FriZ 4/2003

"Nichts wird mehr so sein, wie es war." Diese Auffassung war nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 eine häufig geäusserte Überzeugung in grossen Teilen der Bevölkerung. Wie steht es damit heute, zwei Jahre nach den Anschlägen? Dieser Frage geht eine Langzeit-Internetstudie nach. Von Barbara Moschner

Der 11. September und die Konsequenzen im Alltag

Wie haben Menschen in Deutschland den 11. September erlebt? Wie haben sie von den Terroranschlägen auf die Türme des World Trade Centers erfahren? Was haben sie gedacht, was haben sie gefühlt und wie haben sie sich verhalten? Und: Was hat sich langfristig in ihrem Leben tatsächlich geändert? Ist die Angst vor terroristischen Anschlägen gestiegen? Steckt der Schock heute noch in den Knochen? Sind die Menschen misstrauischer geworden? Ist das friedenspolitische Engagement gewachsen? Oder hat sich die Betroffenheit verflüchtigt?

Solchen und ähnlichen Fragen sind wir1 im Rahmen einer grossen Internetstudie nachgegangen, die wir nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 begonnen haben und die inzwischen aus drei Befragungsphasen besteht. In der Studie wurden eine lange Reihe von Fragen mit vorgegebenen Antwortmöglichkeiten sowie einige offene Fragen gestellt. Die folgende Darstellung bezieht sich auf Antworten aus der zweiten und dritten Befragungsphase. Ausführliche Informationen zu der Studie finden sich in unseren Forschungsberichten (s. Literaturangaben).

Wie ein Lauffeuer

In der zweiten Phase unserer Studie von Anfang März bis Anfang September 2002 nahmen 1528 Personen im Alter von 13 bis 76 Jahren teil. 94 Prozent der Teilnehmenden hatten die deutsche Staatsbürgerschaft. Unter anderem haben wir die Befragten gebeten, sich noch einmal auf den 11. September 2001 rückzubesinnen. Sie wurden aufgefordert uns zu schildern, wie sie von den Terroranschlägen erfahren haben und an welche Gefühle und Gedanken sie sich erinnern können. 1206 Personen haben diese Frage beantwortet. Auffälliges Kennzeichen aller Antworten ist eine genaue Beschreibung der eigenen Reaktionen auf die Nachricht von den Terroranschlägen. Alle Personen konnten noch genau beschreiben, wo sie sich am 11. September 2001 aufgehalten haben, auf welche Weise sie von den Terroranschlägen erfahren und wie sie den restlichen Tag gestaltet haben.2 Viele Antworten zeigen, dass sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitet hat. Häufig wurden unsere Befragten per Telefon von ihren engsten Angehörigen informiert, im Kollegenkreis wurde die Information in Windeseile weitergegeben, auch in Kaufhäusern, in öffentlichen Gebäuden oder in öffentlichen Verkehrsmitteln verbreiteten sich die Schreckensnachrichten sehr schnell. Viele unserer Befragten schilderten, dass sie den Rest des Tages vor dem Fernsehgerät oder dem Radio verbracht haben; alltägliche Routinen wurden unterbrochen, Arbeiten aufgeschoben oder nicht erledigt. Gefühle von Angst, Betroffenheit, Trauer und Fassungslosigkeit standen im Vordergrund. Ein nicht unerheblicher Teil der Befragten fürchtete sich vor dem Beginn eines dritten Weltkrieges.

So schilderte eine 32-jährige Frau ihre Erinnerungen an den 11. September 2001: "Die erste Mitteilung habe ich im Internet gefunden. Und anschliessend fast die ganze Nacht die Nachrichten im Fernsehen verfolgt. Ich war wahnsinnig bestürzt, als ich die Bilder sah. Mir taten die unschuldigen Opfer unendlich leid. Ich musste weinen und hatte schreckliche Angst, dass es zu einem neuen Weltkrieg kommt. Über eine lange Zeit schien mir das normale Leben so banal."

Ein 62jähriger Mann berichtete: "Ich erfuhr es von einem Kollegen, der es im Radio gehört hatte. Uns war sofort klar, dass das Ereignis weitreichende, langfristig überwiegend negative politische Folgen haben würde. Den Rest des Tages haben wir mit ungläubigem Staunen und Schrecken ferngesehen."

Angstgefühle und USA-Kritik

Im September 2002 starteten wir unserer dritte Befragungsrunde über das Internet. Wir wollten unter anderem wissen, was sich im Alltag der Befragten nach den Terroranschlägen verändert hat. War es zu langfristigen und weitreichenden Folgen im Alltagsleben gekommen? Insgesamt konnten wir in der dritten Befragungsrunde 570 Personen erreichen, 359 von ihnen schilderten uns die Auswirkungen der Terroranschläge auf ihren Alltag.

Die grösste Gruppe unsere Befragten (ca. 25 Prozent) gab an, dass sich in ihrem Denken und Handeln durch den 11. September nichts verändert hat. 15 Prozent unserer Befragten äusserten deutliche Kritik an der Politik der USA.

Eine 38-jährige Frau schrieb: "Ich finde mehr denn je die Regierung der USA sehr selbstherrlich, arrogant und kriegstreiberisch."

Kritisch wurde ebenfalls die Rolle der Medien betrachtet.

Ein 23-jähriger Mann berichtete: "Ich bin noch misstrauischer gegenüber den Medien geworden, die nur die offizielle Propaganda wiedergeben."

Die Effekte, welche die Terroranschläge des 11. Septembers auf die Beurteilung und die Einschätzung von Fremden hatte, variierten sehr stark. Während manche Personen ihre negativen Empfindungen Fremden gegenüber als eine Folge des 11. Septembers ansahen (22 Personen), berichten andere von einem deutlich gestiegenen Interesse an fremden Menschen und an fremden Kulturen (17 Personen). Zwei Zitate sollen dieses Ergebnis, das sich auch anhand der Antworten auf unsere spezifischen Fragen nachweisen lässt, verdeutlichen:

€ "Ich schaue mir die Menschen in meinem Umfeld genauer an. Überlege, ob in meinem Umfeld sind. Die Angstgefühle bei Feuerwehreinsätzen haben sich für mich gesteigert." (männlich, 46 Jahre)

€ "Da ich arabische Freunde habe, verteidige ich nun auch öfters deren Lebensweise und Religion gegenüber Menschen, die aufgrund der Tat einzelner ganze Bevölkerungsgruppen verurteilen." (weiblich, 23 Jahre)

Der Alltag ist zurückgekehrt

Die Überzeugung, dass nach dem 11. September nichts mehr so sein wird, wie es war, lässt sich aufgrund unserer Daten nicht bestätigen. Obwohl viele unserer Befragten durch die Terroranschläge sehr schockiert waren und grosse Befürchtungen und Ängste zunächst im Vordergrund standen, hatte sich schon ein Jahr nach den Anschlägen die Situation wieder weitgehend normalisiert, und im Alltag unserer Befragten hat sich fast nichts verändert. Auf der Verhaltensebene wurden nur von sehr wenigen Personen Veränderungen berichtet, diese betreffen insbesondere den Umgang mit Fremden. Deutlich wurde dagegen ein sehr hohes Misstrauen gegenüber der US-amerikanischen Politik und insbesondere gegenüber den Medien formuliert. Ein merklich gesteigertes friedenspolitischen Engagement nach dem 11. September wurde von der Mehrzahl unserer Befragten nicht spontan berichtet.

Prof. Dr. Barbara Moschner ist Pädagogin und Lehrbeauftragte an der Universität Oldenburg.


1 Die Studie wird durchgeführt von Barbara Moschner, J. Christopher Cohrs, Jürgen Maes und Sven O. Kielmann.

2 In der Gedächtnispsychologie wird dieses Phänomen als "Flash-Bulb-Memory" bezeichnet. Bei ganz wichtigen Ereignissen im Leben speichert das Gedächtnis faktisches und biographisches Wissen gleichzeitig, diese Informationen können lebenslang abgerufen werden


Literatur zur Studie:

Cohrs, J. C., Kielmann, S. O., Maes, J. & Moschner, B. (2002). Befragung zum 11. September 2001 und den Folgen: Bericht über die zweite Erhebungsphase (Berichte aus der Arbeitsgruppe "Verantwortung, Gerechtigkeit, Moral", Nr. 149). Trier: Universität Trier, Fachbereich I - Psychologie.

Cohrs, J. C., Moschner. B. & Maes, J. (2003). Friedenspolitisches Engagement nach dem 11. September 2001. Wissenschaft und Frieden, 21 (2), 66-69.

Maes, J., Kielmann, S., Cohrs, C. & Moschner, B. (2002). Der 11. September und die Folgen. Interkulturelle Begegnungen und Tourismus stark betroffen. Report Psychologie, 27, 240-241.


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