FriZ 4/2003

Das Wort Zivilcourage ist aus unserer Alltagssprache verschwunden. Doch der Mut, sich öffentlich gegen jede Form von Gewalt zu stellen, muss in einer demokratischen Gesellschaft einen hohen Stellenwert haben. Von Christa Zopfi

Zivilcourage: Mut zum Hinschauen und Handeln

Zivilcourage - ein verstaubter Begriff aus dem vorletzten Jahrhundert oder eine demokratische Tugend? Warum ist er aus unserer Alltagssprache verschwunden? Unter Zivilcourage verstand Bismarck das bürgerliche Pendant zur militärischen Tugend der Tapferkeit. Im Gegensatz zu ihm hat die italienische Journalistin Franca Magnani einmal gesagt, dass Zivilcourage die militärische Tapferkeit überflüssig mache. Sie hat Zivilcourage gezeigt, als sie sich in den Achtzigerjahren weigerte, ihre Fernsehkommentare den Erwartungen ihrer Vorgesetzten in München anzupassen, worauf ihre Beiträge nicht mehr ausgestrahlt wurden.

Ein Preis für Zivilcourage

Zivilcourage war das Thema einer Zukunftswerkstatt am internationalen Kongress für Friedenserziehung in Hamburg im Juli dieses Jahres. Als Einstieg sollten die TeilnehmerInnen aus verschiedenen Ländern Europas und aus Kanada ihre Erfahrungen mit Zivilcourage auf einer Skala zwischen 0 und 100 einschätzen und begründen. Auf die Aussage "Zivilcourage ist in meinem Heimatland eine geschätzte Tugend", reagiert Gery O'Dwyer, Philosophielehrer an einer Mittelschule in Kanada, mit einem Wert ganz nah bei 100. "Zivilcourage ist in Kanada sehr gefragt, Erziehung zu kritischem Denken ist ein Grundsatz in unserem Leitbild und hat einen hohen Stellenwert an meiner Schule. Wir honorieren es, wenn unsere SchülerInnen Situationen und Verhalten hinterfragen und ihre Meinung kundtun."

Ganz anders schätzt Bernhard Nolz, Gesamtschullehrer aus Siegen, die Stellung von Zivilcourage in Deutschland ein: praktisch bei Null. Er ist seit dreissig Jahren aktiver Pazifist und Begründer des "Zentrums für Friedenskultur"1. Nach dem 11. September 2001 hat er vor 3000 SchülerInnen eine Rede gehalten und ihnen aufgezeigt, wie sie dem Terrorismus vorbeugen können: "... Das grundlegendste Menschenrecht ist das Recht auf Leben. Wer sich für die Menschenrechte einsetzt, leistet einen Beitrag gegen Terror, Gewalt und Krieg. Ihr könnt bei Amnesty International oder andern Organisationen mitmachen ... Ich wehre mich dagegen, dass zur Jagd gegen Terroristen geblasen wird." Er rief die Schülerinnen auf, ihren Freunden statt zum Militär- zum Zivildienst zu raten, " ... weil sie dort lernen können, wie man helfend und wertschätzend miteinander umgeht." Dies war seinen Vorgesetzten zu viel. Sie suspendierten ihn vom Unterricht wegen "Störung des Friedens an der Schule" und versetzten ihn später an eine andere Schule. Das führte dazu, dass er 2002 den Aachener Friedenspreis2 erhielt und im selben Jahr den Preis für Zivilcourage der Solbach-Freise-Stiftung. Damit hat er die Anerkennung und Unterstützung bekommen, die ihm hilft, die ungerechte Bestrafung für seine Zivilcourage zu verkraften.

Zivilcourage hat viele Facetten

Die TeilnehmerInnen aus der Schweiz bewegen sich im Mittelfeld des "Zivilcourage-Barometers" - je nach persönlicher Erfahrung und Engagement als PädagogInnen. Wann befinde ich mich in Situtationen, in denen BürgerInnenmut gefragt ist? Etwa wenn mein Nachbar im Jähzorn seine Frau beschimpft und jeden Augenblick zuschlagen könnte? Oder wenn nach einem feinen Nachtessen die Gastgeberin plötzlich erklärt, warum Israel die Palästinenser mit Panzern und scharfer Munition unter Kontrolle halten müsse? Was hindert mich, in privaten und halböffentlichen Situationen Stellung zu beziehen, meine Meinung zu sagen? Oft ist es Angst, in einen Streit verwickelt, als unbequemer Gast eingestuft und anschliessend gemieden zu werden. Oder die Abhängigkeit als Mitglied einer Gruppe. Untersuchungen haben gezeigt, dass ausländerfeindliche Aktionen vor allem aus Gruppen heraus geschehen. Auch wenn ein Einzelner mit den Handlungen nicht einverstanden ist, beugt er sich oft dem Gruppendruck, um nicht als Feigling dazustehen oder selbst zum Aussenseiter zu werden. Ein weiterer Grund, sich nicht einzumischen, ist die Angst, selbst Opfer von Gewalt zu werden.

Zivilcourage wird heute meistens verstanden als das couragierte Eingreifen in eine Gewaltaktion. Gewalt kennt aber viele Gesichter und Formen, wird an verschiedenen Orten und oft versteckt ausgeübt. "So ist Mobbing die geläufigste Situation, in der Zivilcourage gefordert ist", schreibt Wolfgang Popp, Professor an der Universität Siegen, in seinem Bericht über das Projekt "Zivilcourage-Forum". Das Forum stellt Informationen über die verschiedenen Formen von Mobbing sowie offener Gewalt zur Verfügung, zeigt, man sie erkennen und sich dagegen wehren kann. Es ist Anlauf- und Beratungsstelle für Leute, die von Mobbing oder Gewalttaten betroffen sind. Zudem führt es Trainingsseminare für Zivilcourage durch.

Sich und die andern Menschen achten

Welche Voraussetzungen müssen vorhanden sein, damit ein Mensch Zivilcourage entwickeln kann? Änne Ostermann schreibt in einem Artikel3, dass WiderstandskämpferInnen im Nationalsozialismus drei Gründe für ihr Handeln angaben: Moralische Werte, denen sie sich verpflichtet fühlten. Gefühlsmässige und persönliche Bindungen an die Opfer sowie die Identifikation mit ihnen. Aus moralischen Gründen unterstützten sie sogar politische Gegner. Die Mehrheit sagte aus, dass sie in ihrer Kindheit in einem liebevollen, fürsorglichen Familienklima aufgewachsen seien. Die Eltern lebten den Kindern eine positive Grundeinstellung zu allen Menschen vor und hielten die Kinder an, es ebenso zu tun.

Aber nicht nur Eltern können den Kindern eine Umgebung schaffen, die ihr Selbstwertgefühl stärkt und sie ermutigt, sich einzumischen, wenn Menschen unwürdig behandelt oder verfolgt werden. Der Psychologe Mantell hat 1972 amerikanische Jugendliche befragt, was ihnen die Kraft gegeben habe, trotz drohender Gefängnisstrafe den Kriegsdienst in Vietnam zu verweigern. Als wichtige Werte in ihrem Elternhaus erwähnten sie Gewaltlosigkeit, Toleranz, gegenseitige Anteilnahme, Wärme und nichtautoritäres Verhalten. Sie hatten oft über Politik, soziale Probleme, Krieg und individuelle Verantwortung diskutiert. In den Familien herrschten klare Wertvorstellungen, die die Eltern auch vorlebten. Die Jugendlichen hatten das Gefühl, dass ihre Rechte, Wünsche und Gefühle respektiert wurden. Meinungsverschiedenheiten wurden kommunikativ ausgetragen. So konnten die Jugendlichen in einem geschützten Rahmen ihre eigene Meinung entwickeln.

Inhalte einer Friedenspädagogik

Diese Aussagen skizzieren beinahe ein friedenspädagogisches Programm. Sie decken sich auch weitgehend mit der Ergebnissen der Zukunftswerkstatt, bei der die teilnehmenden PädagogInnen mögliche Szenarien für die Bildung von Zivilcourage entwarfen:

- Kinder und Jugendliche brauchen Mitmenschen, die ihr Selbstwertgefühl stärken.

- Eine offene Gesprächskultur zwischen Erwachsenen und Kindern ist das A und O. Alle sollten informiert sein über ihre Rechte als SchülerInnen, als LehrerInnen, als Eltern und EinwohnerInnen einer Gemeinde.

- Leute mit Zivilcourage werden geschätzt und bekannt gemacht.

- Solidarität mit unterdrückten Minderheiten und benachteiligten Menschen ist ein grosses Anliegen.

- LehrerInnen unterstützen die Entwicklung von Zivilcourage, indem sie auf Selbständigkeit, Kritik- und Gruppenfähigkei der Kinder grossen Wert legen. Dem entsprechend pflegen sie eine demokratische Schulhauskultur, eine konstruktive Auseinandersetzung über Meinungen und Konflikte. Und sie beziehen die Eltern mit ein.

Gemeinschaften mit hoher Wertschätzung von Zivilcourage vermitteln den einzelnen BürgerInnen Sicherheit, bauen Angst vor dem Fremden, Unbekannten ab. Übertragen auf Staaten würde dies heissen: Wer sich auf seine Nachbarn verlassen kann, wer sich auf faire Abmachungen verlassen kann, braucht den Nachbarn nicht zu fürchten und kann am Ende auf militärische Sicherheit verzichten. So verstanden ist Zivilcourage eine notwendige Tugend in einem demokratischen Staat. Was Gottfried Keller in "Das Fähnlein der sieben Aufrechten" schreibt, hat nichts an Aktualität verloren: "Keine Regierung und keine Bataillone vermögen Recht und Freiheit zu schützen, wo der Bürger nicht imstande ist, selber vor die Haustüre zu treten und nachzusehen, was es gibt."


Eingreifen statt zuschauen

" Zivilcourage - eingreifen statt zuschauen" ist eine Publikation der deutschen Bundeszentrale für politische Bildung. Sie enthält eine Einführung für LehrerInnen in die Thematik, inhaltliche und methodische Anregungen für den Unterricht, 28 Arbeitsblätter im Abreissblock, Literaturhinweise und Adressen. Zu bestellen bei: Franzis' print & media, Postfach 15 07 40, D-80045 München


1 Zentrum für Friedenskultur, Kölner Strasse 11. D-57072 Siegen. www.friedenskultur.de

2 Der Aachener Friedenspreis würdigt Personen und Gruppen, die "von unten her dazu beigetragen haben, der Verständigung der Völker und Menschen untereinander zu dienen, sowie Feindbilder ab- und Vertrauen aufzubauen. Der Preis ehrt Leute, die Frieden gestiftet haben durch Gerechtigkeitssinn, Menschlichkeit, Hilfsbereitschaft, Gewaltlosigkeit, Zivilcourage, Tatkraft, Sachlichkeit und Herz."

3 Änne Ostermann: Zivilcourage - eine demokratische Tugend. HSFK-StandPunkte 1/1998. www.hsfk.de/pp/pub/texte


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