Thun kontaktiert. Die Schweiz hatte bislang Glück. Unfälle mit Blindgängern gab es in den letzten Jahren keine. In anderen Regionen sieht es anders aus.

Blindgänger als eigentliches Problem

Eine Studie der britischen Anti-Minenorganisation "Landmine Action" zählt über 90 Länder auf, die von Blindgängern betroffen sind. Verletzte und Tote sind in 57 Ländern zu verzeichnen. Wie Minenräumorganisationen immer wieder berichten, ist in vielen Regionen das Blindgänger- grösser als das Minenproblem. Etwa in Afghanistan: 64 Prozent aller "Minenopfer" sind eigentliche Blindgänger-Opfer. Zu den betroffenen Regionen gehören nicht nur von Konflikten heimgesuchte Staaten in Afrika, Asien, Osteuropa und Lateinamerika. In Deutschland, Belgien und Frankreich müssen noch heute wöchentlich ganze Strassen oder Quartiere geräumt werden, weil bei Bauprojekten eine alte Fliegerbombe aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden wird.

Zu den besonders perfiden Blindgängern muss man die nicht detonierten Streumunitionsgeschosse zählen. Im zweiten Golfkrieg 1991, im Kosovo-Krieg, in Afghanistan und wiederum im Irak kamen Artillerie-Streumunition und Luftwaffen-Streubomben zum Einsatz. Unzählige Blindgänger mussten im Nachgang dieser Interventionen geräumt, zivile Opfer gepflegt oder bestattet werden.

Streumunition hinterlässt nicht nur Blindgänger, sie hat auch eine Flächenwirkung. Bei Angriffen auf militärische Stellungen in bewohnten Gebieten kann die Waffe nicht genügend zwischen der Zivilbevölkerung und dem Militär unterscheiden.

Die Diskussion um Kontrolle und Verbot von Streumunition hat eine über 30 Jahre alte Leidensgeschichte. Bereits 1974 unterstützte die Schweiz zusammen mit Ägypten, Mexiko, Norwegen, Sudan und Jugoslawien ein Verbot des "anti-personellen" Einsatzes von Streumunition. Die Diskussionen ausgelöst hatte der massive Einsatz von Streumunition der USA in Vietnam und Laos. Laos gehört 30 Jahre nach Ende der US-Bombardierungen immer noch zu den am meisten betroffenen Ländern. 1979 beschaffte auch die Schweizer Luftwaffe Streubomben, die sie jedoch Ende der Achtzigerjahre "aus humanitären Gründen" wieder ausmusterte.

Kosovo: Streumunition gefährlicher als Minen

Der Einsatz von Streumunition durch die US- und britische Luftwaffe und die serbische Artillerie im Kosovo löste die aktuelle Debatte aus. Das IKRK veröffentlichte nach dem Krieg eine Studie, die zeigte, dass fünfmal mehr Kinder von Streumunitions-Blindgängern verletzt oder getötet wurden als von Personenminen. In dieser Studie forderte das IKRK ein Moratorium für Streumunition und verlangte Verhandlungen über deren Einsatz und die Lösung des Blindgängerproblems. So löste es einen diplomatischen Prozess aus, der den Namen "Remnants of War" (Explosive Kriegsüberreste) erhielt.

Während dreier Jahre verhandelten die Vertragsstaaten der Konvention zu bestimmten konventionellen Waffen (CCW) in Genf. Die Schweiz machte einen Vorschlag für eine präventive Massnahme. Sie forderte, alle Streumunition sei mit modernen Zündsystemen zu versehen, damit eine "98-prozentige Detonationsgarantie" erreicht werde. Der Hintergrund dieses Vorstosses war, dass die Schweizer Armee Artillerie-Streumunition mit modernen Selbstzerstörungsmechanismen besitzt, die laut VBS eine 98-prozentige Detonationsgarantie erreicht. Das Rüstungsunternehmen Ruag, das sich in Händen der Eidgenossenschaft befindet, bietet ein Modell dieser Munition in Zusammenarbeit mit einer israelischen Waffenfirma an.

Untauglicher Schweizer Kompromissvorschlag

Der Autor dieses Artikels machte im Dezember 2001 in einem Beitrag in der NZZ darauf aufmerksam, dass es wenig sinnvoll ist, Drittweltstaaten zu verpflichten, moderne Zündsysteme bei der europäischen und amerikanischen Rüstungsindustrie zu beschaffen. So kam es dann auch, dass der Schweizer Vorschlag bei den ökonomisch weniger potenten Staaten auf wenig Gegenliebe stiess und nicht weiterverfolgt wurde. Das Dilemma bestand aber weiterhin: Ein Verbot oder die Einschränkung des Einsatzes war nicht zu erreichen. Viele Staaten argumentierten, dass aus militärischer Sicht Streumunition eine überaus nützliche Waffe sei - und sogar kostensparend im Vergleich mit normalen Granaten. Einige Nicht-Regierungsorganisationen (NGO) unterstützten den Schweizer Vorschlag sogar offiziell.

Da die Verhandlungen auf dem Konsensprinzip basierten, fielen nach und nach wichtige Anliegen aus den Beratungen raus. Im Dezember 2003 konnte ein rechtlich bindendes Protokoll zur Unterschrift aufgelegt werden. Das Protokoll tritt aber erst in Kraft, wenn 20 Staaten es ratifiziert haben. Inhaltlich umfasst es die Verantwortung für die nicht detonierte und zurückgelassene Munition, die ein Staat in Kriegshandlungen hinterlässt. Er sollte sie markieren und räumen oder Informationen über Standort, Munitionstyp und Gefährlichkeit an spezialisierte Räumteams weitergeben. Die NGO kritisierten das Verhandlungsergebnis: Es gebe zu viele juristische Schlupflöcher und es sei nicht anwendbar auf bereits in vielen Regionen existierende Blindgänger. Betroffene Gemeinden und Dörfer erhielten keine Wiedergutmachung und der Einsatz von Streumunition sei nicht verboten oder eingeschränkt worden. Die Diskussion um Streumunition soll in diesem Jahr in Expertengruppen weitergeführt werden. Vorerst sind aber keine neue Verhandlungen vorgesehen.

"Cluster Munition Coalition" im Dilemma

Da die NGO mit dem Ergebnis unzufrieden sind, haben sie im November 2003 in Den Haag eine neue internationale Koalition mit dem Namen "Cluster Munition Coalition" gegründet. Leider zeichnet sich ein Richtungsstreit innerhalb der Koalition ab, die die politische Schlagkraft einschränkt. Die einen möchten sich engagieren, weil es ein gutes Spendenthema ist. Kirchliche und abrüstungspolitisch engagierte Gruppen befinden sich in der Zwickmühle, weil sie ein Totalverbot fordern möchten - was wünsch- aber in nächster Zeit nicht durchsetzbar ist. Amerikanische Menschenrechtsgruppen setzen auf die Zusammenarbeit mit "fortschrittlichen" europäischen Staaten, die sicherlich kein Streumunitionsverbot wollen, aber möglicherweise bereit sind, einem Kompromissvorschlag (im Sinne der Schweiz) zum Durchbruch zu verhelfen.

Die Berliner Tageszeitung TAZ wies am 12. März 2003 in einem Kommentar auf dieses "Dilemma der Menschenrechtler" hin: Ziel der Menschenrechtsgruppen sei es, die Armeen vom Einsatz für die Zivilbevölkerung schädlicher Mittel abzubringen. Kriegsbefürworter täten gut daran, diese Forderungen zu befolgen, wenn sie "den Krieg oder die Drohung damit als Begleiter der US-amerikanischen Außenpolitik erhalten" möchten. Die Menschenrechtler seien so den Kriegsbefürwortern von Nutzen - "mit diesem Dilemma müssen sie leben."

Tobias Gasser ist Mitarbeiter der Schweizerischen Kampagne gegen Personenminen. Weitere Informationen unter: www.uxo.ch


Die Kleinwaffen-Bibel

Bereits zum dritten Mal erschienen: Das "Small Arms Survey", das jährliche Handbuch zu allen Kleinwaffen-Aspekten, im 2003 mit dem Schwerpunkt zu den Folgen der Waffenverbreitung in den Entwicklungsländern. Von Peter Weishaupt

"Small Arms Survey 03" ist ein Kompendium zu fast allen Fragen im Zusammenhang mit einer weltweiten Kontrolle von Kleinwaffen. Es umfasst 330 Seiten, neun Kapitel zu den wichtigsten Produkten und Herstellern, den globalen Feuerwaffenbeständen und den Waffentransfers, zur Lage in einzelnen Ländern wie Jemen, Georgien oder Kongo, zu den Auswirkungen auf die menschliche Entwicklung und zur Rolle der Kleinwaffen in Friedensprozessen.

Ergänzt mit haufenweise Tabellen und Bildern, ist das in englisch publizierte Werk, von dem einzelne Kapitel auch auf deutsch über die Homepage zugänglich sind, die wichtigste internationale Quelle zum Thema und eine Referenz für alle Interessierten. Das gleichnamige, in Genf ansässige unabhängige Forschungsprojekt, von Keith Krause und Peter Batchelor geleitet, wird von einer Reihe von Staaten finanziell unterstützt, vor allem von der Schweiz, ist eine unparteiische öffentliche Informationsquelle wie eine Forschungsstätte für politikrelevante Recherchen und dient auch als Forum für Kleinwaffeninitiativen.

"Small Arms Survey 03" kann bezogen werden über: www.smallarmssurvey.org


Inhaltsübersicht nächster Artikel