Die mit aller Kraft vorangetriebenen Kriegspläne gegen den Irak begründet die US-Regierung mit dem Kampf des Guten gegen das Böse. Die gleiche Argumentation dient Russland für die Legitimierung der Kriegsführung in Tschetschenien. Auch die israelische Regierung begründet die Fortsetzung ihrer Kriegsführung in den palästinensischen Gebieten mit der gleichen Logik. Ein ebenso striktes Gut-Böse-Schema finden wir, wenn wir das Augenmerk auf palästinensische Selbstmordattentäter und ihre Organisationen oder auf Osama Bin Laden und Al-Kaida richten. Die schlimmsten Übeltaten in der Menschheitsgeschichte wurden und werden im Namen der Moral verübt.
So ist es auch mit Sicherheit und Frieden. So lange die israelische Regierung dies nur für Israel und die israelische Bevölkerung erreichen will, so lange wird sie es mit Sicherheit nicht erreichen. Der Versuch von NATO und Warschauer Pakt, Sicherheit nur für ihre jeweiligen Bündnispartner zu erreichen, hat zum irrwitzigsten Rüstungswettlauf in der Geschichte geführt, der die Menschheit während des Kalten Krieges an den Rand der (mehrfachen) Selbstzerstörung brachte. Dort balanciert sie noch immer - trotz des Zusammenbruchs des "Ostblocks" und des Verschwindens des Warschauer Pakts. Denn diese Wende wurde nicht als die Chance genutzt, das Erbe des "Kalten Krieges" gemeinsam zu bewältigen und vollständig oder zumindest ganz massiv abzurüsten.
Erstaunlicherweise halten jetzt aber alle Regierungen, die einen Krieg gegen den Irak vermeiden wollen, das Prinzip der "kollektiven Sicherheit" hoch (auch wenn sie sich für ihre eigene Sicherheitspolitik lieber auf ein Militärbündnis abstützen) und verlangen die Einhaltung der diesbezüglich in der UNO-Charta festgelegten Vorgehensweisen. Und mit der Resolution 1441 des UNO-Sicherheitsrates vom 8. November 2002 war ihnen auch ein vorläufiger Erfolg beschieden, wurde zumindest der Beginn des Krieges hinaus geschoben (und könnte im allerbesten Fall ein Krieg dank Abrüstung des Irak vermieden werden). Die Kraft, welche sich aus der Berufung auf die Regeln der kollektiven Sicherheit entwickelte, ist so bedeutsam, dass sie die US-Regierung gezwungen hat, ihre Vorgehensweise zu ändern (auch wenn sie nicht zur Änderung ihrer Ziele gebracht wurde).
Pazifismus geht nicht davon aus, dass sich Friede automatisch aus einem bestimmten Gesellschaftsmodell ergibt. Er unterscheidet sich damit von den klassischen "Fortschrittsideologien" - dem Liberalismus und dem Sozialismus -, die für sich in Anspruch genommen haben, mit der Durchsetzung ihres Modells sei auch der Frieden erreicht.
Pazifismus hält Frieden für einen exklusiven Kreis gegen andere für unmöglich und steht damit im Gegensatz zum traditionellen Abschreckungsdenken und dem Militarismus, die etwas vereinfacht gesagt im altbekannten römischen "Si vis pacem, para bellum"1 verhaftet sind.
Pazifismus geht auch nicht davon aus, dass Frieden kein Menschenwerk sein könne, sondern nur eine göttliche Macht der Menschheit Frieden zu bringen vermöge, wie es einige Religionen oder religiöse Strömungen erwarten. Pazifismus ist aber nicht an sich antireligiös oder atheistisch, sondern diesbezüglich offen und pluralistisch.
Pazifismus hält Frieden für möglich, wenn auch nicht ein für allemal zu erreichen. Er muss deshalb immer wieder bewusst angestrebt und erarbeitet werden. Den Sieg, wie er mit Krieg angestrebt wird, gibt es für den Frieden nicht.
Die Idee der kollektiven Sicherheit trägt all dem Rechnung. Sie ist nicht ausschliessend (exklusiv), wie ein Militärbündnis, sondern kann nur funktionieren, wenn sie alle einschliesst (inklusiv ist). Sie ist damit nicht ein Zusammenschluss der "Guten". Ihre Basis ist nicht die Moral, welche die Guten von den Bösen scheidet, sondern das Recht, welches für Gute und Böse gleichermassen zu gelten hat. Auf internationaler Ebene soll Völkerrecht an die Stelle von unkontrollierten Machtverhältnissen treten. Das bedingt nicht die Bildung eines umfassenden Weltstaates und die Aufhebung der bisherigen Staaten. Aber die absolute Souveränität der Staaten muss auf zwei Ebenen beschnitten werden. Zum einen bedingt es das völkerrechtliche Verbot des Krieges (als Mittel der Aussenpolitik),und zum andern die Anerkennung der Menschenrechte, im eigenen Land wie weltweit, deren Einhaltung international zu kontrollieren ist.
Von selbst ergibt sich kollektive Sicherheit so wenig wie Frieden. An erster Stelle steht das Problem der Rechtsetzung. Weder Völkerrecht noch Menschenrechte sind gottgegeben. Abkommen und Verträge werden in konkreten Zeitumständen von InteressenvertreterInnen ausgehandelt, sind also nicht einfach gut oder gerecht, sondern bleiben entwicklungs- und verbesserungsbedürftig und -fähig.
Aber wie können Grossmächte dazu gebracht werden, sich auf kollektive Sicherheit zu verpflichten? Zwei Mal musste im vergangenen Jahrhundert nach einem Weltkrieg eine neue Weltordnung aufgebaut werden. Beide Male war der Schrecken über das Grauen des Krieges2 so gross, dass als Grundlage der Neuordnung nur ein System der kollektiven Sicherheit in Frage kam (Völkerbund bzw. UNO). In der Konkretisierung wurden zwar massive Abstriche an den Grundsätzen gemacht. Aber seit mehr als fünf Jahrzehnten hat sich die UNO - trotz etlicher "Geburtsfehler" - als Weltorganisation bewährt. Sie hat wesentlich dazu beigetragen, dass mit zwei der grössten Umwälzungen relativ friedlich umgegangen werden konnte, mit der Entkolonialisierung und mit dem Zusammenbruch des Ostblocks.
Die schweizerische Neutralität, die nach dem 2. Weltkrieg dazu gedient hat, sich politisch von der Welt abzuschotten und keine Verantwortung zu übernehmen, hat schon seit einiger Zeit ihre Berechtigung verloren.3 Aber sie hat immerhin einen NATO-Beitritt der Schweiz verhindert. Wenn sie weiterhin eine Politik unabhängig von Militärbündnissen verfolgen will, so eröffnet einzig die kollektive Sicherheit eine zukunftsträchtige Perspektive. Mit dem Aufbau einer Ländergruppe für die Verwirklichung der kollektiven Sicherheit im Rahmen der UNO könnte die Schweiz weltweit mit allen Ländern und Bewegungen zusammenarbeiten, die sich auch nicht der Dominanz des militärischen Denkens unterordnen wollen - wie sie derzeit vor allem von den USA und der NATO zum Ausdruck kommt.
Nicht nur die Auseinandersetzungen um den Irak haben in aller Deutlichkeit aufgezeigt, wie verbesserungsbedürftig das UNO-System der kollektiven Sicherheit ist. Die Krise der UNO-Friedensmissionen hat ebenfalls Veränderungsbedarf aufgezeigt.4 Hier sollte die Schweizer Aussenpolitik ein Schwergewicht setzen. Wird Bundesrätin Calmy-Rey als Vorkämpferin für die Verwirklichung der kollektiven Sicherheit in die Geschichte eingehen?
Ruedi Tobler ist Präsident des Schweizerischen Friedensrates. Zum Thema Pazifismus erschien von ihm in der FriZ 3/99 "Kein Versagen der PazifistInnen".
1 Etwa: Wer den Frieden will, muss den Krieg vorbereiten.
2 Nach dem 2. Weltkrieg kam das Entsetzen über die Vernichtung von "rassisch minderwertigen" Bevölkerungsgruppen durch den Nationalsozialismus hinzu.
3 Siehe dazu: Abschied vom Inseldasein. Vom Ende der isolationistischen Neutralität zur kollektiven Sicherheit der Weltgemeinschaft. Friedenspolitische Perspektiven zum UNO-Beitritt, Schw. Friedensrat, 52 Seiten, Dezember 2000
4 Siehe insbesondere den "Bericht der Sachverständigengruppe für die Friedensmissionen der Vereinten Nationen" (Brahimi-Bericht), August 2000
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