Während Ihres Aufenthalts in Palästina hat sich die Lage im Konfliktgebiet zugespitzt. Was haben Sie als Menschenrechtsbeobachter von Peace Watch Switzerland davon mitbekommen?
Hansruedi Guyer: In Zababdeh haben wir wenig von einer Zuspitzung gespürt. Das kleine christliche Dorf lag weniger im Visier der Armee als etwa die Stadt Jenin mit ihrem grossen Flüchtlingslager. Dort gab es immer wieder Ausgangssperren und Festnahmen von palästinensischen Aktivisten. Wir begegneten dem palästinensischen Widerstand jedoch auch in Zababdeh: In Jenin waren zwei Gruppen von AktivistInnen denunziert und dann von einem Armeekommando in einer nächtlichen Aktion umgebracht worden. Zwei der jungen Leute waren aus Zababdeh. Diese gezielten Exekutionen zeigen, wie hart Israel gegen jeden versuchten Widerstand vorgeht.
Peace Watch Switzerland will mit den Einsätzen von freiwilligen MenschenrechtsbeobachterInnen die lokalen Friedenskräfte stärken und die Zivilbevölkerung schützen. Wie ist das möglich?
Hansruedi Guyer: Ich hatte Kontakt mit Basisorganisationen wie dem PARC (Palestinien Agricultur Relief Committee). Das Komitee fördert die Bauern und ist dabei immer wieder mit Landenteignungen konfrontiert. Daher ruft PARC auch etwa zu gewaltfreien Demonstrationen auf. Unsere Anwesenheit machte es diesen Friedenskräften leichter, ihre Arbeit zu tun.
Vor drei Jahren schien der Friede in greifbarer Nähe. Wie äussern sich PalästinenserInnen heute zu Israel?
Hansruedi Guyer: Ich habe eine Grundstimmung festgestellt: "Die Israeli nehmen uns alles weg: Sie haben uns vertrieben, lassen uns nicht in Ruhe, wo wir jetzt leben. Unsere Regierung kann nichts ausrichten. Ihre Armee hat unsere Dörfer und Städte besetzt. Sie nehmen uns das Wasser weg. Wir haben immer wieder Ausgangssperre, können nicht mehr reisen." Aus dem Gefühl eingeklemmt zu sein, entspringt eine grosse Wut.
Die Bevölkerung ist ohnmächtig. Sie wehrt sich zuerst mit gewaltfreiem Widerstand: Wir bleiben hier, trotz allem. Die Leute organisieren sich. PARC zum Beispiel unterstützt die Frauen in den Dörfern, damit sie ihr Olivenöl besser verkaufen können, und fördert die Zucht von Schafen und Ziegen. Das sind Schritte in die Zukunft.
Widerstand heisst, trotz der widerwärtigen Bedingungen in den besetzten Gebieten zu leben. Gibt es noch andere Formen des Widerstandes?
Hansruedi Guyer: Ja, zum Beispiel die Reaktionen der Kinder und Jugendlichen, welche die israelischen Panzer mit Steinen bewerfen. Nach meinen Beobachtungen werden sie aber nicht von Erwachsenen angestachelt, wie von israelischer Seite behauptet wird. Sie machen auch Strassensperren mit brennenden Autopneus und Abfalleisen. Sehr berührt hat mich einmal eine nur symbolische Strassensperre aus lauter kleinen Steinchen.
Die israelischen Soldaten sagen: "Wir müssen uns dagegen wehren." Es gab auch Soldaten, die nach Steinwürfen hospitalisiert werden mussten. Es ist jedoch verbrecherisch, wenn Soldaten den Befehl erhalten, auf Steinewerfer mit scharfer Munition zu schiessen. Um die Soldaten zu schützen, gäbe es andere Massnahmen.
In Ihren Berichten erwähnen Sie den starken und tiefen Widerstand der PalästinenserInnen.
Hansruedi Guyer: Man kann von einem geschlossenen Widerstand der gesamten Bevölkerung gegen die Besatzung sprechen. In Jenin zirkuliert die Geschichte, dass ein Fünfzehnjähriger ein Maschinengewehr von einem gepanzerten Fahrzeug herunter holte. Damit wurde er zum Helden und zu einem sehr fraglichen Vorbild der Jugendlichen. Während meines Aufenthalts wurden zwei Jugendliche in Jenin beim Versuch, Panzer zu ersteigen, erschossen.
Daneben gibt es auch den organisierten Widerstand. AktivistInnen, die als Heckenschützen SiedlerInnen oder die israelische Armee angreifen. Eine Form von organisiertem Guerillakampf im Lande selbst. Das hat nichts mit Terrorismus zu tun. Jedes besetzte Volk darf sich nach internationalem Recht wehren. Als Terrorismus bezeichne ich Selbstmordanschläge auf israelischem Gebiet, bei denen Menschen getötet und die Bevölkerung terrorisiert wird.
Haben Sie festgestellt, dass PalästinenserInnen diese Selbstmordanschläge unterstützen?
Hansruedi Guyer: Ein arbeitsloser Schneider sagte: "Wenn wir Panzer und Maschinengewehre hätten, müssten wir auch keine Selbstmordanschläge machen." Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt die Attentate ab, weil sie erkennt, dass diese kontraproduktiv sind. StudentInnen der Uni von Zababdeh sagten mir allerdings, dass es für sie schwierig sei, die Attentate öffentlich zu verurteilen.
Viele Jugendliche haben eine Wut oder Hass, weil zum Beispiel ihr Bruder von der israelischen Armee umgebracht wurde oder ein Freund im Gefängnis sitzt.
Ihre Wut hat Gründe. Wer aber gewinnt bei diesem Konflikt und wer leidet?
Hansruedi Guyer: Ariel Sharon gewinnt und die Führer von Hamas und Jihad. Das sind auch Politiker, die ihre Macht ausüben wollen. Sie bekommen mehr Zulauf, wenn Sharon wieder eine Ausgangssperre verhängt und durch die militärischen Angriffe Frauen und Kinder umkommen. Umgekehrt gewinnt Sharon mit jedem Selbstmordanschlag an Rückhalt. Ich traue Sharon keinen Friedenswillen zu. Es besteht ein riesiges Gefälle zwischen dem, was er fordert, und dem, was er anbietet.
Was hat sich bei Ihnen persönlich durch diesen Friedenseinsatz verändert?
Hansruedi Guyer: Ich bin mit der Idee des Brückenbauers hingereist, wollte etwas zum Frieden beitragen. Ich dachte, die PalästinenserInnen brauchen uns als Helfer, doch sie wollen uns als Menschen, die Anteil nehmen. Am Abend setzte ich mich im Kaffeehaus des Dorfes zu den Männern und hörte ihnen zu. Sie erzählten die Geschichte des Eseltreibers in Nablus, der erschossen wurde, oder dass ihre Frau als Jordanierin nicht reisen kann, weil sie kein Visum bekommt. Indem ich zuhörte, haben sie erfahren, dass sie nicht allein sind. Sie haben immer wieder die Geschichte von Rachel Corrie erzählt, einer amerikanischen Friedensaktivistin, die sich vor einen israelischen Bulldozer stellte und von ihm überrollt wurde. Für die PalästinenserInnen war es wichtig, dass sich eine Amerikanerin auf ihre Seite gestellt hatte und dabei ihr Leben verlor. Ich verstehe den Hass und die Verzweiflung der PalästinenserInnen, weil sie keinen Ausweg mehr sehen. Zuhören schafft Luft.
Hat das Hoffnungen geweckt?
Hansruedi Guyer: Das schon. Oft hatte ich allerdings das Gefühl, sie würden unsere Möglichkeiten überschätzen. Wir sagten, dass wir uns zu Hause einsetzen wollten, damit Druck ausgeübt werde auf Israel. Wie können wir dies tun? Peace Watch organisierte ein Interview mit Radio DRS, eines mit dem Tages-Anzeiger. So wird ein wenig Öffentlichkeit geschaffen. Aber deswegen fährt weder Micheline Calmy-Rey nach Israel, um Sharon auf die Finger zu klopfen, noch entschuldigt sich dieser.
Welche Hoffnung bleibt Ihnen?
Die feste Überzeugung, dass es für PalästinenserInnen wichtig ist, Solidarität von aussen zu erfahren. Ohne diese wächst ihre Verzweiflung und führt zu Kurzschlussreaktionen. Es lohnt sich dranzubleiben. Ich hoffe, dass sich auch andere für einen Einsatz als MenschenrechtsbeobachterIn melden. Zudem wünschte ich mir, dass Europa zu einer gemeinsamen Aussenpolitik findet und Druck ausübt. Dann müsste Israel Konsequenzen ziehen.
Peace Watch Palästina/Israel ist die schweizerische Beteiligung am ökumenischen Begleitprogramm PaIästina/Israel. Das Projekt ist ein Beitrag im Rahmen der Dekade zur Überwindung der Gewalt, die der Ökumenische Rat der Kirchen 2001 ausgerufen hat. Unter dem Patronat des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes haben sich verschiedene Organisationen wie der cfd, das HEKS, mission 21 und HorYzon für das Projekt zusammengeschlossen. Die operationelle Durchführung hat Peace Watch Switzerland übernommen. Seit März 2003 können sich Freiwillige aus der Schweiz für einen dreimonatigen Einsatz als MenschenrechtsbeobachterInnen im Konfliktgebiet melden.
Die nächsten Informationstreffen finden statt: 13. September 2003, 13-18 Uhr, Volkshaus, Zürich. 20. September 2003, 13-18 Uhr, Akademikerhaus (AKI), Alpeneggstrasse 5, Bern. Training für den Einsatz in Palästina/Israel: 10.-12. Oktober 2003 und 25./26. Oktober 2003. Weitere Auskunft:: Projekt Peace Watch Palästina/Israel, Quellenstrasse 31, 8005 Zürich, Tel. 01 272 27 88, E-Mail: palestine@peacewatch.ch . Internet: www.peacewatch.ch
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