FriZ 4/2003

PrimarschülerInnen können ihre Konflikte mit der Unterstützung von ausgebildeten MitschülerInnen selbständig lösen, ohne dass die LehrerInnen sich einmischen müssen. Erfahrungen aus einem Mediationsprojekt in Binningen BL. Von Urs von Bidder

Kinder schlichten Streit unter Kindern

Viele kennen die Situation: Es gärt in der Klasse. Isabels Pokemon-Karten sind verschwunden und tauchen auf einmal in einer Materialbox wieder auf. Im Klassenrat wird Melanie des Diebstahls bezichtigt. Sie soll dabei beobachtet worden sein. Eine harte Diskussion entbrennt. Die Lehrperson realisiert, dass da ein längerer, grösserer Konflikt zwischen den beiden Mädchen schwelt und ...?

Früher nahm ich als Lehrer selbstverständlich sofort meine Verantwortung für ein gutes Klassenklima wahr und griff in die "Gerichtsverhandlung" ein. Ich verabredete mit den beiden Streitenden ein Gespräch, amtete als Schiedsrichter, redete mit der ganzen Klasse über den Vorfall und wahrscheinlich informierte ich sogar die Eltern. Heute rate ich den beiden zu einer Streitschlichtung (Mediation)1 mit einem oder einer dazu ausgebildeten FünftklässlerIn. Diese Möglichkeit besteht in unserm Quartierschulhaus in Binningen BL seit zwei Jahren.

Konflikte gehören zum Alltag

Isabel und Melanie sind einverstanden. Sie suchen sich ihre Streitschlichterin selbst aus und verabreden einen Termin. Die Streitschlichterin nimmt eine zweite Mediatorin mit, welche ein Protokoll führt. Das Gespräch zu viert findet in der speziell eingerichteten Ecke eines wenig benützten Raumes statt. Es dauert nicht sehr lange; aber ganz neue Aspekte des Konfliktes kommen zu Tage und werden gründlich besprochen. Die beiden Streiterinnen einigen sich auf eine gütliche Lösung und erscheinen bald wieder entspannt in der Klasse.

Und meine Lehrerrolle? - Sie beschränkt sich auf eine kurze Kontrollfrage: Ist es so für alle in Ordnung? Des Weiteren behalte ich die beiden noch eine Weile besonders im Auge - doch wie es scheint, ist der Konflikt beigelegt.

Es ist uns LehrerInnen wichtig, dass nicht wir Erwachsene die Streitigkeiten der Kinder "von oben" lösen. Streitende kennen ihren Konflikt am besten, deshalb finden sie auch selbst, mit Hilfe einer Mediation, die beste Lösung dazu. Wir sind davon überzeugt, dass Kinder, die gelernt haben, Verantwortung für ihre Konflikte zu übernehmen, später auch besser mit Konflikten umgehen können. Auf diese Weise leisten wir von der Schule aus einen Beitrag für ein gewaltfreies und suchtfreies Verhalten.

Projekt "Mediation in der Schule"

Im Frühjahr 2000 hat das LehrerInnenteam des Neusatzschulhauses2 auf Anregung der Elterngruppe und in Anlehnung an die "Peacemakers" in den USA die Einführung von Mediation in unserem Schulhaus beschlossen. Das Projekt fügte sich auch bestens in die übergeordneten Ziele der Gemeinde im Zusammenhang mit Gesundheitsförderung, Gewalt- und Suchtprävention ein. Unsere Idee gefiel der zuständigen Kommission, der Schulleitung wie auch den verantwortlichen Behörden und die finanziellen Mittel für Fortbildung und den Beizug von Experten wurden zugesichert.

Wir Lehrpersonen des Neusatzschulhauses haben uns intern unter Beizug von Expertinnen zum Thema "Mediation in der Schule" weitergebildet. Wir stellten dabei fest, dass es in der Schweiz und besonders in Deutschland bereits einige Schulen gibt, an denen Projekte mit Mediation laufen - aber alle finden auf der Sekundar- oder Tertiärstufe statt. Deshalb reizte es uns, in die Rolle der VorreiterInnen zu schlüpfen und ein Konzept für unsere Bedürfnisse zu erarbeiten. Es umfasst zehn Punkte:

* Alle SchülerInnen werden in speziellen Lektionen darüber informiert, dass ein Streit durch Mediation gewaltfrei gelöst werden kann und wie sie davon Gebrauch machen können. Wir reden von "Streit schlichten" und von "StreitschlichterInnen".

* Die Kinder der 5. Klasse, die ältesten im Schulhaus, sollen als StreitschlichterInnen zur Verfügung stehen.

* Eine Mediation findet zur abgesprochenen Zeit in einem dafür eingerichteten Gruppenraum statt. Das Konfliktthema bleibt unter den MediatorInnen und den Streitenden streng vertraulich. Das Kurzprotokoll jeder Mediation wird im LehrerInnenzimmer aufbewahrt und nach einem halben Jahr entsorgt, sofern der Konflikt endgültig ausgetragen ist. Aussenstehende haben keinen Zugang zum Protokoll.

* Die Ausbildung zur Mediatorin, zum Mediator beginnt in der vierten Klasse. Sie erfolgt im Rahmen des Lehrplans unter dem Titel Sozialkompetenz, Konflikte lösen. Die Eltern werden vorgängig orientiert.

* Zur Ausbildung und Begleitung der Klasse wird eine Fachperson beigezogen.

* An Schulhauskonferenzen werden alle Kinder regelmässig ermuntert, in Streitfällen die neue Möglichkeit zur Streitschlichtung zu nutzen. Die Eltern der ErstklässlerInnen werden an einem Elternabend über Mediation informiert.

* Für alle Eltern wird eine Informationsschrift3 zum Projekt herausgegeben.

* Im Schulhaus ist sichtbar, dass die Möglichkeit zur Streitschlichtung besteht. Es hängen zum Beispiel Plakate.

* Eine enge Zusammenarbeit mit der Elterngruppe Neusatz ist gewährleistet.

* Die Auswertung und Entscheidung über die Form der Weiterführung findet jeweils im Rahmen der ordentlichen Jahresplanung vor den Sommerferien statt.

Schwellen überwinden

Auf Beginn des Schuljahres 2000/2001 starteten wir unser Projekt und begannen mit der Ausbildung der ViertklässlerInnen zu "StreitschlichterInnen". Eine ausgebildete Mediatorin und Mutter eines Schülers an unserer Schule übernahm die professionelle Begleitung dieser Klasse. Es hat sich mittlerweile erwiesen, dass es genügt, im zweiten Semester der vierten Klasse acht Doppellektionen durchzuführen.

Die ersten StreitschlichterInnen waren im August 2001 als FünftklässlerInnen für ihre neue Aufgabe bereit. Sie hatten gelernt, wie eine Mediation verläuft und hatten die Gespräche in vielen Rollenspielen geübt. Der Unterricht zusammen mit der Expertin war spannend und sie freuten sich auf die ersten Erfahrungen. Doch dann geschah etwas Unerwartetes: Konflikte blieben weitgehend aus! - oder sie wurden wie früher ohne MediatorInnen auf dem Schulweg oder zu Hause gelöst.

Heute sind wir LehrerInnen mit der Elterngruppe zusammen daran, diesen Fragen nachzugehen. Nicht, dass wir uns mehr Konflikte im Schulhaus wünschten! Aber wir fragen uns, wie wir die Schwelle, eine Mediation zu verlangen, noch tiefer setzen können. Müssen wir LehrerInnen die Verantwortung für die Konfliktlösung unter Kindern klarer ablehnen und die Kinder vermehrt auffordern, das Angebot zu nutzen?

Am 15. Mai dieses Jahres hat die Elterngruppe einen öffentlichen Anlass zum Thema "Mediation unter SchülerInnen: Frühe Sensibilisierung für friedliche Konfliktlösungen" organisiert. Er fand regen Anklang und es freute uns besonders, dass auch VertreterInnen der Folgestufe anwesend waren. Denn die Situation ist nun so, dass Jahr für Jahr eine Gruppe in Mediation ausgebildeter SchülerInnen unser Schulhaus verlässt, deren Fähigkeiten in der Folgestufe jedoch brach liegen! Es wäre schön, wenn der Ball dort aufgenommen würde!

Die wenigen Mediationen, welche bei uns stattgefunden haben, waren erfolgreich und haben eine nachhaltige Verbesserung der jeweiligen Situation gebracht. Dies stimmt uns zuversichtlich und zeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Ebenso sind wir überzeugt, den jungen Menschen etwas Wesentliches auf ihren Lebensweg mitgegeben zu haben.


Ablauf einer Mediation

Begrüssung: Alle müssen mit den Grundregeln einverstanden sein:

Zuhören, ausreden lassen, die Streitenden wenden sich an die StreitschlichterInnen, keine Beschimpfungen.

Konflikt darstellen und erhellen: Jede Streitpartei erklärt ihre Sicht der Dinge und sagt, welche Gefühle dies in ihr auslöst. Die Mediatorin oder der Mediator fragt nach, klärt ab.

Lösungen suchen: Beide Seiten müssen eine Lösung wollen! Die Streitenden überlegen sich Möglichkeiten. Die Vorschläge werden diskutiert. Die Mediatorin oder der Mediator schlägt keine Lösungen vor.

Einigung: Die Parteien finden eine für beide Seiten zufrieden stellende Lösung. Alle Beteiligten unterschreiben das Protokoll. Dank und Verabschiedung durch Handschlag.


1 Mediation: Freiwillige Interaktion zwischen zwei Konfliktparteien, die zur Befriedung eines Konfliktes ihre individuelle Lösung selbstverantwortlich erarbeiten wollen und dazu eine neutrale Drittperson (Mediator/Mediatorin) als Prozessverantwortliche für ein qualifiziertes, aussergerichtliches Verfahren beiziehen.

2 Das Neusatzschulhaus in Binningen BL ist eines von fünf Quartierschulhäusern des Vorortes von Basel. Etwa hundert Kinder von der ersten bis zur fünften Klasse gehen hier zur Schule. Das Kollegium zählt zurzeit neun Lehrpersonen (inkl. Teilpensen). Ansprechpersonen für das Mediationsprojekt sind Barbara Jost und Urs von Bidder. Tel und Fax: 061 421 12 00. E-Mail: vonbidder.urs@fortytwo.ch

3 Mediation im Neusatzschulhaus. Informationsschrift für Eltern und Interessierte (Fr. 5.-). Zu beziehen bei: Primarschule Binningen, Neusatzschulhaus, 4102, E-Mail: neusatz@asepaix.ch


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