FriZ 1/2003

Nach des Regeln des Völkerrechts sind militärische Aktionen gegen den Irak im jetzigen Verfahrensstadium unzulässig. Das Recht zur Entscheidung über die legitime Anwendung von Gewalt liegt beim Sicherheitsrat. Diese Meinung basiert auf drei Kriterien aus dem Völkerrecht. Von Daniel Thürer

Völkerrecht: Bewährungsprobe Irak

"Eine militärische Intervention der USA im Irak ohne klare Ermächtigung durch den Sicherheitsrat hätte für die Uno ähnliche Konsequenzen wie der Krieg Italiens 1935/36 gegen Abessinien für den Völkerbund: den tragischen, totalen Zusammenbruch eines ambitiösen Systems einer rechtlichen Weltordnung." Das sagte kürzlich ein hoher internationaler Funktionär bei einem informellen Gespräch in Genf. Ich halte diese apokalyptische Sichtweise für Überrissen. Das Völkerrecht ist eine naturgemäss offene, politiknahe und flexible Ordnung, die sich in Evolution befindet, "unterwegs" zu langfristig neuen Formen der Gestaltung internationaler Beziehungen.

Gewalt eindämmen

Die Regeln über das Recht der Gewaltanwendung bilden ein Grundelement, ja eine der grossen zivilisatorischen Errungenschaften des modernen Völkerrechts. Sie basieren auf der Auffassung, dass das Recht in Fragen der Gewaltanwendung nicht indifferent sei darf. Das klassische Völkerrecht kannte das "freie Recht zum Krieg" als Attribut der staatlichen Souveränität. Friedrich der Grosse soll am Vorabend des Siebenjährigen Kriegs seinem Kanzler den Auftrag erteilt haben, eine Rechtfertigung der Kriegserklärung zu verfassen. "Aber beeile er sich", soll er kommentiert haben, "denn die Ordres sind schon heraus." Das heutige Völkerrecht enthält demgegenüber umfassende Prinzipien zur Eindämmung von Gewalt und verlangt Rechtfertigung und Kontrolle. Es ist die Antwort auf die Schrecken des Zweiten Weltkrieges. Es entstand aus der Entschlossenheit der Völker, "künftige Geschlechter vor der Geissel des Krieges zu bewahren" (Präambel der UN-Charta).

Das Regelungssystem basiert auf dem Verbot, in den internationalen Beziehungen Gewalt anzudrohen oder anzuwenden. Nach dem Text der UN-Charta gibt es jedoch zwei Ausnahmen: das alte Recht der Staaten zur Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff und das Recht des Sicherheitsrates, in Fällen einer Aggression, eines Bruchs des Friedens oder einer Bedrohung der internationalen Sicherheit Zwangsmassnahmen durchzuführen oder zumindest zu autorisieren.

Drei Kriterien des Völkerrechts

Die Rechtslage im Fall Irak scheint insofern klar, als das Recht zur Entscheidung über die legitime Gewaltanwendung nun allein beim Sicherheitsrat liegt. In Frage stehen die in der UN-Charta verankerten Regeln der kollektiven Sicherheit. Massgebliche Beurteilungsgrundlage ist Resolution 1441 des Sicherheitsrats vom 8. November 2002. Danach ist der Irak gehalten, Massenvernichtungswaffen zu eliminieren und den Inspektoren ungehinderten Zutritt zu gewähren. Für den Fall einer wesentlichen Missachtung der Bestimmungen ("material breach") sieht die Resolution vor, dass schwerwiegende Konsequenzen ("serious consequences") gezogen werden dürfen. Es fragt sich, ob die kunstvoll formulierte Resolution 1441 bereits eine Ermächtigung der Staaten zur Gewaltanwendung in sich schliesst oder ob dazu weitere Beschlüsse erforderlich sind. Die Resolution deutet ihrem Wortlaut gemäss darauf hin, dass Kriegshandlungen während des Verfahrens der friedlichen Streitbeilegung verboten sind. Betrachten wir die "Philosophie", die hinter dem Buchstaben steht, so scheinen mir drei Kriterien relevant zu sein.

1. Die Idee des "Rule of Law". "Rule of Law" bedeutet, dass die Macht ins Recht gestellt ist. Niemand, und auch kein Machthaber, steht über dem Recht oder ausserhalb des Rechts. Diese Anforderung ist im allgemeinen Völkerrecht naturgemäss viel elastischer zu verstehen als in anderen Regelungsdomänen wie etwa dem Strafrecht. Im vorliegenden Fall ist die Kernfrage - die Frage der Voraussetzungen legitimer Gewaltanwendung - im Text der Resolution absichtlich mehrdeutig, unklar beantwortet. Die Mitglieder des Sicherheitsrates sind nicht gleicher Meinung. Die Vereinigten Staaten argumentieren, eine Ermächtigung zur Anwendung von Gewalt sei in Resolution 1441 bereits mit enthalten. Laut Stellungnahmen, die Frankreich und andere Staaten abgegeben haben, ist aber eine zweite Resolution des Sicherheitsrates notwendig. Damit das System der kollektiven Sicherheit glaubwürdig umgesetzt werden kann, müsste klar ausgesprochen werden, wer für die Anwendung von Gewalt ermächtigt ist. Es geht hier um die Relevanz der rechtlichen Ordnung.

2. Adäquanz der Mittel. Gewalt darf nach Sinn und Wortlaut der Satzung als Mittel der Konfliktbewältigung erst angewendet werden, wenn alle friedlichen Mittel zur Sicherung des Friedens ausgeschöpft sind. Der Einsatz militärischer Mittel ist "ultima ratio". Dabei sind die Fragen des "Ob"?, "Wann"?, "Wie"? und des "Was nachher"? zumindest umrisshaft anzusprechen, sollen die in der Satzung vorgesehenen Mechanismen nicht unterhöhlt werden oder leer laufen. Es sind Alternativen auszudenken und einzubeziehen. Dabei gehört es zur spezifischen Kultur des Rechts, den "soft values" den Vorrang zu geben vor dem Einsatz militärischer Gewalt.

3. Güterabwägung. Neben der Proportionalität von Zweck und Mitteln ist abzuwägen zwischen dem legitimen Interesse, das in der Resolutionspraxis des Sicherheitsrates aufgebaute Abrüstungsregime durchzusetzen, und den unmittelbaren, mittelbaren und langfristigen Folgen der militärischen Gewaltanwendung. Wir wissen: Gewalt erzeugt Gegengewalt. Sie kann einen schrecklichen Zyklus der Eskalation auslösen. Die für Entscheide Verantwortlichen müssen sich die Folgeszenarien, vor allem für die Zivilbevölkerung, vor Augen halten. Auch sollen sie die Risiken eines Flächenbrandes einbeziehen, der im Falle der Entfesselung der Gewalt ausbrechen und etwa Israel erfassen könnte. Mittelfristig sind Fragen des Wiederaufbaus einer politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung nach einem Krieg zu bedenken. Die Verhältnisse im Irak sind viel komplexer und schwieriger als in Kosovo oder in Afghanistan. Die Aufgaben des Aufbaus einer neuen rechtsstaatlichen und politischen Ordnung nach dem Krieg könnten nicht durch die USA allein bewältigt werden. Schliesslich gebietet die Klugheit, sich klare Vorstellungen über die langfristige "Resonanz" von Militärschlägen in der öffentlichen Meinung, den Mentalitäten und den Kulturen der arabischen und umliegenden Welt zu machen und sie bei der Güterabwägung hoch zu veranschlagen.

Konsens auf dem Verhandlungsweg

Auf die Frage der Zulässigkeit militärischer Gewaltanwendung wird man von verschiedenen VölkerrechtlerInnen angesichts der Unsicherheit der Rechtsgrundlagen verschiedene plausible Antworten erhalten. Ich bin der Auffassung, dass militärische Aktionen im jetzigen Verfahrensstadium unzulässig sind. Dennoch dürfen wir aber nicht aus den Augen verlieren, dass die Frage der Kontrolle und Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen ein Kernanliegen der internationalen Sicherheit darstellt. Der Sicherheitsrat hat zum ersten Mal in der Geschichte, wenn auch nur auf den Irak beschränkt, ein vielversprechendes supranationales Abrüstungsregime errichtet. Es ist nun geboten, die verbindlichen Vorschriften umzusetzen und einen glaubwürdigen Präzedenzfall für andere Staaten, beispielsweise Nordkorea, zu schaffen. Ohne effektive Androhung von Gewalt durch die USA wäre der Sicherheitsrat nicht in Aktion getreten. Beim Ganzen geht es nicht um die Mechanik von Inspektionen, Verifizierungen und Monitoring als solche, sondern um zutiefst politische Grundfragen der internationalen Gemeinschaft. Das System der kollektiven Sicherheit verlangt die Suche nach Konsens auf dem Verhandlungsweg. Die Politik des "go-it-alone-my-own-way" der Supermacht verträgt sich schlecht mit dem Geist des Völkerrechts.

Daniel Thürer lehrt Völkerrecht, Europarecht, Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Zürich. Sein Artikel erschien in der NZZ vom 8.2.03 und ist leicht gekürzt.


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