FriZ 4/2003

Erfährt die Friedensbewegung in den USA eine Renaissance und wird die "neue" Bewegung zu einer ebenso starken sozialen Kraft wie die Anti-Vietnambewegung der 1960er und 70er Jahre? Urs Cipolat und Peter Crail behandeln diese Fragen in einem historischen Kontext und im Zusammenhang mit den jüngsten politischen Veränderungen in den USA. Der zweite Teil des übersetzten und gekürzten Artikels erscheint in der friZ 5/03.1

Die englische Original-Version dieses Textes finden sie hier

Friedensbewegung in den USA, einst und jetzt

Die Friedensdemonstrationen in den USA während der vergangenen Monate sind oft mit den Antikriegs-Protesten der 1960er und 1970er Jahre verglichen worden. Verschiedene Informationsquellen, lokale, nationale und internationale, haben die Ähnlichkeit zwischen damals und heute kommentiert. Im März dieses Jahres berichtete z.B. die Nachrichtenagentur Associated Press2, dass "FriedensaktivistInnen Massenkundgebungen in den wichtigsten Städten organisierten, die an die Zeit des Vietnamkriegs erinnern." Der Bericht erwähnte auch eine grosse Zahl weiterer Friedensaktivitäten, darunter Mahnwachen, Diskussionsgruppen und traditionelle "Contact-your-Congressmen"-Aufrufe.

Alles begann 1964 in Berkeley, Kalifornien

"Wenn du wissen willst, ob es in Amerika eine soziale Revolution geben wird, dann schau zuerst nach Berkeley", sagt Robert Pickus, Präsident des World Without War Council (www.wwwc.org). Er gründete seine Organisation 1969 in Berkeley, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren. "Wir waren die erste Gruppe, die ein Ende aller politischen Gewalt zur Lösung internationaler Konflikte forderte - nicht nur jener der USA", erklärt Pickus.

Neue Friedensorganisationen wie der Council schossen während der zweiten Hälfte der 60er Jahre wie Pilze aus dem Boden und verbreiteten sich rasch vom Westen der USA nach Osten. Die Basis für die Massendemonstrationen und Anti-Establishement-Proteste war jedoch durch eine frühere soziale Bewegung gelegt worden, ebenfalls mit Wurzeln in Berkeley: Das Free Speech Movement (s. Randspalte).

"Es war ein sehr komplexes Phänomen", sagt Professor Renate Holub, Director of Interdisciplinary Studies an der University of California in Berkeley, die sich als Studentin in den 70er Jahren an verschiedenen Protestaktionen beteiligte. "Da waren die Gewerkschaften, die Vereinigung der Lehrbeauftragten, die Civil Rights und Free Speech Leute, die Antikriegsgruppen, die Anarchisten, die Hippies und wir, die Feministinnen. Was uns alle zusammenbrachte und zusammenhielt - wenigsten zu Beginn - war unsere linke Perspektive, unsere Ablehnung traditioneller Machtstrukturen in den USA und die Proteststrategie. Wir alle wollten Veränderungen herbeiführen, doch verfolgten wir alle ganz verschiedene Ziele. Die 1960er Friedensbewegung war daher nicht eine einheitliche, sondern eine sehr diffuse Bewegung."

Das Ende des Kalten Krieges

John Lennon träumt in seinem berühmten Song "Imagine" von einer Menschheit, die "...das Leben in Frieden lebt." Universeller Friede ist sicher erstrebenswert, vor allem aus der Sicht der heutigen, von Kriegen zerrissenen Welt. Doch was würde aus allen Friedens-AktivistInnen werden, wenn Lennons Utopie eines Tages Wirklichkeit würde? Dass eine allzu friedliche Welt ironischerweise gerade für Friedensorganisationen zu einem existenziellen Problem führen kann, zeigte das erste Jahrzehnt nach dem Ende des Kalten Krieges. Gemäss Pickus lag ein Grund für den generellen Niedergang der Bewegung, der bereits in den 80er Jahren einsetzte, in ihrer internen Zusammensetzung: "Manche Gruppen waren nur an einer Politik des Protestes interessiert. Sie nutzten das Tagesgeschehen, die Ängste und Frustrationen der Menschen, um kurzfristige politische Ziele zu erreichen. Diese Gruppen waren die ersten, die verschwanden."

Der wichtigste Grund für die fortschreitende Erosion der US-Friedensbewegung in den 90er Jahren war jedoch das Ende des Kalten Krieges, welches die verbliebenen Friedensgruppen mit drei fundamentalen Änderungen konfrontierte.

Erstens gab es immer weniger bewaffnete Konflikte mit direkter Beteiligung der USA. Wann immer es zu solchen Konflikten kam, war das Ziel des Eingreifens das Schaffen von Frieden, wie etwa 1991 mit der von den USA geleiteten Intervention der Uno im Irak, 1993 mit der Intervention in Somalia, 1994 mit der von der Uno autorisierten US-Intervention in Haiti und während der zweiten Hälfte der 90er Jahre mit der Nato-Intervention im damaligen Jugoslawien.

Der Wandel in den 90er Jahren zu einer multilateralen Kriegsführung im Namen des Friedens stellte manche FriedensaktivistInnen der USA vor ein Dilemma, welches zu einer weiteren Zersplitterung der Friedensbewegung führte. Es bildeten sich verschiedene Denkschulen über die Rolle der Gewalt in internationalen Beziehungen, von solchen, die kategorisch jede Gewalt ablehnten, bis zu solchen, die zwischen gerechten und ungerechten Kriegen unterschieden. So lange sich die US-Interventionen auf Notsituationen bezogen, in einer multilateralen Zusammensetzung ausgeführt wurden und Demokratie und Menschenrechte förderten, genossen sie breite Unterstützung bei der politischen Linken.

Die liberale Opposition gegen humanitäre Interventionen im Allgemeinen und Einbezug der USA im Besonderen wurde somit marginal und beschränkte sich auf philosophische PazifistInnen und linke Randgruppen wie das International Action Center (www.iacenter.org), repräsentiert durch den früheren US Justizminister Ramsey Clark. Interessanterweise befanden sich diese FriedensaktivistInnen der "harten" Linken in der eigenartigen Gesellschaft verschiedener konservativer Gruppen, die ebenfalls gegen US-Interventionismus protestierten, allerdings aus anderen Gründen. Gemäss der konservativen Ideologie des Isolationismus lagen "Nation-Building" auf dem Balkan oder Menschenrechtsinterventionen in Afrika schlichtweg nicht im nationalen Interesse der USA.

Vom Antikrieg zur Antiglobalisierung

Ein zweiter wichtiger Faktor für den Niedergang der Friedensbewegung war das Aufkommen neuer Problemkreise, die für die amerikanische Linke von Bedeutung wurden: Etwa der Kampf gegen AIDS und andere Infektionskrankheiten, Kampagnen für den Schutz der Umwelt, die Unterstützung der Landminen-Konvention oder das Schaffen eines internationalen Strafgerichtshofes. Das weitaus populärste neue Anliegen war jedoch die Anti-Globalisierung, welche eine grosse Zahl neuer Streitpunkte umfasste, darunter Kinder- und Billiglohnarbeit, genetisch modifiziertes Saatgut, die Absprachen der internationalen Konzerne, unfairer Handel und die Ausbeutung des Südens. Durch die Definition "global" zielte die Antiglobalisierungsbewegung nicht mehr auf die USA allein ab, sondern auf internationale "kapitalistische" Organisationen wie etwa die Welthandelsorganisation, den Internationalen Währungsfonds oder die Weltbank.

Global Exchange (www.globalexchange.com) war unter den ersten Gruppen, die eine wachsende Zahl von jungen "Liberalen" (politisch Linksorientierten) ansprechen konnte, die sich für Friedensarbeit im breiteren Kontext globaler wirtschaftlicher Fragen interessierten. Die Gruppe wurde rasch zu einer führenden Basisbewegung, die sich für eine neue "soziale Gerechtigkeit" einsetzte, statt für das alte "Stop the War". Global Exchange wuchs von einem Team von drei Personen 1988 zu einem Stab von 40 MitarbeiterInnen und einem Budget von fünf Millionen Dollar im Jahr 2003. Während des vergangenen Jahrzehnts machte die Gruppe verschiedentlich internationale Schlagzeilen, unter anderm mit den Kampagnen gegen Nikes Sweatshops und Starbucks unfairem Kaffeehandel.

Boomende Wirtschaft - erlahmende Friedensbewegung

Der dritte Grund für das schwindende Interesse am Friedensaktivismus in der USA war die Wahl von Präsident Clinton und die in der Folge boomende amerikanische Wirtschaft. "Als Clinton 1992 gewählt wurde und die Wirtschaft abhob, meinten viele Liberale, alle Probleme seien gelöst", sagt Peter Ferenbach, Geschäftsführer von California Peace Action (www.californiapeaceaction.org). Ferenbach trat währen der Reagan-Jahre der nach eigenem Bekunden "grössten Friedensorganisation" Kaliforniens bei, die sich damals noch Committee for a Sane Nuclear Policy (SANE) nannte. Für ihn stellten die 80er Jahre den eigentlichen Höhepunkt der US-Friedensbewegung dar. "Damals schlugen wir alle Rekorde. 1982 organisierten wir den grössten Protest der US-Geschichte bei der Uno in New York. Über eine Million Menschen demonstrierten gegen Reagans Atompolitik und seinen Raketenabwehrplan. 1984 unterstützten mehr Leute als je in der Geschichte der USA ein Referendum in 17 Staaten für ein Einfrieren der Atomversuche. Und 1988 wurden über 2000 Demonstrierende festgenommen, als sie den Zugang zum Testgelände in Nevada blockierten."

Doch dann gings bergab. "Als Bush der Ältere seine ÐNeue Weltordnungð proklamierte und ein unilaterales Moratorium für Atomversuche, feierten wir einen Sieg. Ironischerweise bedeutete dieser Sieg das Ende der Bewegung", stellt Ferenbach fest. An Vater Bushs vorsichtiger Aussenpolitik störten sich nur noch wenige Linke. Seine Präsidentschaft schnitt daher vielen Friedensgruppen den Sauerstoff ab. Clintons Wahl 1992 drohte schliesslich die ganze Friedensbewegung zu ersticken. Warum sich über mögliche neue Wellen von Gewalt in ferner Zukunft3 sorgen, fragten sich die meisten AmerikanerInnen. Die Zeiten waren gut, die Wirtschaft boomte, der Kommunismus war tot. Alles roch tatsächlich nach einem "Ende der Geschichte4" .

Schwimmen oder Ertrinken

In einem Klima von Gleichgültigkeit und dem hartem Wettbewerb um Moneten, Herzen und Köpfe, den neue Organisationen wie Global Exchange oder Rainforest Action führten, waren viele der älteren Friedensgruppen gezwungen, sich neu zu definieren, wenn sie im "Geschäft" mithalten wollten. Für den World Without War Council bedeutete das, den Fokus zu verschieben von den traditionellen Anti-Gewalt-Themen zu Friedenserziehung und dem Stärken der Zivilgesellschaft. "Weltfrieden beginnt genau hier", wurde zum neuen Slogan von Pickus. "Wie kann Amerika die Welt zu einem dauerhaften Frieden führen, wenn die gemeinsame Basis für Frieden innerhalb Amerikas zerbröckelt, weil die Zusammensetzung der Bevölkerung immer unterschiedlicher wird?"

Diese rasche Veränderung führte zu wachsender Besorgnis über rassistische und ethnische Spannungen. Steigende Zahlen von ImmigrantInnen aus Asien und Lateinamerika fordern die traditionelle Vormachtstellung der Weissen heraus. Mit einem weissen Bevölkerungsanteil, der im Jahr 2000 unter 50 Prozent gesunken ist, führt Kalifornien den nationalen Trend zu einer "Mischmaschgesellschaft".

Werden die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen friedlich zusammenleben können? Was geschieht mit traditionellen amerikanischen Werten wie Demokratie, Gewaltentrennung und Menschenrechten einer 280-Millionen Gesellschaft, die über die nächsten 40 Jahre 120 Millionen ImmigrantInnen aufnehmen wird? Was wird aus dem Traum des Weltfriedens, wenn die USA ein zweites Bosnien werden?

Neue Ausrichtung: Friedenserziehung

Mit diesem Paket neuer Fragen tourten der visionäre und innovative Pickus und seine Verbündeten während der Clinton-Jahre durch die Machtzentren von Sacramento und Washington. Zusammen mit Interventionen bei Bildungsverantwortlichen und Einwanderungsbehörden machten sich ihre Anstrengungen bezahlt. Die Regierungen von Staat und Bund beschlossen gemeinsam Ende der 90er Jahre Multi-Millionen-Dollar schwere Massnahmen für bessere Integration der ImmigrantInnen. Eine der Schlüsselkomponenten des neuen Bildungsprogramms, das bei allen Parteien Unterstützung fand, hiess "ESL/civics". Es zielte darauf ab, den ImmigrantInnen Englisch als Zweitsprache zu vermitteln (= English Second Language) und sie gleichzeitig mit den grundlegenden Konzepten der amerikanischen Gesellschaft (= civics)vertraut zu machen. Unterstützt durch Steuergelder können Pickus und der Word Without War Council gegenwärtig ihre Arbeit für den Frieden fortsetzen, indem sie Schulungsunterlagen entwickeln und Seminare für LehrerInnen organisieren.

SANE ging durch eine ähnliche Umwandlung. Nach einer Fusion mit einer anderen Abrüstungsgruppe änderte die Gruppe ihren Namen zu "peace action" und wurde mehr mitgliederorientiert. "Wir begannen, von Türe zu Türe zu gehen, unsere MitbürgerInnen in Sicherheitspolitischen Fragen zu erziehen, und sie um Spenden zu bitten", sagt Ferenbach. "Dies half uns, unser 2 Millionen Dollar-Budget und unsere Mitgliederzahl von 350000 durch die 90er Jahre zu erhalten."

Fortsetzung 2. Teil in 3 Huntington, Samuel P., "The Third Wave. Democratization in the late Twentieth Century", University of Oklahoma Press, 1991.

4 Fukuyama, Francis, "The End of History and the Last Man", Penguin Books, 1992.

5 05.08.2003


Free Speech Movement

Als 1964 nach einem Sommer mit Protesten gegen Rassendiskriminierung im amerikanischen Süden die StudentInnen an die University of California in Berkeley zurückkehrten, verbot ihnen die Universitätsleitung, ihre politischen Aktivitäten auf dem Campus fortzusetzen. Es kam zu Konfrontationen, die in der Gründung des Free Speech Movement kulminierten, in Studentenprotesten, wie man sie noch nie gesehen hatte, und in Massenverhaftungen von hunderten von Studierenden.

In wenigen Monaten entwickelte sich das Free Speech Movement zu einer Protestwelle, die über Amerika, wenn nicht gar die ganze Welt hinweg rollte. Tausende demonstrierten gegen den Vietnamkrieg, gegen US-Imperialismus, Rassen- und Geschlechterdiskriminierung, politische Gewalt und Unterdrückung. Zusammenstösse mit der Polizei waren häufig.

Wichtig ist festzuhalten, dass die Bewegung, die oft als kohärente soziale Kraft aufgefasst wird, bereits zu Beginn ganz unterschiedliche Facetten aufwies.


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